Göttingen, Montag, den 27. Februar
19:30 Uhr, im APEX, Burgstraße 46
Arabischer Frühling, deutsche Gefühle
Über die Rezeption des Aufstands in der deutschen Öffentlichkeit
Vortrag mit Justus Wertmüller
Als Hosni Mubarak vor einem Jahr das Handtuch warf, kannte die Begeisterung über den „arabischen Frühling“ in Deutschland keine Grenzen mehr: Medien, Wissenschaft und Politik jubelten unisono, man wohne einem Epochenbruch bei; eine Revolution habe begonnen, an deren Ende „das Volk“ überall die Despoten stürzen und die arabische Welt in Freiheit und Selbstbestimmung führen würde. Was damals schon fadenscheinig klang, klingt heute absurd: In Syrien herrscht Bürgerkrieg, in Tunesien und Libyen setzen sich Islamisten durch, und in Ägypten bereiten die Salafisten die Herrschaft der Scharia vor: Das Programm der Revolution heißt islamische Säuberung und Kampfansage an die „westliche Dekadenz“ - also an die Rechte des Einzelnen, die Emanzipation von Frauen und Schwulen und die Freiheit des Glaubens.
Erklärungsbedürftig ist weniger diese Entwicklung, die man angesichts des Zustands der arabischen Gesellschaften bereits im vergangenen Jahr vorausahnen konnte. Zu klären ist vielmehr, warum sich die Deutschen diesem Aufstand nach wie vor und allen Fakten zum Trotz so verbunden fühlen; warum sie also dort, wo Gewalt und Barbarei sich ausbreiten, nichts als zivilisatorischen Fortschritt wahrnehmen wollen. Zu Beginn der Unruhen mag das noch durch die naive Hoffnung entschuldbar gewesen sein, der Aufstand gegen die konkreten Unterdrücker werde sich auch gegen Unterdrückung per se wenden.
Heute noch an dieser Hoffnung festzuhalten, verlangt jedoch mehr als Naivität, nämlich bewusste Realitätsverweigerung. Und so gibt man sich alle Mühe, von Gaddafis Todesumständen nicht zu viel zu erfahren, die Opfer in Syrien allein der Armee zuzurechnen und Sympathiebekundungen seitens al-Qaida geflissentlich zu ignorieren. Doch vielleicht erscheint den Deutschen eine Auflösung in Bürgerkrieg und Ausnahmezustand ja insgeheim sogar viel faszinierender als ein glatter Übergang zur Langeweile des bürgerlichen Alltagslebens. Schließlich haben sie einst als „Meister der Krise“ (Gerhard Scheit) an die reinigende Kraft des Massakers zu glauben gelernt – und das meint in der Fassung von Franz-Joseph Strauß: „Die Demokratie muss ab und zu im Blut gebadet werden.“
[a:ka]
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