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Druckfrisch aus Wien: Phrase 2

 

   Alles begann mit einem nicht einmal grandios, sondern einfach nur kläglich gescheiterten Kongress in Wien im Oktober 2011. Ein Kongress, auf dem Kunstwerke vorgestellt und Fragen der Ästhetik frei von Tagesaktualität, Realpolitik oder den üblichen und eingeschliffenen Debatten verhandelt werden sollten, war von den Veranstaltern in Aussicht gestellt worden. Tatsächlich wurde es dann etwas, was angesichts der im Frühjahr 2011 bekannt gemachten Kongressankündigung zu befürchten gewesen wäre, hätte man diese genauer gelesen: „Die Kunst der Freiheit. Autonomie und Engagement nach Sartre und Adorno“ lautete der Titel der Veranstaltung; und von den Initiatoren wurde vor Ort mit ziemlicher Vehemenz eine Diskussion eingefordert, die sich um die Notwendigkeit eines vernünftigen und reflektierten „Engagements“ drehte, anknüpfend an die Freiheitsphilosophie Sartres, anhand derer man auch die angeblichen Defizite der „Kritischen Theorie“ v.a. Adornos erkennen und ausbügeln könne. Anders gesagt: Wieder einmal fungierte die Kunst als Material, an dem eine vorrangig gesellschaftstheoretisch intendierte und ins Politische ausgreifende Diskussion sich illustrierte. Etwas schärfer formuliert: Die Kunst wurde von den Veranstaltern für eine reichlich kunstferne Diskussion rund ums „Engagement“ instrumentalisiert.

   Das kann und das darf man selbstverständlich so machen – man darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn Leute darauf wenig begeistert reagieren und insbesondere die Nötigung, sich auf den Sartreschen Begriff des „Engagements“ vorab positiv „einzulassen“, wie es immer wieder hieß, zurückweisen. Selbstverständlich kann und darf man dann als Veranstalter auch auf Reaktionen, die man selbst provoziert hat, wiederum verärgert und gekränkt reagieren – aber es verbietet sich für erwachsene und reflektierte Menschen, ihre Verstimmungen und Verschnupftheiten zu kultivieren und mit enormem theoretischen Aufwand fugendicht zu rationalisieren, was freilich einige Leute aus der Wiener Sonntagsgesellschaft nicht im Mindesten davon abgehalten hat, genau dies zu tun.

   Bald nach dem Kongress ist, was ursprünglich und seinem Wesen nach eine Mischung aus Gekränktheit und Beleidigtsein war, dann „sans phrase“ zur Erscheinung gekommen. Seit Gründung dieser sichtlich um Seriosität bemühten und deshalb schon im Erscheinungsbild an Mitteilungsblätter wissenschaftlicher Akademien gemahnenden Zeitschrift hat der theoretische Rationalisierungsdrang und damit der Zwang, sich von Menschen, mit denen man bis vor kurzem kontrovers, aber in den wesentlichen Fragen einvernehmlich gestritten hatte, strikt abzugrenzen, noch einmal an Fahrt gewonnen. Die Rationalisierung ist sehr einfach gestrickt und funktioniert nach dem Modell der self-fulfilling prophecy: Wenn die Bereitschaft, sich auf Sartre und den Begriff des „Engagements“ „einzulassen“, unmittelbar als Gradmesser für die Bereitschaft zur Selbstreflexion genommen wird, gleichsam als Lackmustest, an dem das Verhältnis von Marxisten zur Freiheit verlässlich abgelesen werden kann, dann bedeutet dies, all diejenigen, die sich diese Herangehensweise nicht unmittelbar zu eigen machen, nicht als Leute mit einer abweichenden, aber diskutablen Ansicht, sondern als welche dastehen zu lassen, die sich in bloßer „Abwehr“ (Christian Thalmaier) oder „Reflexionsverweigerung“ (Manfred Dahlmann) ergehen.

   Der sogenannte „Wien-Berlin-Streit“, der seit etwa zwei Jahren in antideutschen Kreisen die Runde macht, ist deshalb, Wienerisch ausgedrückt, ein großer Schmäh, und er existiert nur insofern, als einige Wiener, namentlich federführend die Herausgeber der „sans phrase“, ihn andauernd herbeireden und -schreiben müssen, umso mehr, als sie sich mit ihrer neuen Zeitschrift selbst unter Rechtfertigungszwang gesetzt haben, handfeste „Beweise“ für eine theoretische Unvereinbarkeit von „Wiener“ und „Berliner“ Ideologiekritik und damit Gründe für die Existenzberechtigung der „sans phrase“ zu erbringen. Dabei lesen sich zentrale Artikel dieser Zeitschrift in dem bemühten und angestrengten Gestus, den sie ausbreiten, und im unleidigen und nötigenden Oberton, der in ihnen mitschwingt, gewissermaßen wie ein Dementi jener „ursprünglichen“ und schlechthin „gegebenen“ Freiheit, die doch andauernd beschworen wird. Da versichern sich verschiedene Autoren ihrer selbst und ihres Projekts, indem sie laufend einander aus ihren allerneuesten Texten zitieren1; da muss einem Aufsatz von Irene Lehmann, in dem diese anhand von Luigi Nonos Musik auf die Fragwürdigkeit engagierter Kunst und des Sartreschen Engagement-Begriffs eingeht, sogleich eine unter der Überschrift „Diskussion“ platzierte Distanzierung hinterhergeschickt werden.2

   Das mühevoll inszenierte Zerwürfnis zwischen „Wien“ und „Berlin“ ist umso lächerlicher, als keinerlei tagesaktuelle oder auch generelle Notwendigkeit besteht, die Fragen, um die es angeblich gehen soll, auf diese dringliche Weise zu verhandeln: Weder ist die „Neue Marx-Lektüre“ mit Blick auf die diversen antideutschen Zirkel eine besonders bedeutende Strömung, noch gibt es bei ihnen irgendeine Neigung, ausgerechnet nationalsozialistische Täter oder islamische Rackets zu exkulpieren – und was das alles mit „Berlin“ oder der „Bahamas“ und ihren Autoren zu tun haben soll, ist schlichtweg unerfindlich: Als wäre es nicht eine gemeinsam geteilte Einsicht und als würde nicht aus jedem dort erscheinenden Text klar hervorgehen, dass alle Aussagen über den Zwangscharakter der bestehenden Gesellschaft nicht auf dessen Affirmation, sondern auf die Möglichkeit des Widerstands dagegen und damit auf jene Potentiale der Freiheit abzielen, die Adorno mit schüchternen Formulierungen wie denen von den immer auch somatisch vermittelten „Spuren“, „Impulsen“ oder „Regungen“ von Freiheit im Zweifelsfall immer noch genauer fasst als Sartre mit seinem verdinglichten aufgedonnerten Freiheitspathos. Aber auch andere gesellschaftliche Tendenzen, die herangezogen werden, um die Notwendigkeit eines Rekurses auf Sartre zu begründen, erfüllen ihren Zweck nicht – da bemüht etwa Gerhard Scheit in „Quälbarer Leib“ die Leugnung des freien Willens in den Neurowissenschaften3, als wäre deren naturwissenschaftlicher „Objektivismus“ das unvermittelte Gegenteil von Subjektivität und nicht vielmehr die selber höchst subjektive, zum System objektivierte und als Bestimmung der Sache sich verkennende Methode und damit Moment eben der angeblich absolut freien Subjektivität, die gegen den „Objektivismus“ in Stellung gebracht werden soll. Überhaupt kann man sich nur wundern über die in Wien verbreitete Instinktlosigkeit, in Zeiten wie diesen ausgerechnet auf Begriffe wie Engagement und Subjekt zu setzen – als wäre das derzeitige Problem eine gesellschaftliche Lethargie und nicht vielmehr, wie doch auch die Wiener Autoren nur zu gut wissen, das gesellschaftlich und politisch geförderte Dauerengagement, als wäre das größte Problem nicht ein zur objektiven Weltanschauung aufgeblähter, enthemmter Subjektivismus, der sich vornehmlich im Kulturbetrieb in der offensiven Zerstörung von Kunstwerken und der Serienproduktion von Kulturmüll austobt.

   Auch sind die inhaltlichen Probleme, die von Wiener Autoren aufs Tapet gebracht werden und deren Lösung eingeklagt wird, beileibe keine „offenen Fragen“, zu denen noch niemand Triftiges gedacht hätte: Das Problem von Freiheit und Determinismus wurde etwa in vielen Beiträgen anlässlich der Goldhagen-Debatte in den späten 90er Jahren ausführlich erörtert, unter anderem in einem Aufsatz, der, wie Gerhard Scheit es in „Quälbarer Leib“ einfordert, Georg Elsers gedenkt4; und ebenso wurde die Gestalt der politischen Souveränität im postnazistischen Zustand unter Rückgriff etwa auf Johannes Agnoli immer wieder minutiös analysiert, nicht zuletzt von Gerhard Scheit in seinem maßstabsetzenden Buch „Suicide Attack“. Und nichts spräche dagegen, die dabei gewonnenen und von „Wien“ und „Berlin“ gleichermaßen geteilten Einsichten auch weiterhin gemeinsam am Gegenstand verwandelnd zu entfalten. Das nicht zu tun, sondern eine Demarkationslinie zwischen sich selbst und sogenannten  „Reflexionsverweigerern“ zu ziehen, ist die nicht freie, sondern ganz willkürliche „Entscheidung“ von Wiener Genossen.

   Mit der in der neuesten „sans phrase“ abgedruckten Replik von Christian Thalmaier auf einige in der „Bahamas“ erschienene Kritiken an der neuen Wiener Linie ist der bislang hauptsächlich absurde „Wien-Berlin-Streit“ nun allerdings definitiv zu einer ungustiösen Angelegenheit geworden.5 Ein jeder, der des Lesens mächtig ist, über ein Minimum an Feingefühl verfügt und sich von den grotesken Wiener Abgrenzungsbemühungen nicht hat irre machen lassen, kann den Aufsätzen von Jörg Huber, Thomas Maul und Magnus Klaue unschwer entnehmen, dass in ihnen der Versuch unternommen wird, aus einem trüben Zerwürfnis einen sachlichen Kern herauszuklauben, dass in jedem Text ganz manierlich und sachlich argumentiert wird – bei aller in der Sache gebotenen Schärfe; dass also auf je verschiedene Art der Versuch unternommen wird, eine Sache diskutierbar zu machen, um herauszufinden, was das womöglich Gemeinsame und Trennende denn sein könnte. Ein jeder dieser Texte war, wenn man so will, ein Gesprächsangebot – Christian Thalmaier hingegen, der sich vollmundig gegen eine „Methode von Subsumption, Routine und grenzenlose Reproduktionskraft“ wendet und gegen die Neigung, „sich in den Fugen des routinierten Gedankens ein(zu)richten“, schert sich, wenn es gegen Berlin geht, nicht um sein Geschwätz aus dem gestrigen Absatz seines Pamphlets und erkennt in den „Bahamas“-Aufsätzen mit geschultem Röntgenblick nichts weiter als „Invektiven“, „auf Wien kalibrierte Schriftsätze“ und, wie man in Wien seit zwei Jahren aus Berlin stammende Texte stereotyp zu charakterisieren pflegt: „Gesprächsverweigerung“.

   Es fällt Thalmaier gar nicht auf, wie sehr jeder gegen Berlin erhobene Vorwurf in Wahrheit nicht die „Bahamas“, sondern sein eigenes Vorgehen trifft: Einen „Modus der Diskussion“ fordert er ein, „den man früher ´solidarische Kritik´ genannt hat“ – derart eine alt-linke Gemeinschaftsvokabel sans phrase bemühend –, und ist doch beständig damit beschäftigt, gegen „Berlin“ „Demarkationslinien“ zu ziehen und „Grenzziehungen“ vorzunehmen; Thomas Maul unterstellt er ein „von Devotion nicht freies“ Verhältnis zu Justus Wertmüller, während er selbst sich als verständnisinniger Exeget von Manfred Dahlmann betätigt, dem er eine „missglückte“ Formulierung gütig nachsieht, während er missliebige Formulierungen von „Bahamas“-Autoren stets als Indiz für eine fehlgeleitete Sache heranzieht; ein auf Marx, Freud, Adorno und Kraus als Vaterfiguren bezogenes, autoritätsfixiertes Verhalten glaubt er „Berliner Ideologiekritikern“ nachweisen zu können, während er in seinem Text eine „gewissermaßen familiäre Situation“ mit sich selbst in der Hauptrolle inszeniert, indem er wie ein gestreng-autoritärer Vater auftritt, der Berliner Autoren wie Rotzbuben als windige Feuilletonisten zusammenstaucht, weil die sich´s gemütlich eingerichtet hätten in der „hedonistische(n) Mitte“, wo sie als „Brigadiere westlicher Urbanität das ´zufällige und unverdiente Glück des Kritikers´ so getröstet genießen, dass minder glückliche Kritiker gleich als Nachhut des heroischen Realismus verspottet werden müssen.“ Herr Thalmaier hingegen begreift sich offenbar als einen solchen minder glücklichen und deshalb authentisch ungetrösteten Kritiker, der im Glauben an die Ernsthaftigkeit, Lauterkeit und Verantwortlichkeit des eigenen Tuns so sehr in befriedigtem Einverständnis mit sich selbst ist, dass er sich legitimiert glaubt, gegen die „Berliner Hirten des Glücksversprechens“, die in ihrer Stadt „Schreibwerkstätten zur Pflege residualer Glücks- und Freiheitsmomente und Förderung schriftstellerischer Selbst- und Fremdtröstung“ unterhalten, gleich noch einmal und ad personam hinzulangen: Mit der Wendung vom „zufälligen und unverdienten Glück des Kritikers“ gebe Maul als „kritische(r) Hedonist auf seiner Berliner Kleinkunstbühne den Aristokraten, der zufällig und unverdient vom Erbe lebt und den fleißigen Bürger verachtet, der zwar zu Reichtum gelangt, aber zum Genuss nicht findet“; und Magnus Klaue, den Thalmaier besonders am Wickel hat, attestiert er mit fürsorglich-herablassender Geste, jener sei „auf die schiefe Bahn der kunstgewerblichen Verwertung angeschwemmten Treibgutes aus der Dialektik der Aufklärung und der Minima Moralia und in die schlechte Gesellschaft von Meinungsmachern im Blätterwald“ geraten, um ihn so in die unmittelbare Nähe zum antisemitischen Herausgeber des Freitag zu rücken.

   Man dachte bislang, Derartiges sei wenigstens in antideutschen Zirkeln endgültig überwunden. So weit liegen die Zeiten noch nicht zurück, wo es gemeinsam geteilte Einsicht war, dass aufdringliche und gesinnungsfeste Verantwortungsethik ein integrales Moment des alt-linken, identitätsversessenen Politgewerbes und damit Gegenstand jener Kritik politischer Souveränität ist, die doch andauernd angemahnt wird; wo man gerade die Selbststilisierung des Einzelnen zum ungetröstet an der kapitalisierten Welt Leidenden als verdruckst-egozentrische Pose erkannte, weil in ihr das Subjekt aus dem Leiden ökonomisches oder politisches Kapital schlägt, die deshalb das gerade Gegenteil von Empathie ist und der Anstrengung, Leiden beredt werden zu lassen, diametral zuwiderläuft. Aber die Orientierung an Sartre, der neuen Wiener Vaterfigur, lässt solche Sachen offenbar ganz schnell in Vergessenheit geraten und dafür einen neuen Jargon der Feierlichkeit erstehen, mit dem Wiener Ideologiekritiker, die schließlich auch nur ganz unheroisch „vor ihren Laptops, Zettelkästen und Gesamtausgaben“ sitzen, sich als Partisanen gerieren, die im Angesicht eines nur suspendierten Ausnahmezustands ihren Status als zur Freiheit Verurteilte tapfer annehmen und mit feierlichem Ernst ihr Handeln in den Dienst der Entscheidung stellen.

   Man weiß nicht, ob und inwieweit Thalmaiers Thesen die Ansicht aller Redaktionsmitglieder der „sans phrase“ wiedergeben. Gewiss ist hingegen, dass deren  Herausgeber die redaktionelle Verantwortung tragen für einen Text, deren Autor sich über die in Berlin angeblich praktizierte Pflege von Idiosynkrasien mokiert und auf über 10 Seiten nichts anderes tut, als ungebremst seine Idiosynkrasien auszuagieren. Zu hoffen bleibt da angesichts der unerfreulichen Gesamtsituation nur, dass die Leserinnen und Leser der „sans phrase“ sich eine derartige Entgleisung nicht bieten lassen und beim nächsten Mal, wenn sie vor die Wahl gestellt sind, ein Exemplar dieser Zeitschrift zu erwerben, eine freie Entscheidung treffen.

 

Clemens Nachtmann

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