Vortrag und Diskussion
Donnerstag, 20. November 2003
19:00 Uhr,Max & Moritz, Oranienstraße 162, Berlin
Mit Clemens Nachtmannanläßlich des Erscheinens des Buches von Willy Huhn, Der Etatismus der Sozialdemokratie
Verhieß schon der Bundestagswahlkampf 1998, worin die SPD den „Reformstau“ der Ära Kohl zu beseitigen versprach, nichts anderes als einen Triumph der Trostlosigkeit, so machte spätestens das Verhalten der Sozialdemokratie und der linksliberalen Öffentlichkeit in der angedrehten Hysterie um die CDU-Spendenkonten sowie in Berlin angesichts der absolut lächerlichen Landowsky-Affäre klar, daß sie angesichts schrumpfender Verteilungsspielräume das auf exemplarische Abstrafung und Ächtung von „korrupten Bonzen“, von der Justiz angeblich gehätschelten Kinderschändern, subventionsverwöhnten Bauern und anderen Feindobjekten drängende faschistische Ressentiment als nunmehr „kampagnenfähige“ (Müntefering) Partei zu bedienen und zu moderieren gewillt ist. Eine Betrachtung der Sozialfaschismusthese ist vor diesem Hintergrund keine bloß philologische oder historisierende Übung, sondern von unmittelbar aktuellem Interesse.
Diese Sozialfaschismusthese ist unter Linken bestimmt die übelst beleumundete argumentative Figur der KPD und darüberhinaus der gesamten alten Arbeiterbewegung – und zwar nicht einmal zu Unrecht, wenngleich aus den ganz und gar falschen Gründen. Sie gilt als Inbegriff von Verblendung und Sektierertum, während ihr doch in Wahrheit der genau entgegengesetzte Vorwurf zu machen wäre: daß sie einer Volks- und Massenfreundlichkeit entsprang, die den Gehalt der These immer schon desavouierte und daß das, was material den „Sozialfaschismus“ der SPD hätte begründen können, nicht konsequent durchdacht und ausformuliert wird. Denn hätte die KPD dies getan, ihre beiläufig gewonnenen Einsichten ernst genommen, dann wäre sie auf die grundsätzliche Identität ihrer Vorstellungen vom proletarischen Zukunftsstaat mit der Programmatik der Sozialdemokratie gestoßen und hätte sich demnach mit Fug und Recht selber unter die „Sozialfaschisten“ einreihen können.
Tatsächlich zu begründen, warum die Sozialdemokratie eine national-sozialistische Organisation war und darüberhinaus auch die letztgenannte Konsequenz nicht zu scheuen – dazu bedurfte es keiner Genialität und keiner überdurchschnittlichen Intelligenz, sondern der Fähigkeit, vom geschichtsmetaphysischen Hokusposkus der alten Arbeiterbewegung die Fähigkeit zu ungegängelter Erfahrung sich nicht abmarkten zu lassen. Es war ein nach eigener Einschätzung zum Eigenbrötlertum neigender marxistischer Autodidakt, der als gerade mal 30-jähriger eine Sozialfaschismusthese ganz eigener Art formulierte, die hinsichtlich Bewußtsein und Agieren der gesamten Arbeiterbewegung keinen Stein mehr auf dem anderen ließ und bei deren Lektüre biederen Sozialdemokraten, kreuzbraven Parteikommunisten und anderen Linken noch heute die Luft wegbleiben dürfte.Wie Willy Huhn nachweist, war die Sozialdemokratie vielleicht anfangs eine halb freiwillige, halb unfreiwillige Geburtshelferin des totalen, schließlich nationalsozialistischen Staates. Als sie aber spätestens 1914 ihr staatssozialistisches Wesen praktisch bezeugte und sich programmatisch nun auch unumwunden zu ihm bekannte, da hatte sie sich dafür entschieden, die Rekonsolidierung der kapitalistischen Wertvergesellschaftung aktiv und bewußt mitzutragen. Als solche Trägerin einer gesellschaftlichen Konstellation, in der, wie Huhn einen sozialdemokratischen Evergreen ironisiert, zwar nicht das „allmähliche Hineinwachsen in den Sozialismus“, wohl aber das Hineinwachsen in den Nationalsozialismus auf der Tagesordnung stand, mußte die Sozialdemokratie zwangsläufig zu einer Protagonistin der allgemeinen Faschisierung avancieren.
Für Huhn stand daher fest: „Wenn der Bolschewismus der Sozialdemokratie ,Sozial-Faschismus‘ zum Vorwurf gemacht hat, so hat er also (...) gar nicht einmal so sehr Unrecht, leider trifft ihn aber diese Kennzeichnung auch wieder selbst!“
Daß also der Faschismus stark wird nicht aus eigener Kraft, sondern durch seine vermeintlichen Opponenten, die ihm die Konzepte vorformulieren, noch bevor es ihn eigentlich gibt: das ist eine auch aktuell immer wieder bestätigte zentrale Einsicht Willy Huhns. Wenn aber die „proletarischen Klassenziele“ erst einmal in den „nationalrevolutionären Zielen“ aufgegangen sind, dann sind sie unrettbar verdorben, dann werfen sie keinerlei revolutionären Mehrwert mehr ab, dann wird der Klassenkampf virtuell mit dem Pogrom identisch.
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