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Die Revolte der Enthemmten

Einladung zur Konferenz der Redaktion Bahamas am 25. und 26. Mai 2012 in Berlin

 

Als die Rückkehr des Politischen bejubelte die Gruppe TOP, ein Spaltprodukt der Berliner Antifa, kürzlich alle öffentlichen Proteste der letzten beiden Jahre – allen voran die gegen den Bau eines neuen Hauptbahnhofs in Stuttgart. Mit den gar nicht mehr so jungen Jugendbewegten ist sich die gesamte öffentliche Meinung darin einig, dass im Aufbegehren von Atomkraft- und Bahnhofsgegnern ein Zeichen zu erkennen sei, dass demnächst die als zynisch und habgierig apostrophierte Welt der Banken, Hedgefonds und Börsenanleger mit Widerstand und perspektivisch sogar ihrer Abschaffung, mindestens aber staatlicher Kontrolle zu rechnen hätte. Wenn Stuttgarter Wutbürger als Vorbild nicht reichen, droht man den scheinbar Allmächtigen hierzulande mit der Wiederkehr der blutigen Ereignisse im Maghreb und im Nahen Osten auf Deutschlands Plätzen.

Über die Sphäre der Politik, also die Verhandlungen über Belange der Allgemeinheit, lässt sich sinnvoll nur eine Aussage treffen, wenn man auch vom ihr scheinbar Entgegengesetzten weiß, dem Privaten, der Welt des Eigeninteresses. Als privat gelten Liebe, Freundschaft und Familie genauso wie das persönliche Fortkommen, also das ökonomische Bestehen oder Scheitern auf dem Markt, gleich ob als Unternehmer oder Lohnabhängiger. Obwohl der Markt beide Sphären zusammenzwingt und den Unterschied zwischen öffentlich und privat scheinbar längst aufgehoben hat, ist auf ihrer Trennung zu bestehen, und das nicht, weil einem Idealbild des längst verschwundenen Bürgers nachgetrauert werden sollte. An dem privaten Interesse als Voraussetzung jeder politischen Bestrebung muss festhalten, wer über die Voraussetzung von Kritik und damit auch des Kommunismus verhandeln will.

Politisierung des Betriebs

Nichts Privates haftet dem modernen Betriebsalltag mehr an, dafür ist ausgerechnet dort die Heimstatt des zurückgekehrten Politischen. Misstrauisch als Eigenbrödler beäugt werden die Wenigen, die noch darauf bestehen, nur nach ihrer Leistung bemessen zu werden. Dass man sich ganz verkaufen soll und nicht nur seine technischen, kaufmännischen oder juristischen Fähigkeiten, ist nicht neu. Dass aber eine ganze Generation damit beschäftigt ist, sich in soft skills zu schulen und eine Gemeinschaft der sozial Kompetenten gerade dort zu bilden, wo die Konkurrenz auch weiterhin das bestimmende Prinzip ist, lässt schaudern. Der höflich kooperative Ton, der die Zusammenarbeit unter Bedingungen, die man sich nicht ausgesucht hat, erleichtert, reicht nicht nur nicht mehr. Die darin liegende Distanz zum Kollegen, der kein Kumpel ist, und zur Arbeit, über deren tieferen Sinn man sich keine Illusion macht, ist schon Indiz für die zutiefst private Regung, sich nicht ganz preisgeben zu wollen und zugleich andere nicht unnötig mit den eigenen Stimmungen und Haltungen zu belästigen. Die Distanz zum Betriebsalltag, das Bestehen auf dem Leben draußen, das nur die angeht, mit denen man vertraut ist, weil man vertraut sein will; Diese Bekräftigung der Lohnarbeit als privater Angelegenheit soll eliminiert werden. Wo der Gesinnungsstaat mit seinen Organen der Ausforschung sich zurückgezogen hat, weil kein aktueller Bedarf nach der Dingfestmachung von Agenten der Unzufriedenheit besteht, übernimmt eine Gemeinschaft der Betriebsangehörigen das Geschäft der Kontrolle. Das Politische hat längst Einzug gehalten in eine Welt, von der man einst glaubte, dass das private Interesse in Form organisierter Vertretung einzige kollektive Äußerung der Einzelnen sei. Kein Arbeitsplatz, der nicht in ein Team eingebunden wäre, kein Team, das nicht nach Aussprachen und entsprechendem Zelebrieren durch den Coach oder Supervisor verlangte. Der Arbeitsalltag wird von Teamtagen und Seminarwochenenden auf einsamen Hütten mit Handyverbot durchstrukturiert. Aufs pflichtschuldige Sich-Einbringen ist jeder festgelegt, ohne dass eine Arbeitsanweisung bestünde. Die Konkurrenz scheint genauso aufgehoben wie das kollektive Beharren auf Mehrleistung gegen die Eigentümer. Gefragt sind Eigenschaften, die landläufig als genuin weiblich angepriesen werden, also jene Mischung aus Kommunikationskompetenz, Mitmenschlichkeit und eben Teamfähigkeit. Man liest in der Süddeutschen oder wochenends-FAZ in der Rubrik „Beruf und Chance“, was gefordert ist, und trainiert mit sich selber. Das richtige Mischungsverhältnis aus scheinbar persönlichen Interessen, verantwortungsvoller Zweierbeziehung und zunehmend sozialem Engagement, über das jedes Bewerbungsschreiben Auskunft gibt, wird beständig neu austariert, ohne dass der Coach es noch eigens zu empfehlen hätte. Man kann einfach alles: dem anderen zuhören, überhaupt ungeteilte Aufmerksamkeit spenden, endlich einmal wirklich solidarische Kritik äußern, die nie verletzt, und in immerwährender Kommunikationsbereitschaft darüber wachen, dass personelle Fehlentwicklungen früh erkannt und rasch korrigiert werden. Im Rahmen der geforderten und bereitwillig mitvollzogenen Zwangsharmonisierung wird voller Häme und gegenseitiger Verachtung ein Kampf aller gegen alle geführt, der die Intensivierung des Ressentiments gerade im scheinbar öffentlichen Absondern von Meinung zur Folge hat.

Der Kriegsschauplatz Betrieb, der seit dem Einzug der soft skills ein unübersehbarer Tummelplatz für Intriganten ist, in dem man sich konformistisch ausbootet und gemeinschaftlich zusammenhält, hat das Politische auf bislang unbekanntes Niveau gehoben. Der Betrieb ist Vorschein einer noch zu verwirklichenden idealen Welt, in der Ausschüsse und Ombudsleute, Bürgerbeteiligungsagenturen und Nachbarschaftskomitees dafür sorgen sollen, dass die Abhänge, zwischen denen Stuttgart liegt, nicht durchbohrt und Organspendepflicht, Sterbebegleitung und Rauchverbot durchgesetzt werden. Alle Rituale der jüngsten Proteste, kulminierend in der 99%-Bewegung, stammen aus dem Büro: Ein immerwährender Stuhlkreis Regredierter korrespondiert mit Handzeichen und kollektiven Litaneien, stets vom Vorsatz geleitet, in der Selbstinszenierung als Protestierende die Erinnerung ans je eigene Interesse auszuschalten. Wer auf solchen Meetings zu heftig seinen Standpunkt vertritt, also dem Mainstream widerspricht, wird ritualisiert zum Schweigen gebracht. Das gemeinsame Ziel scheint organisch bestimmt, es anzurufen genügt eine Formel.

Nicht der klandestinen Kadergruppe, sondern dem Büro, dessen vorgelagerter Ort schon lange das Universitätsseminar ist, entstammen die Propheten des Untergangs, die am zeitgenössischen Grauen Maß nehmen und in Worten und Pamphleten verkünden, was einem mittleren Kader der exportorientierten Industrie im Ingenieursrang noch nicht ganz gelingen will: die Zusammenführung eines fast ganz dem Zufall überlassenen Verdrängungskampfes um die besten Plätze im Betrieb mit dem scheinbar höheren, dem Egoismus endgültig überlegenen Prinzip der Gemeinschaft. In den Visionen des Unsichtbaren Komitees von den ewigen Raubkriegen der Bandengesellschaften der Zukunft, des Literaturnobelpreisträgers Le Clézio von einer Gesellschaft, die sich aus freien Stücken entschlossen hat, auf die Sprache zu verzichten, oder Dietmar Daths verwandten Apokalypsen kommt immer das Gleiche zum Ausdruck: Über den Fluch der Zivilisation obsiegt der kulturindustriell zurecht gemachte Mythos und mit dem Mythos alles, was man mit seinen Kenntnissen aus Herr der Ringe, den Matrix-Filmen, Avatar und den Nachfolgeprodukten in ihn hineinzudeuten gelernt hat: unabweisbares Schicksal, Überlebenskampf und Rückkehr in eine gerechte Ordnung.

Der apokalyptische Abgesang auf ein Leben, das einen mürbe und scheinbar abgeklärt gemacht hat, dessen Privilegien man zwar zäh gegen die Konkurrenten verteidigt, von dem man sich aber einredet, dass man es gern aufzugeben bereit wäre, wenn denn alle mitzugehen gezwungen wären, beinhaltet den ewigen Existenzkampf in der Horde gegen andere Horden als unhinterfragbaren Ausdruck von Freiheit.

Entwertung der Intellektuellen

Wie beim Normalbürger geht es bei der scheinbar so unendlich reflektierteren radikalen Konkurrenz zu. Während die einen aus ihrer nimmermüden Bereitschaft zur Kommunikation ihre Legitimation zum konformistischen Protest ableiten und sich gerade dann so richtig einzigartig wähnen, wenn sie selbstbewusst einfordern, wogegen sich kein Widerstand regt, folgt die deutsche Linke einem uralten Drehbuch: Als Intellektuelle ertragen sie ihre reale Entwertung nicht und versuchen Tatkraft, Aktualität und Wichtigkeit zu suggerieren. Diese Entwertung des Intellektuellen, die mit der Krise des bürgerlichen Individuums überhaupt einherging, hat das Aufblühen philosophischer Konzepte existentiell begründeter Entscheidungskraft (von Schopenhauers Wille bis zum reinen Handeln um seiner selbst willen bei Schmitt oder Heidegger) erst möglich werden lassen: Mit dem Niedergang realer Handlungsspielräume hat die Beschwörung phantastischer zugenommen. Auch wenn solches Denken, das doch weit eher eine Haltung ist, sich manchmal kritisch geriert, so hat es doch den Zugang zu seinem Gegenstand verloren, bzw. aufgegeben: Ungehemmt wird gegen ihn die Hypostasis der Willkür gefeiert. Historisch spiegelt sich die tatsächliche Krisis des Proletariats als revolutionärem Subjekt im Voluntarismus Stalins, der sein einziges permanentes Kennzeichen war und den er mit seiner Forderung nach „kreativem Umgang“ mit dem ML propagierte, womit er dem „subjektiven Faktor“ eine immense Bedeutung beigemessen hat.

Doch auch das Ich gegen die Masse in Stellung zu bringen, wie jedes antiautoritäre linke Ausbruchsunternehmen es versucht, und den abstrakten Zwang als konkreten Gegner erkennen zu wollen, folgt dem Prinzip der Enthemmung. War es früher der autonome Freiraum, den man sich erobern müsse, mal eine ominöse Antifa, die sich den Feind voluntaristisch zurechtbastelte, so kehrt heute in scheinbar so ganz anderen Kreisen die bekennerhafte Phraseologie der Nie-Wieder-Deutschland-Bewegung der frühen 1990er Jahre wieder, die anders als vor 20 Jahren gegen einen nunmehr völlig fiktiven Gegner anrennt, nur um die eigene Unverzichtbarkeit in radikaler Plattitüde unter Beweis zu stellen.

Eine sich gehemmt fühlende Betriebsgemeinschaft Deutschland, die intern nur in den Slogans fürs Ehrenamt wie „Mitmachen ist Ehrensache“ verrät, wozu sie fähig ist, holt sich schon einmal Mut und Kraft für größere Kollektivtaten von einem zur Arabellion schöngeredeten Männerbund. Kritiker von früher, die ganz aktuell eine Situation der Entscheidung konstatieren, der man sich zu stellen habe, suchen sich den Märtyrer als Vorbild, seien es nun jüdische Sowjetpartisanen, deren letztes Bild, von den Henkern unterm Galgen photographiert, man sich ins Zimmer hängt, oder der schwäbische Handwerker Johann Georg Elser, den man wie weiland schon Klaus Maria Brandauer existentiell verkitscht, statt sich einzugestehen, dass es unmöglich ist, dem Toten sein Geheimnis zu entwinden.

Weder Beruf noch Berufung

Dagegen wäre die Aufgabe des nicht-voluntaristischen Kritikers herauszuarbeiten: Nicht loszupreschen und selbstherrlich neue Phasen irgendwelcher Bewegungen auszurufen, sondern mit Demut seine Stellung zu reflektieren und mit Zähigkeit, Geduld und kalter Wut zu zeigen, dass (relative) Einsamkeit und (relative) Erfolglosigkeit nicht so schwer wiegen wie ein aktionistisches Verhältnis zur Wahrheit. Das nötigend vorgetragene Gebot der Stunde – jetzt habe jeder sich zu entscheiden, jeder müsse entschieden sich der Herausforderung stellen usw. – ist immer schon der Jargon derer gewesen, die nach der Wiederkehr des endlich wirklich Politischen Ausschau halten und doch dem Einzelnen noch den letzten Rest an Souveränität dadurch rauben wollen, dass sie ihm einreden, gerade auf ihn komme es an. Der Kritiker dagegen trifft in diesem existentialistisch aufgeladenen Sinn keine Entscheidung. Er sucht sich seinen Gegenstand auch nicht aus, vielmehr drängt sich dieser ihm auf und verlangt von ihm Antwort.  Dieses Moment der Nötigung, Ausdruck ihrer Ohnmacht, ist von Kritik nicht wegzudenken, ohne dass sie selbstherrlich und voluntaristisch würde.

Aber auch gegen die von erklärten Antipolitikern mit Bekenntniszwang selbstgerecht vorgetragene Phrase von der „Einsamkeit des Kritikers“, die bereits mit einem ontologisch aufgeladenen Voluntarismus kokettiert, wäre ganz nüchtern die auch erfreuliche Seite des Allein-Seins hervorzuheben: Die Einrichtung in einem Alltag, der einem nicht dauernd Bekenntnisse zu einer „Sache“ abherrscht und gerade deshalb erlaubt, von außen kommend und unbedingt draußen bleibend die toten Verhältnisse zu kritisieren, ist einem von manchen Intellektuellen scheinbar selbst gewählten permanenten Ausnahmezustand unendlich überlegen, in dem man sich frei vom Objektbezug als „der Kritiker“ und sein Tun als „die Kritik“ geheimnisumwittert in Szene setzt.

 

Redaktion Bahamas

 

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