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Die Redaktion dokumentiert im Folgenden einen bereits in stark gekürzter Version in der Zeitschrift Versorgerin (Juni 2017) erschienenen Text von Paulette Gensler, dem wir größtmögliche Verbreitung wünschen.

Stirner, Mittelklasse und existentielle „Ideologiekritik“

In heutigen ideologiekritischen Texten spielt Max Stirner so gut wie keine Rolle. Dies erscheint wie eine Umkehrung seiner immensen Bedeutung in der Deutschen Ideologie, deren Rezeption selbst keine besonders rühmliche darstellt, wobei man sich gern damit rechtfertigt, dass Marx und Engels diese ja schließlich selbst den Mäusen zum Fraß überlassen haben. So heißt es noch in einer zusammengeschusterten Sammlung der Marxschen Frühschriften des Stuttgarter Alfred Kröner Verlags im Jahre 1953, dass man auf die Herausgabe großer Teile der Deutschen Ideologie verzichtet habe, da diese Teile so gut wie ausschließlich einer mehr bissig-artistischen als produktiven Polemik gewidmet sind. (1)

In der Einleitung erfährt man dann, welche großen Abschnitte wohl gemeint sind aus der Deutschen Ideologie, deren erster Teil eine positive Auseinandersetzung mit Feuerbach und eine in ihrer Langatmigkeit und akrobatischen Klopffechterei unerquickliche Kritik des Buches von Max Stirner Der Einzige und sein Eigentum unter dem Titel Sankt Max enthält. (2) Der zweite Teil gebührt den Verkündern des wahren Sozialismus, aber positiv wichtig ist nur der erste Teil über Feuerbach. Dies scheint trotz Adornos Schrift Jargon der Eigentlichkeit allgemein recht anerkannt zu sein. Doch selbst der fleißigste der heutigen Stirner-Apologeten, Bernd Laska, erkennt im Gegensatz zu den meisten Antideutschen im Untertitel Zur deutschen Ideologie des Werkes Adornos wenigstens die Andeutung, dass die aktuelle Konfrontation Adorno/Heidegger eine Entsprechung in der einstigen Marx/Stirner habe. (3) Gleichzeitig weiß er aber zu vermelden, dass weder Adorno noch Horkheimer noch irgendein anderer Autor, der dem Institut angehörte oder nahestand, jemals Stirner thematisiert (4) hätten. Dabei hatte sich schon Hans Mayer in seinem Beitrag für den 1936 in Paris erschienen Sammelband der gemeinsamen Studien über Autorität und Familie mit Stirner auseinandergesetzt. (5) Obwohl Stirner hier vor allem als Anarchist betrachtet wird und wahrlich nicht den Hauptteil des Artikels abbekommt, sind sämtliche Kernkritikpunkte in ihren Grundzügen ausformuliert, da der Anarchismus selbst in seiner Zweifrontenstellung: einmal gegen das Bürgertum und den Staatsapparat, zum anderen gegen den Marxismus und die Ziele und Methoden des Klassenkampfes als typische Ideenlage von Mittelschichten eingeordnet wird. (6) Stirner firmiert dann vor allem als Stifter des anarchistischen Individualismus.

Ein kurzer Umweg über die Gegenwart: Philipp Lenhard schreibt in einem seiner von der Intention löblichen Artikel beispielsweise über Marx, der Stirner in seiner Schrift Deutsche Ideologie bei weitem den größten Raum einräumte, ohne ihn wirklich treffen zu können (7) – Warum bzw. inwieweit erwähnt er leider nicht. In der Einleitung zum Sammelband Gegenaufklärung, in der sie Stirner völlig richtig als einen der frühsten und wichtigsten Vertreter deutscher Ideologie (8) benennen, schreibt Lenhard – diesmal mit Alex Gruber: In Stirners konsequentem Nominalismus kommt die Revolte des Bürgers gegen die Herrschaft des Abstrakten zum Ausdruck. (9) Und in eben diesem Satz, obwohl an diesem fast alles richtig ist, treffen sie im Gegensatz zu Marx und Engels Stirner gerade nicht bzw. noch viel weniger. Lenhard und Gruber gehen hierbei gewissen Stirner-Kritikern, wie Moses Hess, auf den Leim, die ihn für einen bürgerlichen Ideologen halten.

Wenige Jahre später ließ man im selben Freiburger Verlag Jörg Finkenberger gegen einen Autor aus der leninistischen (?) Tradition [pöbeln, der] sich veranlasst fühlt, Stirner zu einem Vorläufer Hitlers zu machen. (10) Gemeint war der drei Jahre zuvor verstorbene Hans G Helms. Dieser wurde 1932 in Mecklenburg geboren und überlebte den Nationalsozialismus unter anderem in Berlin mit gefälschten Papieren. Nach ’45 weilte er mit einem Nansen-Pass an verschiedenen Orten außerhalb Deutschlands. In den 1960ern war Helms nach eigener Aussage so eine Art Privatschüler von Adorno und Horkheimer und wurde von Adorno eingeladen, ein einwöchiges Privatseminar über Max Stirner abzuhalten; seine Hörer waren u.a. Jürgen Habermas, Max Horkheimer, Gerhard Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann und Gretel Adorno. Daraus entstand Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners Einziger und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewusstseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik, (11) in der er versuchte, Marx’ und Engels’ Deutsche Ideologie/Sankt Max, Kracauers Angestelltenstudie sowie die nahezu zeitgleich zu seiner Schrift entstandene, aber zwei Jahre früher beendete und veröffentliche Jargonkritik Adornos zusammenzudenken. Dabei verfasste er nach Marx und Engels zum zweiten Mal eine Kritik von Der Einzige und sein Eigentum, die ausführlicher war als das kritisierte Werk selbst.

Hätte der militante Ideengeschichtler Finkenberger von dem Buch ein wenig mehr als den Klappentext gelesen, wüsste er, dass der Stirner-Hitler-Bezug nur sehr bedingt oder eher vermittelt vorliegt. Helms erkennt zwar gewisse [!] Gemeinsamkeiten in den Geschichtsvorstellungen Stirners und Hitlers (S. 125), aber nicht deswegen ist die Geschichte des Stirnerianismus [also die Rezeption Stirners; P.G.] zugleich eine Geschichte des Faschismus, (S. 4; m. Hrvh.) sondern er betont, dass ebendieser Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeists sind. (S. 5) Bei Franz Neumann fungiert Max Stirner, der Anarchist zusammen mit Dühring und Ahlward noch als wichtiger Teil einer Flut von antisemitischen Schriftstellern (12), wohingegen Helms ganz dezidiert, wenn auch nur in einer Fußnote vermerkt: Ein Antisemit war Stirner nicht. (S. 297 u.) Stirners Werk hatte nach Helms durchaus kontinuierliche Wirkung, sie war mittelbar, deswegen nicht weniger intensiv. (S. 314) Jene außerordentlich mittelbare Wirkung habe sich vor allem in pädagogischen Journalen sowie im Journalismus, Film und Kunst (S. 407) entfaltet. Schließlich konkretisiert er gegen Ende des Werkes die Ideologie Stirners sei vor allem zu verstehen als Vorbereitung auf faschistische Praxis. (S. 478) Es ist weder Zufall noch Nachlässigkeit, dass vor dem Akkusativobjekt weder ein bestimmter noch ein unbestimmter Artikel steht. Die damit angedeutete Fungibilität begründet sich vor allem dadurch, dass im Einzigen ebenso wie in Mein Kampf die Fassade der Kern ist. Einen eigentlichen Kern gibt es nicht. (S. 197) Aber noch einmal auf Anfang: Anlass der Arbeit war die ideologische Lage der Bundesrepublik Deutschlands (S. 1) oder in Adornos Worten das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie. Weiter heißt es: Der Faschismus ist das Produkt des Mittelstandes. Seine Ideologie stellt das Ersatzklassenbewusstsein der Mittelklasse dar, der Klasse der Verwalter und Verteiler, der übrigen dienstleistenden Berufe, der Scheinproduzenten und Produzenten des ideologischen Scheins. (S. 1)

Der Einzige in seinen eigenen Worten

Stirner stellte das Goethe-Zitat Ich hab’ Mein Sach’ auf Nichts gestellt! (13) seinem Werk als Motto voran, um sich unter anderen der guten Sache, jener Gottes, der Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit zu entsagen ferner [auch der] Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar [der] Sache des Geistes. Er beklagt sich nun: Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. Aber Stirner findet ein Vorbild, denn der

Sultan hat seine Sache auf Nichts, als auf sich gestellt: […] Ich Meinesteils [will] lieber selber der Egoist sein. Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf Sich. Stelle Ich denn meine Sache gleichfalls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem anderen, der Ich mein alles, der Ich der Einzige bin. […] Ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer alles schaffe. Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! […] Meine Sache ist […] allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich! (14)

In diesem Duktus und in derselben Eigenlogik geht es im gesamten Einzigen weiter, weshalb man fast zwangsläufig zu längeren Zitaten zurückgreifen muss, denn es ließe sich in keiner Paraphrase nachbilden. Die Qual der Lektüre mag diese Unmöglichkeit ersetzten. Da aus jeder Zeile der Einleitung schon die Immunität gegen Argumente spricht, welche für die Deutsche Ideologie charakteristisch werden sollte, verfasste Marx seine Kritik über weite Strecken als Sprachkritik, in der er sich über den Heiligen Max oder Sancho Pansa belustigt. Wenn also Adorno in seiner Notiz zum Jargon der Eigentlichkeit schreibt, dass die zeitgemäße deutsche Ideologie sich vor faßbaren Lehren hüte, und in die Sprache gerutscht sei, (15) wäre dem zu entgegnen, dass jenes schon für die ältere galt. Auch Stirners Schrift bezieht ihre Wirkung maßgeblich aus der schlechten Sprachgestalt sowie aus der Unwahrheit des mit ihr gesetzten Gehalts, der impliziten Philosophie, (16) weshalb Adorno in der mündlichen Besprechung des Helmschen Werkes auch anmerkte, Stirner habe den Hasen aus dem Sack gelassen. (S. 200) (17)

Als Jörg Finkenberger noch in anarchistischen Zeitschriften veröffentlichte, schrieb er ohne Hinweis vor allem von Henri Arvon (18) Folgendes ab: Marx vermeidet an den meisten Punkten die Auseinandersetzung mit dem logischen Hauptpunkt, den Stirner aufgeworfen hatte. (19) Dieser bestehe laut Finkenberger in der Frage, ob der Mensch, die Menschheit als Abstraktum, als Gattung und als Ideal, nicht ebensogut eine religiöse Vorstellung [sei]? oder in der Antwort, dass die Menschen, die darunter verstanden werden sollen, notwendig einzelne, notwendig leibliche, notwendig auf Begriffe nicht reduzible sind. In seiner eigenen Tradition hätten beide, Marx und Stirner, ihre verschiedenen Plätze, wobei Stirner, ebenfalls Verfasser einer Synthese, und zwar einer ganz und gar negativen, notwendiges Korrektiv Marxens sei. Bei Marx hingegen ließe sich in zahlreichen Werken nachlesen, dass dieser Punkt bei ihm sehr wohl eine Rolle spielt, aber nicht zu hypostasieren ist.

Der Einzige besteht laut Helms vor allem aus einer Negation der Geschichte, der geschichtlichen Zusammenhänge und Kausalitäten, und dem autoritär Ideologischen, das die gesellschaftlichen Kräfte des Bestehenden ebenso abwehren und vor ihnen Schutz bieten soll wie sie in den Griff bekommen, um sie gegen andere zu wenden. (S. 70) Zusammen kommen beide Momente (tabula rasa und Tischlein deck dich) in der Insistenz auf Empörung, welche Revolutionsersatz und Konterrevolution in einem ist. (S. 70) Der Mensch und Ich heißen die beiden Teile des Hauptwerks von Stirner. Das Ich (20) besteht aus Eigenheit, Eigner und Einzigem. Sein Werk endet mit den Worten:

Man sagt von Gott: Namen nennen Dich nicht. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir. Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiss. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt. (21)

Was mit dem Sultan begann, an dessen Stelle sich Stirner setzen wollte, endet nun also mit Gott, der er längst selbst sei. Helms hebt hervor, wie sehr Stirner mit der göttlichen Namenslosigkeit nur die eigene Anonymität, zu der er verurteilt ist, noch einmal selbst unterschreibt und diese sowie sich selbst in diesem Schritt überhöht. Im Gegensatz zum dialektischen Verhältnis von wirklichem und wahrem Menschen, Bourgeois und Citoyen, geht es Stirner eher darum, den einen mit dem anderen totzuschlagen, (S. 95) denn er kann die Wechselbedingung von homme und citoyen nur als unvermitteltes Entweder-Oder artikulieren. (S. 96) Letztlich verfasste Stirner eine Ideologie des Selbstwertes, den man sich bekanntlich auch nur selbst geben könne. Es heißt bei Stirner aber zumindest etwas ehrlicher:

Wisse denn, Du hast so viel Geld als Du – Gewalt hast; denn Du giltst so viel, als Du Dir Geltung verschaffst. Man bezahlt nicht mit Geld, woran Mangel eintreten kann, sondern mit seinem Vermögen. (22)

Gegen die Kommunisten und den Wert der Arbeitskraft, der sich erst im Tausch realisiert, führt er an: Was Du vermagst, ist dein Vermögen! (23) Was man kann, hat man schon – jedenfalls in dieser Ideologie des Humankapitals. Er präzisiert: was Ich zu haben vermag, das ist mein Vermögen. Und vergleicht es mit dem Vermögen des Säuglings der Mutter durch Geschrei Milch abzupressen, aber vermagst Du keinen für Dich einzunehmen, so magst Du eben verhungern. Wie die Vereinnahmung zu erfolgen habe, manchmal taucht ein Lust bereiten auf, ist des Weiteren mit dem Geschrei des Säuglings schon angedeutet. Die nährende Mutter hingegen bleibt vorerst im Dunkeln, um sich später als der Staat zu entlarven.

Zentrales Motiv Stirners ist die Staatskritik oder eher -feindschaft (wohlgemerkt in seiner Vorstellung als bezahlter Beruf, d.h. als Geschäft für den Staat) – er schreibt, nachdem mehrere Bewerbungen Stirners für Staatsdienste (wie das Lehramt) aufgrund mangelnder Qualifikationen abgelehnt worden waren:

Der Staat lässt Mich nicht zu meinem Werte kommen und besteht nur durch meine Wertlosigkeit: er geht allezeit darauf aus, von Mir Nutzen zu ziehen, d.h. Mich zu exploitieren, auszubeuten, zu verbrauchen, […]. Nur dann kann der Pauperismus gehoben werden, wenn Ich als Ich Mich verwerte, wenn Ich Mir selber Wert gebe, und meinen Preis selber mache. Ich muss Mich empören, um emporzukommen. (24)

Staat und Gesellschaft sind dabei einerlei, da beides irgendwie abstrakt sei und demnach abzuschaffen, sofern er dem Einzelnen nicht vollends zu Willen und Nutzen ist. Wie dem kleinen Kind die abwesende Mutter zur bösen Mutter wird, ergeht es Stirner mit dem Staat. Er übersetzte zwar Adam Smiths Wealth of Nations, was jedoch keine große Wirkung auf ihn gehabt zu haben schien, außer dass er aus sehr selektiver Rezeption seinen Vulgäregoismus und -staatshass entwickelt zu haben scheint. Da Stirner selbst aber vom Ich immer wieder ins Wir rutscht, muss für Letzteres, das sich gemeinsam eben stärker und somit erfolgsversprechender empören kann, eine Form gefunden werden: Ich vernichte [Staat und Gesellschaft] und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten. (25) Oder: Die Auflösung der Gesellschaft aber ist der Verkehr oder Verein. (26) Dieser Verein ist dabei keineswegs skizziert als eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist (27), sondern:

Der Unfreiheit und Unfreiwilligkeit wird er gleichwohl noch genug enthalten. Denn sein Zweck ist eben nicht – die Freiheit, die er im Gegenteil der Eigenheit opfert, aber auch nur der Eigenheit. (28)

Sein Kampf gegen das Heilige ist ein heiliger Krieg gegen jegliche Kulturleistungen, die in der Regel Triebbeschränkungen oder zumindest -aufschübe erfordern. Eher als den Egoismus meinen die Begriffe der Eigenheit und Empörung deshalb die Enthemmung und Ermächtigung zum Raub im Namen des Rechts des Stärkeren:

Zu welchem Eigentum bin Ich berechtigt? Zu jedem, zu welchem Ich Mich – ermächtige. Das Eigentums-Recht gebe Ich Mir, indem Ich Mir Eigentum nehme, oder Mir die Macht des Eigentümers, die Vollmacht, die Ermächtigung gebe. Worüber man Mir die Gewalt nicht zu entreissen vermag, das bleibt mein Eigentum; wohlan so entscheide die Gewalt über das Eigentum, und Ich will alles von meiner Gewalt erwarten! (29)

Im Endeffekt liest er Hobbes rückwärts und schreibt mit. Statt der Angst des Hobbes ist das treibende Motiv nun der Berserkermut Stirners, der den Naturzustand mit positiven Vorzeichen versieht – der Kampf aller gegen alle, aber im Verein mit Gleichgesinnten, ist das Ziel. Wie ein typischer Parvenü-Charakter Balzacs verkündet er gegen Kant: Wir haben zueinander nur eine Beziehung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens. (30)

Die berühmtesten Schüler und ihre Klasse

Auch Helms kommt zu dem Schluss, dass Marx und Engels Stirner verfehlt hätten. Sie hätten eine gewisse Blindheit gegen die Gefährlichkeit Stirners gezeigt, und aus taktischen Gründen selbst die erkannten Inhalte untertrieben, da sie vor allem seine Wirkung auf die herrschende Bourgeoisie befürchteten. (S. 147) Im Falle Marxens bis hin zu Buber sei dies noch nachvollziehbar, aber bei Jüngeren ist es unverzeihlich: die Machtübernahme des Mittelstandes ist ein historisches Faktum. (S. 186) Die Revolte des Bürgers, von der Lenhard und Gruber oben schrieben, ist eben keine des Bürgers im klassischen Sinne. Helms hat dies vor einem halben Jahrhundert schon ausführlich konkretisiert: Stirner hat nicht die Ideologie der Mittelklasse geschaffen: das Entstehen der Ideologie ist eine Konsequenz der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Einzige ist lediglich ihre erste konsequente Formulierung. Zeitgenossen hätten diese nicht erkennen können, da sie ihre Wirkung in der und auf diese Klasse erst entfaltet habe, als die Entwicklung der Produktions-, Administrations- und Distributionsverhältnisse die Mittelklasse für diese Wirkung empfänglich gemacht hatte. (S. 3f)

Die Kritik der anonymen Gesellschaft besteht deshalb aus zwei Strängen, welche beständig Bezug aufeinander nehmen: Zum einen aus dem Nachvollzug der Hauptströmungen der Wirkung Stirners bis in die Gegenwart, welche in der Tat manchmal das Mal des Konstruierten trägt. Das liegt jedoch in der Natur des Gegenstandes wie auch in dem enormen Zeitraum, den er zu überblicken versucht. Die Konstruktion wäre aber konkret auszuweisen und vor allem als falsche zu belegen. Helms nimmt inhaltlich Stirner, wie Marx, weniger ernst als seine Adepten, gleichzeitig jedoch seine Rezeption, also seine Adepten, äußerst ernst. Die gesamte von Helms aufgezeigte Rezeption lässt sich hier nur andeuten. Laut Finkenberger sei Stirner von Marxisten nach dem 20. Jahrhundert mit Demut zu begegnen, denn Stirners Schüler haben kaum eine solche Bilanz aufzuweisen wie etwa Stalin und Mao. (31) Wenn er mit Schüler euphorische Leser meint, muss er nicht nur Mussolini und den Hitler-Mentor Dietrich Eckart sondern auch Martin Heidegger, Georges Sorel, Silvio Gesell, Carl Schmitt und Richard Wagner sowie Rudolf Steiner, Max Adler, Dostojewski, B. Traven, Wedekind und Shaw, Ernst Jünger sowie Spengler oder Eduard von Hartmann ihren Rang absprechen. (32) Hans G Helms scheint geahnt zu haben, dass seine Analyse nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen werden wird, und begegnete dem schon im Voraus mit einer gehörigen Redlichkeit. Neunzig Seiten Literaturverzeichnis, in dem die untersuchten Schriften, nach Entstehungs- und Veröffentlichungszeitpunkt geordnet, noch einmal extra in Bezug zueinander gestellt wurden, und 1358 Fußnoten (33) stehen zur Überprüfung für Kritiker bereit, die sich bisher jedoch alle davor gedrückt haben. Gegen ein generell als Einwand beliebtes Argument, dieser oder jener hätte in dem Falle Stirner gar nicht verstanden und stünde deshalb nicht in seiner Tradition, wendet Helms, der bestrebt war, gewisse Stränge der Rezeption wirklich bis in die allerletzte und latenteste Ecke nachzuvollziehen, am Beispiele Dietrich Eckarts ein, dass dieser in seiner profunden Halbbildung, den Einzigen aufs Schönste missverstanden hatte, um dennoch zum selben Resultat: der prinzipiell gesellschaftsfeindlichen Haltung zu gelangen. (S. 485)

Die Fleißarbeit wäre schon bemerkenswert genug, wiewohl die Redlichkeit eine gewisse Redundanz mit sich bringt. Rückgebunden wird jedoch immer an den zweiten Strang der Arbeit, in welchem die zur Rezeption Stirners parallele Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, dabei besonders die Entwicklung des Mittelstandes und Kleinbürgertums als Klasse nachvollzogen werden. Es geht somit um die Frage, wie jenes Wir, (34) das bei Stirner allem radikalen Individualismus zum Trotz auch schon immer präsent ist, in der späteren Folge komplett freigesetzt werden konnte; weshalb also Heidegger 1935 mit widerlichem Recht apologetisch verkünden konnte: Jetzt ist die Wirzeit statt der Ichzeit. (35) So schreibt Helms auch über Marx und Engels: Wäre es ihnen gegeben gewesen, die Wege zu erforschen, die der Einzige seitdem gegangen ist, der Spott wäre ihnen vergangen. (S. 212)

Wenn zwei sich streiten, …

… freut sich der Dritte und vor allem kommt es zu Verwirrungen. Über Klassen zu reden, ist wahrlich nicht in Mode in ideologiekritischen Kreisen – teils oder sogar meist aus guten Gründen. Helms hingegen versucht sich an einer Einordnung der Mittelklasse aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess und im Klassenkampf, um von zwei anderen Begriff wegzukommen, welche sehr viel geläufiger sind: Mittelstand verweist auf einen angeblich vorkapitalistischen, ständischen Charakter; Mittelschicht hingegen ist eher die statistische Einordnung in Einkommensklassen. Die angelsächsische Unterteilung in blue collar und white collar ist auch nur eine sehr äußere Betrachtung, die beispielsweise im ersten Fall Industriearbeiter und Handwerker ziemlich kontrafaktisch in eine Kategorie packt, und nur die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit markiert. Wie der Begriff des Bürgers im Sinne des Bourgeois oft überstrapaziert wird, verhält es sich auch mit dem des Proletariers, Lohnarbeiters – und somit natürlich auch mit dem Kleinbürger bzw. Mittelständler. Im Marxschen Manifest heißt es noch: Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab. (36)

Kleinbürger sind in der älteren Theorie vor allem diejenigen Leute, die mit den Proletariern gemein haben, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen, mit dem Bourgeois hingegen auf einem sehr geringen Niveau den Besitz an Produktionsmitteln. Die Kleinbauern und Handwerker sind die nur formell subsumierten Berufe. Marx nennt diesen Kleinbürger lebendigen Widerspruch sowie zusammengesetzt aus Einerseits und Andererseits, ihm bleibt nur noch ein treibendes Motiv, die Eitelkeit des Subjekts. (37) Er bildet eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen [und] dünkt sich über den Klassengegensatz überhaupt erhaben. (38) Dabei haben die Verfasser des Manifest die Bedeutung des Kleinbürgertums schon erstaunlich scharf erfasst: In Deutschland bildet das vom 16. Jahrhundert her überlieferte und seit der Zeit in verschiedener Form hier immer neu wieder auftauchende Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände. Helms setzte (sich) die Aufgabe, die heutige Form dieses immer wieder neu auftauchenden Kleinbürgertums, nämlich nach wie vor die Grundlage der bestehenden Zustände, auf der Höhe der Zeit zu bestimmen.

Kleinbürger ist ein sehr neuer Begriff wie der des Angestellten auch – vor allem war dieser letzte Begriff in seinen Anfängen nicht vom Beamten geschieden. Bei Marx hingegen gelten manche Angestelltengruppen noch als kommerzielle Arbeiter etc. Auf diese Angestellten richtete Kracauer 1930 erstmals einen konzentrierten Blick und betrachtet dabei vor allem Privatangestellte in Handel, bei Banken und im Verkehr, vermerkt jedoch ferner auch ein starkes Ansteigen der Industrieangestellten sowie jener in Behörden, Organisationen usw. (39) Er ist der Erste, der in dieser Zunahme einen dialektischen Umschlag der Quantität in die Qualität registriert – oder inhaltlich ausgedrückt: die Qualität ist in die Quantität umgeschlagen, was sich vor allem in der Rationalisierungsperiode 1925 bis 1929 realisiert habe. (40) Aus den Marxschen industriellen Offizieren und Unteroffizieren sei nun ein stattliches Heer geworden. (41) Kracauer schreibt weiter: Die Proletarisierung der Angestellten ist nicht zu bestreiten. Und schränkt das kategorische Urteil im folgenden Satz sofort ein: Jedenfalls [!] gelten für breite, im Angestelltenverhältnis befindliche Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat. [Diese] nötigen sie dazu, sich mindestens in ökonomischer Hinsicht als Arbeitnehmer zu fühlen [!]. (42) Die Schwammigkeit dieser Aussage, welche sich mehr auf subjektives Empfinden als objektiv Bestimmungen bezieht, ist selbst Ausdruck der Wahrheit, nämlich der Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose. (43) Ökonomisch seien sie schon Proletarier, ideologisch noch Bourgeois – genau aus dieser Schizophrenie entspringt der dritte Weg des modernen Mittelstandes.

Wichtig in Anbetracht der Marxschen Detaildifferenzierungen, vor allem im zweiten und dritten Band des Kapitals, ist die Prognose, dass die Grenze zwischen dem Beamten und dem Privatangestellten immer schwerer festzulegen ist, da sich beide massiv annähern. (44) Bei Marx ist das Kleinbürgertum noch primär durch Restselbstständigkeit geprägt. Eben auf diese Form des Kleinbürgertums bezieht sich Franz Neumann, wenn er schreibt: Die Mittelschichten haben aufgehört als eine Klasse zu existieren, aus der sich eine demokratische Gesellschaft wieder aufbauen lässt. (45) Das demokratische, progressive Potenzial dieser Klasse sah also auch Neumann in dem letzten Funken Eigenständigkeit, wobei beides unrettbar verloren wäre. Der Fokus sei deshalb insbesondere auf die nichtakademischen Beamten […] des mittleren und gehobenen Dienstes zu richten, denn viele Naziführer stammen aus dieser Schicht. Die große Masse der Beamten ist kaum von gewöhnlichen Angestellten zu unterscheiden. Ein Drittel Jahrhundert später geht Helms nun davon aus, dass die Proletarisierung der Angestellten/Mittelklasse in Bezug auf die Stellung im Produktionsprozess und im Klassenkampf nicht stattgefunden habe. Im Zuge der Anonymisierung der Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalten (S. 1) und der Arbeitsteilung von Kapitalbesitz und Kapitalkontrolle (S. 2) übernehmen sie vielmehr die Kontrolle: Heute ist die Mittelklasse in Stellvertretung herrschende Klasse. (S. 2) Sie sind Charaktermasken, die weder Arbeit (im industriellen, oder gar produktiven Sinne) noch Kapital verkörpern, sondern das gesamte Feld der Dienstleistungen. Dabei kommen ihnen heutzutage vor allem die Aufgaben des Verkehrs und der Kommunikation (S. 54) und insbesondere die Kommunikation zwischen Proletariat und Eigentümern (S. 54) zu. Ihre gesamte Tätigkeit trägt somit den Charakter von Klassenkitt. Und damit sind sie es, die die heutige klassenlose Gesellschaft in ihren Kreisen vorweggenommen haben. (S. 56)

Helms ist keineswegs Klassenfetischist. Dass er selbst es mit seiner Begriffsbestimmung nicht ganz ernstnimmt, also gegen seine eigenen einleitenden Unterscheidungen beständig von Mittelstand schreibt, deutet dies schon an. Konträr zu allen scheinbaren Machtposition steht ihm immer die Machtlosigkeit der Einzelnen. Mit Blick auf die Eigentümer galt schon, dass Eigentum an Produktionsmitteln nicht stillschweigend mehr gleichgesetzt werden kann mit Produktionskontrolle und Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und Produktivkräfte. (S. 66) Aber auch die Angestellten sind keineswegs die neuen Herren. Vielmehr herrschen ihre Kontroll-, Vermittlungs-, und Verfügungs-, also kommunikativen Funktionen, die ausgeübt werden, ohne dass die Funktionäre der Verfügungsgewalt real inne wären. [Diese] gehört den Institutionen an, nicht deren Verwesern. (S. 63) Der Mittelstand verfügt durch die rein funktionellen Institutionen über das administrativ koordinierte Kollektiv lebendiger Quantitäten, (S. 158) und genau solche quantitative Existenz ist anonyme Existenz. (S. 165) Diese statistische Anonymität verdeutlicht sich am krassesten im Aktenzeichen, zu dem alle degradiert werden, letztlich auch der Verwalter selbst in seiner eigenen Personalakte. Der Mittelstand steht zwischen Kapital und dem möglichen Streik. Er hat nur seine Ideologie. (S. 69)

Wichtiger also als eine objektive Stellung im Klassenkampf ist in Helms Betrachtung die Anfälligkeit für Ideologie. Diese fungiert als primäres Instrument des zum Interessenkampf verluderten Klassenkampf. (S. 235) Es geht also vor allem um jene Angestellte, die gerade deshalb niemals streiken würden, weil dann andere merken könnten, dass ihre Arbeit völlig überflüssig ist und von niemandem vermisst wird. In ihrer Naivität sind Studenten (meist irgendwelcher Geisteswissenschaften) vielleicht noch die Einzigen, die das immer mal wieder ignorieren. Wahrscheinlich ahnen sie schon, dass sie es später nicht mehr können werden. Eventuell ließe sich die Ideologieanfälligkeit der von Helms beschriebenen Mittelständler tatsächlich nach ihrer Streikfähigkeit und -willigkeit zumindest graduell unterscheiden. In diesem Sinne wäre das Transportgewerbe, in dem Lockführer, Fluglotsen, und selbst Kindergärtner – weniger als Bildungseinrichtung, sondern eher in ihrer Funktion als Bewahranstalt – relativ verschont. (46)

In der staatlichen Verwaltung, die subjektiv als Gängelei auch kaum vermisst werden würde, oder nur von jenen, die eh am untersten Rand der Gesellschaft vor sich hinvegetieren, sieht es schon etwas anders aus. Zumal eine Tätigkeit direkt in der Elendsverwaltung allzu deutlich und täglich vor Augen führt, was man scheinbar für ein Glück hat, dass man auf der anderen Seite vom Schreibtisch sitzt. Am Schlimmsten betroffen sind aber jene aus dem weiten Bereich der Kommunikation, die am stärksten an ihrer eigenen, von ihnen immer wieder selbst mit produzierten Ideologie hängen, wie vormals nur der Bauer an seiner Scholle. (47) Im Gegensatz zu diesem zeichnen sie sich aber viel eher durch Freiwilligkeit statt durch autoritären Gehorsam aus. Dies meint neben heutigen Medienschaffenden insbesondere Beamte oder Angestellte der mittleren oder gehobenen Laufbahn im Dienst des Staats, der öffentlichen und halb-öffentlichen Institutionen und [Teilen] der Industrie (S. 233). Besonders in dieser Gruppe vollzieht sich die Verwandlung der Sachverhalte in Sprachverhalte (S. 223) als Produktion der Ideologie. In einer recht positiven Besprechung des Werkes in der ZEIT hieß es:

Allerdings schillert Helms’ Mittelstandsbegriff etwas, [so] werden die Mittelständler pauschal mit den Funktionären, den Verwesern der Verfügungsgewalt gleichgesetzt. Den Thesen schließlich, daß die Mittelklasse noch nie so mächtig war wie heute, daß sie in Stellvertretung der wirklichen Eigentümer die herrschende Klasse in allen modernen Industriestaaten und ihr Herrschaftssystem das der anonymen, statistisch kontrollierten Ordnung ist, könnte man nur dann vorbehaltlos zustimmen, wenn auch auch das industrielle top management dem Mittelstand zuschlagen ließe. Dazu werden freilich nicht allzu viele Soziologen bereit sein. (48)

Wie sie zu einer Kritik der Gesellschaft ja auch nicht bereit oder fähig sind und wie ein Zeitautor und Professor, dessen Habilitationsschrift den Titel trägt: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, der sich also selbst meint mit den Soziologen, nicht einsehen möchte, dass er mit einem Manager eventuell mehr gemein hat als ihm lieb ist. Für Leute wie eben diesen Professor, ein akademischer Grad, der heutzutage oftmals nicht viel mehr als Wissensmanager ist, scheint Stirner sympathisch zu sein, da man sich mit ihm, der gegen Proletariat und Bürgertum agierte, von jedem Standpunkt enthoben fühlen kann.

Helms versucht im Folgenden, den Charaktertypus des Kleinbürgers und Mittelklässlers (insbesondere in den 50er und 60er Jahren) zu skizzieren. Ausgehend von dem Postulat, dass für den neuen Mittelstand Vermassung etwas anderes als für das Proletariat (S. 111) darstellt, sieht Helms in eben dieser Vermassung, die sich in Verwaltungspaläste in Form der Wolkenkratzer manifestiert und in der Konkurrenz durch Bürogeräte (Vgl. S. 329ff.), die die Konkurrenz unter den Mittelständlern enorm verschärfte, Grundmotive des neuen kleinbürgerlichen Charaktertypus. Dieser hat vor allem seine private Philosophie, denn mit ihr schützt er sich vor Erfahrung und Vernunft, die ihm bewiesen, dass seine Ohnmacht Ohnmacht ist. (S. 191ff.) Es ist fast immer eine Form der Lebensphilosophie – eine Vertauschung gesellschaftlicher Fakten mit subjektiven Gefühlen. (S. 377) Dabei ist er überaus flexibel und übersetzt mit Leichtigkeit die veralteten Vokabeln in den aktuellen Jargon. (S. 214) Heute braucht er es gar nicht mehr selbst, sondern hat weite Teile der Geisteswissenschaften, die ihm diese Arbeit mittlerweile gerne abnehmen. Der Mittelstand ist in der Regel halb- bis dreiviertelaufgeklärt oder -gebildet, aber diese Unterscheidung ist auch schon quantitativ und lässt sich durch eine Evaluation der Berechtigungsnachweise und Pseudoqualifikationen überprüfen oder in der Freizeit beim Schauen von Wer wird Millionär?. Der schon von Stirner stark gemachte imaginäre Zusammenhang des Vermögens, Fragen zu beantworten mit potenziellem monetären Vermögen wird redlich bedient. Mit Monopoly und Spielgeld darf man sich sogar für kurze Momente als echter Eigentümer fühlen. Es ist eine Bewusstseinsstruktur, die zwischen Vorfreude als schönster Freude, die im Mittelstand kein Zustand der Weihnachtszeit, keine Freude im Advent, sondern ein permanenter Zustand ist, auf der einen Seite und Mensch-ärger-dich-nicht auf der anderen schwankt.

Dabei ist solche repressive Ambivalenz den objektiven Bedingungen des Kleineigentümers durchaus adäquat. Sein Eigentum an Konsumgütern (S. 241) kann nie recht übertünchen, dass er eben keines an Produktionsmitteln besitzt bzw. trotz ein paar Telekomaktien keinerlei Einfluss auf das Treiben dieses Ladens ausübt. Sein Reich ist sein Wohnzimmer – von Helms völlig richtig beschrieben als eine Mischung aus großbürgerlichem Salon und dem Allzweckgemach der Eigentumslosen. (S. 247ff.) In Konsequenz ist das Eigenheim [nur] das selbstständig gewordene Wohnzimmer (S. 267). Es ist dabei eben so wenig Grundeigentum wie das Wohnzimmer Salon. Dass sich in diesen Wohnzimmern nicht wohnen lässt, beweist das massive Bedürfnis nach Urlaub und Tapetenwechsel. Die Ferien vom Ich sind eher Ferien vom Über-Ich, zu dem das Wohnzimmer wurde, indem es mit Autorität ausgestattet wurde – besonders wichtig die literarischen Klassiker, während die Bücher, welche man wirklich liest, im intimen Schlafzimmer liegen. Will man sich aller Lumpen endledigen, wie es Stirner fordert, steht die Freikörperkultur zur Verfügung. All dies ist eine individuelle, auf Kleineigentum bauende, Schein-Souveränität, die die reelle Machtlosigkeit übertüncht, wie die ostentative Verachtung für Materielles, das man nicht hat, den Neid. Mitreden-Können sowie Bescheid- und Besserwissen erhielt in der Weimarer Republik zunehmend eine enorme Bedeutung, als in nicht gekanntem Maße Stellen nach Parteibuch vergeben wurden: Politische Überzeugungen wurden hauptsächliches Tauschobjekt mittelständischen Feilschens. (S. 433) Zu ergänzen wäre dies um die spätere Verschiebung vom Parteibuch hin zur Gesinnung, die irgendwie im gesamten Lebenslauf aufscheinen muss, also mehr Beweise der Haltung erfordert als nur eine Mitgliedschaft. Die Kritik an Stirners Ideologie hätte aus dem Mittelstand kommen müssen, doch dort ist sie jauchzend aufgenommen worden. (S. 229) Was sich liest wie die Forderung nach einem Klassenbewusstsein im revolutionären Sinne oder Standpunktdenken, ist nur die Erkenntnis, dass der Mittelstand seine Stellung hätte reflektieren müssen, um nicht penetrant antirevolutionär oder/und deutschrevolutionär zu agieren, wie er es schließlich tat. Helms suchte die wichtigen Akteure der Verbreitung der Ideologie vor allem auch in der SPD und den Gewerkschaften mit ihrer Politik der kleinen Forderungen und winzigen Lohnerhöhungen (S.362), denn ohne Kollaboration dieser beiden Massenrackets hätte die kleinbürgerliche Ideologie niemals eine solch immense Wirkung aufweisen können.

Empörung als Gehalt(svorschuss) der Überflüssigen

Zu erweitern wäre dies für die heutige Zeit um all jene Personen und Gruppierungen, die sich der Habermasianischen Zivilgesellschaft verschrieben haben. Dass man in so gut wie keiner Stellenausschreibung in diesem Bereich mehr etwas von angemessener oder gar guter Entlohnung liest, so sehr dies natürlich auch eine dreiste Lüge sondergleichen ist, sondern nur noch von Selbstverwirklichungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und einem freundlichen Arbeitsumfeld oder gleich mit Naturalien wie dem täglich frischen Obstkorb geworben wird, ist energischer Ausdruck dieser durch und durch ideologischen Arbeitswelt. Gerade dort ist die latente Angst vor dem Abrutschen am größten, in der sich die uneingestandene Befürchtung ausdrückt, die Verwaltung sei zu einem beträchtlichen Teil ein Luxus von Kapital und Herrschaft und sachlich unnötig, ja überflüssig; in allgemeinen Krisenzeiten sei sie das erste, was den als Rationalisierung getarnten Sparmaßnahmen geopfert werde. (S. 433)

Übertünchen lässt sich diese Ahnung nur mit maßlosem Engagement, Public Relations und den Warnungen vor der Katastrophe, welche angeblich eintreten würde, wann dieses Engagement nicht mehr finanziert werden würde. (49) Helms beschrieb die ideologischen Aussagen und Botschaften der Schrift(en) Stirners als Hohlformen, die sich rasch von ihrem Herkunftsort abgelöst hatten und neue Verbindungen eingegangen waren. (S. 400) Eben diese völlige Fungibilität der Inhalte ist das Gefährliche dieses sonst völlig absurden Schreiberlings. Im neusten Deutschland (vor allem Jahr 2001ff) (50) wirkt die Ideologie vor allem bei den Flexiblen, heißt Progressiven oder Linken, denn der hauptsächliche Unterschied zwischen Linken und Rechten besteht mittlerweile vor allem darin, dass Linke kreativer darin sind, neue Programme, heißt Jobs für sich selbst, zu schaffen. Die Forderung nach lebenslangem Lernen ist immer auch eine nach lebenslangem Lehren und nirgendwo dürfte die Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen ähnlich groß sein wie im reformpädagogisch, kreativwirtschaftenden Mittelstand, da man hier am ehesten ahnt, dass man etwas Ähnliches schon erhält – nämlich grundloses Einkommen. (51)

Auch die Grünen Parteien waren und sind vor allem eine riesige Arbeitsbeschaffungsinitiative und -maßnahme. Lohnenswerte Bereiche sind vor allem Umweltschutz, Bioläden, Veganismus, Antirassismus und insbesondere die Flüchtlingshilfe, in der unzählige neue Jobs entstanden, während gerade Schwarzarbeiter mit einer größeren Konkurrenz zu rechnen haben. Auch Antisemitismus gilt nur als Geschäftsmöglichkeit für Antideutsche und sonstige Reflektierte inklusive pädagogischer, geschichtsträchtiger Kaffeefahrten nach Buchenwald und der Gleichsetzung von Islamkritik mit Antisemitismus zum Zwecke der Aktualisierung. (52) Eine der Standardbewerbungsphrasen lautet, Probleme seien für jemanden Chancen, was nichts anderes heißt, als dass Leid Anderer schlichtweg eigene neue Berufsmöglichkeiten bietet, nur klingt es besser. Diese Charakterbeschädigung als Prostitution des Mitleids zu bezeichnen, ist – wie die balzacsche oder kraussche Bezeichnung der Prostitution des Geistes für den Journalismus – strenggenommen eine unzulässige Beleidigung für jede Prostituierte, denn diese weiß nur zu gut, dass die Liebe, die sie verkauft, nur Erscheinung ihrer Arbeitskraft ist.

Was letztlich vom Einzigen übrig bleibt, ist nur die von Stirner in Buchform vorgezeichnete Bewusstseinsstruktur des Mittelstandes […], die konstante Bereitschaft zur Empörung. […] Die permanente Revolution aus der Mitte ist die statistisch gebündelte und straff organisierte Empörung der einzelnen Mittelständler. (S. 176f.) Dabei ist es Stirner selbst äußerst wichtig gewesen, dass die Leser ja nicht Revolution und Empörung verwechseln:

Revolution und Empörung dürfen nicht für gleichbedeutend angesehen werden. Jene besteht in einer Umwälzung der Zustände, des bestehenden Zustandes oder status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische oder soziale Tat; diese hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidlichen Folge, geht aber nicht von ihr, sondern von der Unzufriedenheit der Menschen mit sich aus, ist nicht eine Schilderhebung, sondern eine Erhebung der Einzelnen, ein Emporkommen, ohne Rücksicht auf die Einrichtungen, welche daraus entspriessen. Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen, die Empörung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern Uns selbst einzurichten, und setzt auf »Institutionen« keine glänzende Hoffnung. Sie ist kein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht, das Bestehende von selbst zusammenstürzt, sie ist nur ein Herausarbeiten Meiner aus dem Bestehenden. (53)

Somit ist der Akt der Empörung Selbsttherapie und Aufstiegssehnsucht in einem. Empörung ist eine Untertanentugend [und] Stirner lehrte die Einzigen, sich zu empören, heißt es bei Helms. (S. 21) Laut Marx ist die Empörung schlicht die Aufkündigung des Respekts gegen das Heilige. (54) Sie ist also scheinbar sündhafter Trotz, der sich in sich selbst gefällt, und damit ein gutes Stück weit entfernt, von dem absoluten Gehorsam, welcher oftmals irrtümlich als Grundtugend des Kleinbürgers gesehen wird. Psychoanalytisch wäre Stirner der Philosoph des schwachen Ichs, der gegen das nie recht internalisierte Über-Ich pöbelt und sein kaum vorhandenes Ich diskursiv (55) oder auch tätlich erhöhen muss:

Da nun nicht der Umsturz eines Bestehenden mein Zweck ist, sondern meine Erhebung darüber, so ist meine Absicht und Tat keine politische oder soziale, sondern, als allein auf Mich und meine Eigenheit gerichtet, eine egoistische. Einrichtungen zu machen gebietet die Revolution, sich auf- oder emporzurichten heischt die Empörung.

Die Empörung ist also permanent vorrevolutionär, darin der verewigten Vorlust der Vorfreude sehr ähnlich, und sich dabei noch radikal gebärend. (56) In einer Fußnote geht der große Empörer jedoch lieber auf Nummer sicher:

Um Mich gegen eine Kriminalklage zu sichern, bemerke Ich zum Überfluss ausdrücklich, dass Ich das Wort Empörung wegen seines etymologischen Sinnes wähle, also nicht in dem beschränkten Sinne gebrauche, welcher vom Strafgesetzbuche verpönt ist.

Empörung war im Strafgesetzbuch ein Aufruhr. Der Aufruf zu diesem hätte ihm die Verfolgung einbringen können, welche seine Anhänger immer wieder als reelle versucht haben anzuführen, die es aber faktisch nie gab. Geistiger Taschenspieler, der er nun einmal auf ganzer Linie ist, verrät er natürlich nicht, welcher diese etymologische Sinn denn nun sein möge. In anderen Fällen seiner (Privat-)Etymologie, wie sie später Heidegger noch mehr in den Fokus rücken wird, ist Stirner etwas offener: heimlich gerinnt ihm über heimisch zu eigenem sowie das Heilige über unantastbar zum Fremden. Gegenüber stehen sich dann beispielsweise Eigentum und Fremdentum. (57) Da er den Aufstand schon aus justiziablen Gründen nicht meinen darf – und doch auf seine verquere, heißt individuelle und untergründige Weise meint –, geht es also um das Wörtchen empor, d.h. hinauf und aufwärts will der Einzige. (58)

Dies ist in sehr vulgärer Form nur einer der drei Teile der hegelschen Aufhebung aus verneinen, bewahren, auf eine höhere Stufe heben (tollere, conservare, elevare) bzw. geht dem eine abstrakte, unbestimmte Negation alles Abstrakten voran. Eben dadurch jedoch wird er zum unreflektiertesten Konservator, in den Worten von Marx: Revolution = Umsturz des Bestehenden, Empörung = Bestehen des Umsturzes. (59) Zum Zwecke des Aufstiegs wäre hinzufügen. Der Aufstieg in Permanenz ist selbst das Ziel, Transzendentes und Versöhnung hingegen das erklärte Feindobjekt. Der Einzige namens Stirner will hinauf zur Empore. Die späteren Wolkenkratzer wären tatsächlich die perfekte Verdinglichung seines Vereins gewesen, sofern er nur oben stünde. Nicht ohne Grund war es der biblische Nimrod – der sich Empörende und der Erste, der Macht gewann auf Erden. (1.Mose 10,8), welcher den Turmbau zu Babel befahl. Der jetzige Mensch mit seinen Bedürfnissen sei das Maß der Empörung, denn schließlich sei er schon gottesgleich. Der natürlichen Furcht zum Gegenpart baut Stirner die ganz und gar künstliche Ehrfurcht auf.

Hier wird nicht bloss gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt, und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glaubens daran, Ich glaube. […] Der Mensch ist nun nicht mehr schaffend, sondern lernend (wissend, forschend usw.), d.h. beschäftigt mit einem festen Gegenstande, sich vertiefend in ihn, ohne Rückkehr zu sich selber. Das Verhältnis zu diesem Gegenstande ist das des Wissens, des Ergründens und Begründens usw., nicht das des Auflösens (Abschaffens usw.). (60)

Was Stirner hier als Ehrfurcht beschreibt ist nur die Erhöhung und Verallgemeinerung der individuellen Beschränkung des eigenen Intellekts, der nicht willens ist beispielsweise auch nur irgendeine Sachautorität anzuerkennen – was Voraussetzung wäre, um von ihr zu lernen und sie eventuell irgendwann zu überschreiten. (61) Es ist somit kein Wunder, dass Stirner und sein Einziger zum (teils ungewussten) Vorbild aller plumpen Antiautoritären avancierte – die zuerst den Bullen in ihrem Kopf töten mussten, bevor sie begannen, auf echte zu schießen. Dabei ist seine Konzeption der Ehrfurcht Ausdruck seiner eigenen Borderlinephilosophie, die beständig zwischen Idealisierung und Verachtung schwankt, da erstere jedoch den Einzigen in die Schranken weisen könnte, sich sehr verlässlich immer für die Verachtung alles als Heilig erhöhten entscheidet. Schaffend gerinnt ihm automatisch zu abschaffend, und dies offenbart seine Empörung als individuellen und dauerhaften Weltenbrand, der in der Zerstörung eher psychohygienische Funktion erfüllt.

Die Feuerbachthese im Sinne Stirners lautete dann: Es kommt nicht darauf die Welt zu verstehen, um sie zu ändern, es kommt darauf an, sie zugrunde zu richten, ohne dabei einen Gedanken an sie zu verlieren, der dem Ich in seiner Beschränktheit unangenehm sein könnte. Von dem frühautonomen Ich als Maß ausgehend, kann auch der Staat nur Beschränkung der Enthemmung sein und steht schlichtweg im Wege. Der sich daraus speisende Hass auf den Staat hat Stirner für zahlreiche Beschränkte wahnsinnig attraktiv erscheinen lassen. Der bürgerliche Staat ist jedoch gegen jede Kritik zu verteidigen, deren Motiv dem Folgenden ähnelt:

Der Staat lässt nicht zu, dass mal Mann an Mann aneinander gerate; er widersetzt sich dem Zweikampf. Selbst jede Prügelei, zu der doch keiner der Kämpfenden die Polizei ruft, wird gestraft, es sei denn, dass nicht ein Ich auf ein Du losprügele, sondern etwa ein Familienhaupt auf das Kind: die Familie ist berechtigt, und in ihrem Namen der Vater, Ich als Einziger bin es nicht. (62)

Es geht ihm also keineswegs darum, häusliche Gewalt zu verbieten, sondern sie zu verallgemeinern. Von seiner unterstellt konsensualen Rauferei kommt er über das mit Sicherheit ohne Einstimmung verprügelte Kind wieder zurück zu sich und seinem Recht auf Gewalt gegen alles und jeden, die Gewalt über Leben und Tod. (63) Dass es ihm um einen sportlichen Boxkampf nach Reglement, wie es zeitgleich zu seiner Schrift in England eingeführt wurde, gegangen ist, darf wohl getrost verneint werden. Es geht ihm um den Straßenkampf, der Eigentum und Beute einbringt. Doch selbst wenn, würde es nur seinen beschränkten deutschen Blick beweisen, da hier der Boxsport bis lange nach seinem Tod verboten war. Insbesondere auch seine Empörung über Duellverbote (64) zeigt, dass sein Verein vielmehr eine auf die Straße getragene Nachbildung der schlagenden Verbindung ist.

Damit dürfte auch geklärt sein, wie der Einzige emporzukommen gedachte, falls sein infantiles Schreien nicht mehr genügt. (65) Wenn Marx schreibt, dass für Stirner der Staat, der natürlich in Preußen und in Nordamerika derselbe ist, abgeschafft werden muß (66), stimmt dies nur bedingt, denn mit der Staat hingegen ist immer der preußische Staat gemeint, den er anderen, welche er nicht Staaten nennt, sondern als Regionen beschreibt, durch allerlei Faktendreherei gegenüberstellt. (67) Weiter als sein begrenztes Umfeld reicht sein Blick in dem meisten Fällen schlichtweg nicht. Erst die an Stirner erlernte Staatsfeindschaft… (S. 45) führte den Mittelstand in die Bewegung und die beiden deutschen Generalempörungen, die immer masochistisch waren. Statt Gehorsam ist die deutsche Tugend vielmehr Empörung aus Unterwürfigkeit oder Unterwerfung, die mit einem enormen Strafverlangen und -bedürfnis einhergeht. Dieser Masochismus ist Ausdruck der Subjektsehnsucht, während der Sadismus de Sades – mit dem Stirner oftmals in eine Linie gestellt wird (68), vielmehr für den Vorrang des Objekts einsteht. Im literarischen Masochismus (Sacher-Masoch) regelt der Vertrag das Prügeln und Misshandeln, man sichert sich ab, während der belletristische Sadismus zumindest offen artikuliert, dass es ihm um das Verbrechen als Kritik geht. De Sade schrieb gegen Voltaire und Rousseau gleichermaßen. Meist nur unter dem Aspekt der Verletzung des Sittlichen – in Stirners Worten des Heiligen – betrachtet, galt ihm viel mehr: Das einzige wirkliche Verbrechen wäre es, die Natur zu beleidigen. Dabei wusste er von der Unmöglichkeit dessen und nannte es die schlimmste Qual des Menschen. Die stirnersche Empörung ist verletzter Stolz, während de Sade den Stolz selbst angreift.

Helms historische Betrachtung bricht um 1957 mit einer kurzen Betrachtung des Existentialismus ab, er nimmt sie jedoch in seinem späteren Essayband Fetisch Revolution im Jahre 1969 wieder auf. Ernst wie es ihm war, gab er 1968 vorerst die gesammelten Schriften Stirners heraus, die entgegen gewissen Kritiken gerade in ihrer tendenziösen Kürzung das Wesen dieser Philosophie sehr gut erfasst, und mit einem ausführlichen Nachwort versehen waren. Makabererweise hatte er jedoch mit dieser Veröffentlichung zumindest Anteil an einer neuen Stirner-Welle, gegen die er sich mit Fetisch Revolution sofort wendete, in welchem er eine der frühsten Kritiken der Studentenbewegung verfasste – jener dritten, nicht mehr nur in Deutschland stattfindenden, aber in weiten Teilen trotzdem sehr deutschen Generalempörung, die nun als große Verweigerung (Marcuse) auf den Plan trat. Ein SDS-Sprecher durfte damals im Spiegel antworten: Eine Kritik, die sich vor dem Engagement hütet, kann selbst wieder zur Bekämpfung sozialistischer Bestrebungen genutzt werden. Unter der Hand gerinnt sie dem Spätliberalen zur Rechtfertigungsideologie der bestehenden Gesellschaft. (69) Spätestens hier ist die Empörung also im Engagement aufgegangen. Helms hatte sich die Frage gestellt, ob die Linksradikalen überhaupt zur Reflexion ihrer gesellschaftlichen Lage und somit zum Übergang auf politisch relevante Positionen fähig sind oder ob sie in einer politisch irrelevanten Protesthaltung erstarren werden, die graduell privatisiert werden kann und zur Adaption an die bestehende Klassenherrschaft führen muss. (70) In eben jener besprochenen Schrift hat der Spätliberale noch einmal gezeigt, dass die fehlende Staatskritik der Kritischen Theorie kein blinder Fleck ist, sondern dass vielmehr in Zeiten, in denen es keinerlei Anzeichen einer revolutionären Stimmung gäbe, Studenten aber versuchten, die kritische Theorie in politische Aktion umzusetzen, der neue Linksradikalismus den wirklichen Klassenfeind, die Bourgeoisie, [nur] durch den Ersatzklassenfeind Staat sublimierte. (71)

Übersetzt heißt dies: die Ersetzung der Kritik der politischen Ökonomie durch Raufereien mit dem Staat ist ideologischer Ausdruck dessen, dass die Kritiker selbst ihre berufliche Zukunft schon nur noch beim Staat bzw. in angeschlossenen Stiftungen und Instituten sehen, aber ahnen, dass dieser nicht länger die Mittel aufbringen könnte, um sie zu finanzieren. Er zeigte, dass der Anti-Etatismus der neuen Linken nicht die notwendige Kritik des rechten und altlinken Etatismus war. Viel eher wäre es wohl angebracht von einer notwendig enttäuschten Erwartungshaltung zu sprechen, die sich schließlich auch an den USA und vor allem Israel noch einmal wiederholte, nachdem einige Zeit auf die amerikanische Kulturindustrie und die israelische Kibuzzim-Bewegung alle Hoffnung projiziert worden waren. Und eben dies führt zum heiligen Max von Marx und Engels, die schon gegen Stirner einwandten, dass er sich aber an den Staat als einen Arbeitgeber wendet und Besoldung, d.h. Arbeitslohn verlangt. (72) Zumindest ein Hauptanlass der studentischen Proteste war ein erstes kurzes Stocken des Wirtschaftswunders in Form einer kleinen Rezession inklusive Bildungsnotstand. (73) Alles begann also schon als verkappter Interessenkampf und erfolgreich erpresst haben sie den Staat letztlich vor allem um das Bafög – eine wenigstens damals noch 100%ige Beute, auf die man nun sogar einen Rechtsanspruch hatte. (74)

Nach Marx erklärt sich sowohl das anderwärts nie vorkommende redliche Beamtenbewusstsein wie die sämtlichen in Deutschland kursierenden Illusionen über den Staat (MEW 3, 178) aus der spezifischen historischen Situation, einer Übergangsstufe – in Deutschland bis heute, in der die Verwaltung und mit ihr der Staat eine eine abnorme Unabhängigkeit erhielt. Uli Krug hat auf eine fehlgeleitete Bedingung von Marx’ Revolutionstheorie wie der gesamten Philo­sophiekritik hingewiesen – nämlich die Vorstellung, dass niemand sich ernsthaft daranmachen könnte, diese Illusionen über den Staat in ein tatsächlich staatliches Programm umzusetzen – was aber bekanntlich geschehen sollte (75) und zwar in Deutschland. Die Kritik des Anti-Etatismus beruht deshalb auch darauf, dass dieser eben selbst durch und durch etatistisch, deutsch-sozialistisch ist. Steinewerfer, die sich recht rasch mit Ministerposten abspeisen ließen wie Joschka Fischer, sind nur allzu deutliches Symptom dessen, was sich in den letzten 50 Jahren seit 1968 immer wieder vollzogen hat. Das neuste, diesmal politisch korrekte Deutsche Reich namens Europäische Union hat Stirner schon affirmativ vorgezeichnet mit seinem Entwurf des deutschen Föderativkörpers (S. 177ff). Deutschland, da in der Mitte Europas liegend, sei der Mittler, südeuropäische Länder hingegen als Protektorate anzugliedern, und über die Randvölker hegemonial zu verfügen, wobei Russland ausgeschlossen wird: Ist Europa ins deutsche Mutterreich zurückgekehrt, werde es ein gedeihliches urdeutsches Erwerbsleben geben. (S. 179) (76)

Deutschland ist in diesem Sinne wirklich der Einzige Stirners in Staatsform. So stört es hierzulande niemanden auf Kosten der US-Verschuldung zu leben und Schulden abzubauen. Germany first, aber subtil ist seit Jahren Staatsräson der BRD (77) und die Wahl Trumps ist deshalb die – zugegebener Weise recht unappetitliche – Kritik der, von Stirner in seiner Schrift Die Deutschen im Osten Deutschlands angedeuteten, globalisierten deutschen Ideologie Das deutsche Volk ist ein universales Volk. Zum Empörungsgrund wird die Schuldenbremse erst, wenn die Sparmaßnahmen an den eigenen Aufstiegsmöglichkeiten im Staat rütteln bzw. der Staat seiner auf ihn projizierten Mutterrolle nicht mehr nachkommt. (78) Dass die vehementesten Staatskritiker zumindest vermittelt für den Staat arbeiten, und/oder die Kirchenkritiker für die Diakonie wird erst richtig zur Farce, wenn sie selbst nicht wahrhaben können, in was für einer schizophrenen Situation sie sich befinden. Wobei diese Farce nicht wirklich lustig ist, denn die (linke) Staatsfeindschaft meint die Auflösung des Staates in Vereine/Stiftungen/Programme, also Rackets der öffentlichen Hand. Staatskritik ist Arbeitskampf, als Interessenkampf innerhalb einer Klasse um die Jobs als Subunternehmer für den Staat. Die Ideologie und ihre Ausformungen sind dabei für diese Leute notwendig falsches Bewusstsein und Produktionsmittel in einem, was der Autor der Schrift Empört Euch!, ohne es zu wissen, sehr deutlich aussprach, als er die Berufsempörten und -empörer adressierte: Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen ein eigenes Empörungsmotiv. Denn das ist kostbar. (79) Stirner setzte die Empörung als Geschäftsmodell, das nur mit einer ideologischen Hohlform besetzt und vermarktet werden muss, damit man hinaufgelangt oder zumindest nicht hinabfällt zum Pöbel und Gesocks, über den/das man zu verfügen gedenkt.

Auch Helms arbeitete seit 1957 im weiteren Sinne für den Staat (80), nämlich beim WDR, nachdem er vorher schon für Militärsender in Wien und Salzburg tätig war. In einer Diskussionsrunde im WDR kam er 1971 noch einmal hautnah mit der Empörung eines typisch deutschen Mittelständlers in Berührung. Der als Vertretung für den erkrankten Rio Reiser in die Sendung geschickte Manager von Ton Steine Scherben (81) und vormalige Steuerberater Nikel Pallat, versuchte dort getreu dem Motto der Band Macht kaputt, was euch kaputt macht mit einem mitgebrachten Handbeil den Tisch zu zertrümmern, da man schließlich parteiisch sein müsse. Wäre er auch nur fähig gewesen, zuzuhören, hätten ihm die beiden Intellektuellen, einer davon Helms, erklären können, dass die Wahrheit von Kunst nicht in einer Botschaft liegt, und er auch keine Volksmusik macht, so sehr er sich das auch einzureden versucht, sondern schlicht Teil der Kulturindustrie ist. Von einem Arbeiter hätte er hingegen lernen können, wie man eine Axt benutzt oder, dass man sogar ein ganz anderes Werkzeug hätte verwenden müssen. Obwohl dieser ihn vermutlich völlig zu Recht gefragt hätte, wieso ein Tisch ihn denn kaputt mache. Letztlich war es auch ein kleinbürgerlicher Zuschauer, der die Reparaturkosten übernahm, damit Pallat keine Honorarkürzungen zu befürchten hatte. Die Begründung des für die Empörung zahlenden Apothekers lautete damals: Wir müssen lernen, Leute wie Pallat zu tolerieren. Empörung und die Forderung nach Toleranz haben sich seit eh und je wunderbar vertragen – sie sind zwei Seiten derselben Medaille.

Helms späteren ideologiekritischen Studien widmeten sich vor allen den Auswirkungen der neuen Produktivkräfte und der Automation. Dabei hat er, der sich immer sehr stark auf Feldforschung stützte, niemals eine dieser absurden Finalkrisentheorien entwickelt. (82) Er zog schließlich in die USA, nachdem der dilettierende Philosoph (83), wie man ihn im Spiegel damals noch schimpfte, von der Universität Bremen veranlasst wurde, seine beiden Schriften Die Ideologie der anonymen Gesellschaft und Fetisch Revolution einzureichen, für die er einen Doktorgrad erhielt. Auf eine Berufung verzichtete er, hatte später aber Gastprofessuren außerhalb von Deutschland inne. 1989 kehrte er nach Deutschland zurück. Helms ging es darum, das Grauen auf der Höhe der Zeit zu ergründen: Konsequent ist Stirner der erste Philosoph der Eigentlichkeit, die seither über Heidegger, Jaspers und den Existentialismus zum primitivsten, nichtssagenden Gemeinplatz der mittelständischen Ideologie geworden ist. (S. 95) Ein paar Worte zu einer weiteren Verlaufsform dieser Traditionslinie seien noch erlaubt, denn Hessel und seine Schrift Empört Euch! gingen bei Sartre in die Schule: Wenn etwas Sie empört, wie mich der Nazismus empörte, werden Sie militant, stark und engagiert. (84)

Zum Nachleben Stirners in der existenziellen Ideologiekritik

Als nuancierteste Vertreter der Sartre-Schule müssen wohl die ehemaligen Ideologiekritiker aus Wien mit Zweig- und Distributionsstelle in Freiburg gelten, die die absolute Freiheit, die Leibhaftigkeit, das angeblich um Politik gereinigte Engagement und zahlreiche weitere grundsätzliche Sonderheiten neuentdeckten, und seitdem gehörige akademische Lobbyarbeit in diese Richtung betreiben. In der Einleitung zum Sammelband gegen die Gegenaufklärung beispielsweise wird das Vorgehen folgendermaßen erläutert: Auszugehen ist dabei von Marx’ Replik auf Stirner (und Bauer und Feuerbach), fortzuschreiten über Adornos Heidegger-Kritik bis hin zur Bestimmung dessen, was heute als deutsch gelten muss. […] Es handelt sich nicht darum, willkürlich einen Zusammenhang herzustellen, der in Wahrheit gar nicht existiert. (85) Dies machen sie dann auch nicht, nur vergessen sie gemäß der neuen Doktrin einen, der in Wahrheit und Wirklichkeit existiert, denn die erste Welle des verkappten Stirnerianismus begann unmittelbar nach Kriegsende und kam aus Frankreich. (S. 495)

Gemeint sind jedoch nicht die zahlreichen Stränge von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion, sondern der Existenzialismus um Jean-Paul Sartre. Insbesondere Mario Rossi hat die Traditionslinie Stirner-Heidegger-Sartre aufgezeigt. (86) Aber auch Marcuse hat den Zusammenhang in seiner Existentialismus-Kritik von 1948/1950 beinahe zu greifen bekommen. Dort schreibt er über Sein und Nichts: Sartres Buch ist in weiten Teilen ein Rückgriff auf Hegels Phänomenologie des Geistes und Heideggers Sein und Zeit (87). Etwas später hat er, leider ohne es rückzubeziehen, genau das Mittelglied zwischen Hegel und Heidegger, bei welchem Sartre schließlich auch landen wird, zumindest erwähnt, denn Sartres Für-sich ist Stirners Der Einzige und sein Eigentum näher als dem Cogito Descartes. (88) Sartre, um dies schon einmal vorwegzunehmen, ist ein nur angeheideggerter Junghegelianer à la Stirner. Der Bezug auf Freiheit und/oder Einzigkeit sind nur Verlaufsformen, wie der Lebenslauf des Berliner Max Stirner zeigt, der zuerst Mitglied der Freien zum Stifter der Einzigen avancierte. Auch Sartre ging nach Berlin (1933-1934), ließ sich von der aktuellen Politik nicht weiter beeindrucken und las Heidegger. Unter deutscher Besatzung konnte er sein Hauptwerk Das Sein und das Nichts ohne Probleme veröffentlichen. Wie bei Stirner sind es vor allem die unzähligen Hohlformen, die das Werk so kompatibel machen für jegliche politische Situation und es zeigt sich, dass der existenzialistische Lebensentwurf charakterisiert durch Bewusstsein und Auflehnung nicht so verschieden ist von jenem, der den Einzigen und seine Empörung auszeichnet.

Marcuse ist bei der Sartre-Lektüre derselbe Trick aufgefallen, der bei Stirner schon zu vermerken war: Der Ausdruck Für-sich umfasst das Wir sowohl wie das Ich; es ist das kollektive so gut wie das individuelle Selbstbewusstsein. (89) Deshalb gelangt der Sartre der Kritik der dialektischen Vernunft auch zur Gruppe sowie zur Gewalt als maßgebliche Bausteine seiner Konzeptionen. Die Gewaltverherrlichung in Sartres Fanon-Vorwort ist kein Ausrutscher, es ist die konservierte Empörung Stirners. (90) Martin Dornis hält für den Sammelband zur Deutschen Ideologie erst fest: Es lässt sich Heideggers Ontologie nicht einfach vom Kopf auf die Füße stellen, um dann eine Seite später fortzufahren, dass Sartre kein deutscher Ideologe war, dafür hat er seinen Heidegger dann doch zu sehr von den Füßen auf den Kopf gestellt. (91) Das Subjekt durchgestrichen hätten erst die Poststrukturalisten – als ginge es nur darum. Bezüglich Heidegger, der sich nicht auf die Füße stellen lässt, weil er auf diesen anscheinend schon stand, damit Sartre ihn wieder auf den Kopf stellen konnte (Oder lag er?) heißt es nun weiter: Heideggers Sein ist der Wert. (92) Auf der nächsten Seite ist das Sein dann schon die negative Aufhebung des Werts auf seiner eigenen Grundlage. Dies mag wahnsinnig clever klingen, ist jedoch nicht exakt der Nationalsozialismus in Theorieform gegossen, sondern wenn diese Formulierung irgendetwas bedeuten soll, dann beschreibt sie das Kapital, also die Zersetzung der Gemeinwesen, Produktion für den Tausch, Mehrwertproduktion und damit vor allem (neue Formen der) Ausbeutung. Diese negative Aufhebung des Werts auf seiner eigenen Grundlage wäre also höchstens der radikale Bruch in der Realgeschichte des Werts selbst (Thomas Maul), meint: Ausbeutung auf Grundlage des Äquivalententauschs oder: sich selbst verwertender Wert.

Was Dornis ab- oder nachschreiben wollte, steht in richtiger Formulierung bei Clemens Nachtmann, dem es um die negative Aufhebung des Kapitals auf seiner eigenen Grundlage geht. Deren conditio sine qua non hingegen ist die Verüberflüssigung des gesellschaftlichen Humankapitals in permanenter Krisenform. (93) Mit viel gutem Willen wäre das Geschwurbel von Dornis also so zu verstehen: Heideggers Sein ist das in permanente Krise geratene Kapital, welches massenweise überflüssige Arbeitskraft freistellt. Wenn nun Sartre darüber gerettet werden soll, dass er angeblich in wesentlichen Punkten explizit gegen Heidegger argumentierte, hilft dies nicht sonderlich weiter, da er damit gegen einen Wahn argumentierte, was für gewöhnlich eben nur selbst Wahnsinnige tun. Gegen Heideggers Sein komme bei Sartre als zentraler Begriff das Nichts ins Spiel, das sich grob auf Formel bringen lässt: Es gibt keine Natur des Menschen, die den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht. Die Einzelnen sind nun plötzlich fähig sich aus dem Zusammenhang des Seienden zu lösen. Nein zu sagen, ermögliche Freiheit. (94)

Bei Sartre selbst liest sich das meist folgendermaßen: Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, dem es in seinem Sein um das Nichts des Seins geht: das Sein, durch das das Nichts in die Welt gelangt, muss sein eigenes Nichts sein. Kürzer schreibt er über das Sein, das ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist. Wer diesen Schwachsinn nicht versteht, möge sich wahrlich nicht schämen, denn ein Großteil des Werkes Sartres bewegt sich eher auf einer psychischen Ebene. Anders formuliert: Schon Heidegger kannte keinen Hunger. Die Nichtung des Hungers ist bei Sartre nun nicht einfach Essen, sondern die Entscheidung für die Möglichkeit des Essens, also bin ich als Hungriger bereits satt: Ich bin zugleich mein Hunger und in Situation gegenüber meinem Hunger, ich bin ein überschrittener Hunger. (95) Das unterschwellige Motto des Existenzialismus lautet demnach: Hunger im Bauch, Freiheit im Herzen! Die Missachtung der Ökonomie im Werk Sartres ist keinesfalls einfach zu korrigieren, denn sie umfasst die Missachtung des stummen Zwangs, und ist konstitutiv für diesen Wahnsinn.

Dass Hunger kein Grund zur Produktion ist, heißt aber nicht, dass er nicht sehr wohl der Hauptgrund zur Arbeit ist. Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, statt zum Hunger, denn der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf; er existiert nur in dem Maße, als er sich entfaltet. Dass es eventuell einen kleinen Unterschied zwischen einem Entwurf und dessen Entfaltung bzw. Verwirklichung geben könnte, kommt dieser Lebensphilosophie selbstverständlich nicht in den Sinn, da es der Entgrenzung der Wirklichkeit, welche der stirnerschen Enthemmung allzu verwandt ist, nur im Wege stünde: Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen. (96) Die postulierte absolute Freiheit aus dem Nichts ist Leugnung von Hunger und Ausbeutung, Angebot und Nachfrage sowie letztlich der Tauschgesellschaft. Marxens Formulierung nach der der Arbeiter frei ist die Arbeitskraft zu verkaufen und somit Lohn zu erhalten, der grob dem Wert der Ware Arbeitskraft entspricht, heißt jedoch eben auch frei jeglichen Rechts zu sein, dass diese Arbeitskraft auch tatsächlich gekauft wird. Sartres Nichts ist keinesfalls die Negation oder gar das Nichtidentische, sondern bloß die doppelte Freiheit des Mittelstandes/Kleinbürgers, sprich die überflüssige/unproduktive Arbeitskraft – also eine Arbeitslosigkeit, die sich schon für faktischen Lohn hält. Die Existenz geht dem Wesen/der Essenz voraus, lautet einer der berühmteren Sätze Sartres, womit er wie Stirner meint, die potentielle Existenz sei eigentlich schon das Wesen.

Ein anderer Engagierter hat es dagegen sehr viel konkreter und wahrer ausgedrückt: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Dass Sartre hingegen 1942 am Pariser Lycée Condorcet wissentlich eine entjudete Stelle (97) annahm, nachdem er seine Widerstandstruppe selbst aufgelöst hatte, zeigt vor allem eines über den großen Moralapostel: er empörte sich in einem durchaus stirnerschen Sinne – nämlich ohne Rücksicht auf Verluste anderer Leute. Sartres Philosophie ist nur Abklatsch der negativen Aufhebung der Lohnarbeit. Aus Not wird Tugend, denn ein Herr Sartre leidet nicht, er ist engagiert im Leiden – statt zu hungern, fastet er, hungert also bewusst – ein diskursiver Trick, den schon der ehrenwerte Prophet Mohammed beherrschte, wenn man den alten Quellen glauben darf. Sartres angebliches Auf-den-Kopf-stellen Heideggers (98) ist nur die Rückkehr zu Stirner, ob bewusst (99) oder bewusstlos ist dabei völlig nebensächlich. Wobei er jedoch genug von Heidegger mitschliff. Sartres Bezug auf den Hunger, den man akzeptieren könne oder nicht, hat Marx schon an Stirner bloßgestellt. Über den stolzen Eigentümer seines Nicht-Eigentums schrieb Marx an Engels: Wenn er Hungers stürbe, stürbe er nicht durch Mangel an Lebensmitteln, sondern durch sein Eigentum: das Verhungernkönnen … Die Freiheit Sartres ist nur noch jene Möglichkeit, ganz ungestört – zu verhungern. (100) Auch Sartre hat sein Sach’ auf Nichts gestellt. Charaktertypen dieser Art hat Karl Kraus in Hüben und Drüben beschrieben und selbst sprechen lassen: Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt, […] Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts erlitt, indem er alles litt. Aus Sein zum Tode wird Sein zum Leid. Genau dies ist aber nur eine andere Erscheinungsform des Masochismus, der sich zwangsläufig in der Gewalt entladen muss, die Sartre wenig später zu propagieren begann.

Schon Stirners Ich und der Einzige meinen unterschwellig die juristische Person (101) – das Individuum als Rechtssubjekt, die längst nur noch die Organisation bzw. Personenvereinigung meint – was ihm mit dem Verein dann auch hereinrutschte – und gerade deshalb ist sein scheinbar konkretes Ich das unpersönlichste, abstrakteste: Der Mensch ist ja keine Person, sondern ein Ideal, ein Spuk. (102) Bzw: Die Person ist ihr widerlich, weil sie egoistisch, weil sie nicht der Mensch, diese Idee, ist. (103) Stirner ist dabei konsequent vorjuristisch. Bei ihm heißt es unter anderem: Meine Macht ist mein Eigentum. Meine Macht gibt Mir Eigentum. Meine Macht bin Ich selbst und bin durch sie mein Eigentum. (104) Und genau über solche Vorstellungen schrieb Paschukanis: Die Verbindung des Menschen mit dem von ihm selbst produzierten oder eroberten oder gleichsam einen Teil seiner Persönlichkeit bildenden Ding ist ohne Zweifel historisch ein Element in der Entwicklung des Privateigentums. Sie stellt dessen ursprüngliche und beschränkte Form dar. (105)

Der Heilige Krieg gegen das heilige Signalwort der Mensch wird jedoch von anderen weitergeführt. Man lese von der Redaktion der Pólemos: Die Würde des Menschen ist unantastbar – die Würde einer Abstraktion also; Pech also für die Menschen, die hierher flüchten, wenn sie es aus oder über sichere Drittstaaten tun, und dabei niemals als der Mensch als solcher kommen, sondern nur als leibliche, konkrete Einzelne. (106) Das ist eine derartige Banalität, die direkt von Stirner stammen könnte, denn des Menschen, heißt jedes Menschen, heißt jedes einzelnen konkreten, leiblichen Menschen. Grammatikalisch ist der Mensch schlicht ein Kollektivsingular. Letzteres ist schon ein Produkt der Aufklärung, wie zahlreiche Historiker unter anderem am Begriff die Geschichte nachgewiesen haben. Somit ist der Mensch im Recht ein konkreter Begriff als Gattungsbegriff. Die Feindschaft gegen die Abstraktion sollte jedoch nicht vergessen machen, dass Denken selbst abstrahieren ist und es kleine Unterschiede beispielsweise zwischen Formal- und Realabstraktion gibt. Als wäre das Problem nicht eher die Bestimmung der Würde (107), welche ihren Auftrag und ihr durchaus materialistisches Versprechen verliert, wenn sie in einen juristischen Begriff gezwängt wird. Während jedoch der Mensch zumindest darauf verweist, dass es um ein paar mehr Menschen geht, die in Beziehung zueinanderstehen, ist der Einzige, der nackte quälbare Leib, der Einzelne, also der Unvergleichliche, nur ebenso abstrakter Platzhalter, der aber verlangt, sich als Ich einzusetzen, ihn einsam und allein zu füllen, fällt also weit hinter die erste Abstraktion zurück, die auf jeden zielt. (108) Die Hypostasierung des Einzelnen gegenüber dem Menschen ist letztlich nur die diskursive Setzung der konkreten gegen die abstrakte Arbeit, was durchaus konsequent ist, denn auch die Urwahl und Entscheidung Sartres trägt schon den Charakter der Studien- oder Berufswahl.

Das Einzelne ist mehr sowohl wie weniger als seine allgemeine Bestimmung. (109) Den Rest lese man in den Zeilen bzw. Seiten um den Satz herum; nur ein Hinweis sei noch erlaubt: Dialektik läuft, ihrer subjektiven Seite nach, darauf hinaus, so zu denken, dass nicht länger die Form des Denkens seine Gegenstände zu unveränderlichen, sich selbst gleichbleibenden macht; dass sie das seien, widerlegt Erfahrung. […] Die Wendung zum Nichtidentischen bewährt sich in ihrer Durchführung; bliebe sie Deklaration, so nähme sie sich zurück. (110) Auch der Platzhalter namens Leib ist eine solche Deklaration in Zeiten, in denen Klaus Theweleit mit einigem Recht schon nur noch vom Körperpanzer spricht. Der Leib fungiert hingegen als scheinbar letztes, unverlierbares Eigentum, an das man sich klammert. Beim zeitweiligen Sartre-Kameraden Merleau-Ponty wird dies sehr viel ehrlicher ausgedrückt. Hier heißt es im Original: le corps propre. Später wird in seinem Werk daraus das Fleisch. Der Versuch, die alte Aura des Leibes zu retten, bringt die Vorstellung einer beseelten Leibhaftigkeit hervor, die sich über die faktisch unmögliche und doch gedachte Trennung von Arbeiter und Arbeitskraft schon hinauswähnt. Dies ist ein durch und durch egozentrisches Weltbild, das auf die seelische Subsumtion unter das Kapital (Thomas Maul) reagiert, sich dabei aber als sein eigener Leibeigener, der er als Ich-AG nun einmal ist, bestätigt, und somit Ausbeutung und Selbstausbeutung rechtfertigt, indem es gegen den Begriff polemisiert, und versucht dadurch einen anderen Begriff und die Sache zu versöhnen, anstatt den Widerspruch zu entfalten.

Sartres vorrechtlicher Schuldbegriff beruht vor allem auf dem Bedürfnis den Henkern und Empörern Rechtstitel zu liefern – einer Angelegenheit, der Adorno sich aus guten Gründen verweigerte. Von Ideologiekritikern wie Manfred Dahlmann wird dieses Bedürfnis allen Ernstes mit der existenziellen Komplettverhunzung der Psychoanalyse abgesegnet. So schreibt er das Unbewusste komplett leugnend, dass alles, was bisher als Unbewusstes verstanden wurde, ohne dass dies im Widerspruch zu dessen Analyse stehen müsste, auch als Resultat bewusster Entscheidungen gelesen werden kann – zu denen gerade ein Kind schon in den ersten Lebensjahren fähig ist. (111) In der sans phrase steht dann völlig im Sinne Sartres geschrieben: Der Antisemitismus ist die Folge einer freien Wahl – wie jede Haltung, die der Einzelne gegenüber der Faktizität einnimmt. (112) Sartre und mit ihm Dahlmann, Dornis, Scheit usw. verwechseln die seltene Gabe: den juristisch unterstellten [!] Willen, der ihn [als juristisches Subjekt] unter den anderen Warenbesitzern – solchen wie er selbst es ist – absolut frei und gleich macht, (113) mit wirklicher Freiheit des Willens, der Wahl und Entscheidung; die Entschädigung mit der sklavischen Abhängigkeit. Während das Recht bzw. der Richter gezwungen ist, jemanden so zu verurteilen, als ob sich jemand völlig frei zu seiner Tat entschieden hat, hat die Kritik dazu sehr viel weniger Berechtigung, wenn sie dem neuen kategorischen Imperative, den nach Adorno Hitler den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit aufgezwungen hat, ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe, (114) gerecht werden möchte. Dass Auschwitz sich nicht wiederhole… deutet mit aller Dringlichkeit auf das Moment der Prävention.

Was Adornos und Sartres Arbeiten und Denken unterscheidet, wurde ebenfalls in der sans phrase festgehalten. Dort kann man lesen, dass die Kritische Theorie in der Fassung Adornos ihren Schwerpunkt auf die Frage legt, warum es den antisemitischen Wahn als gesellschaftliches Phänomen gibt, während sich Sartre, vor dem Hintergrund seiner Philosophie der Freiheit, vorrangig dafür interessiert, dass sich Subjekte für den antisemitischen Wahn entscheiden und was das für die Juden bedeutet, Adorno dessen gesellschaftliche und psychologische Genese, Sartre hingegen dessen Existenz und deren unmittelbare Voraussetzungen im Subjekt ins Zentrum rückt. (115) Die unmittelbaren Voraussetzungen stammen aus Sartres Begriffslabor – sind also wenn überhaupt seine philosophischen Voraussetzungen, die behaupten, man würde sich völlig freiwillig für einen Wahn entscheiden. Strenggenommen steht dort nur, und darin ist dem Zitat völlig zuzustimmen, dass Sartres Schriften gegen den Antisemitismus, nach Auschwitz auf die Erkenntnis hinauslaufen, dass es Antisemitismus gibt. Wobei es sehr viel ehrlicher wäre, zu schreiben, dass dies hinter dem Vordergrund seiner Philosophie der Freiheit abläuft, denn die ganze Beschäftigung mit der Judenfrage dient nur der Veredelung seines ideologischen Werkes. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, welche die angestrebte Erziehung zur Mündigkeit miteinschließt, wird obsolet durch die Setzung der absoluten Entscheidungsfreiheit, also Mündigkeit, und der darin eingefassten Abrechnung mit der Vergangenheit.

Zu guter Letzt muss natürlich auch die Empörung, auf welcher auch das Engagements Sartres beruht, gerettet werden – dies geschah in einem Text Gerhard Scheits mit dem illustren Titel Über die Wut, die sich als Demut gefällt, und den Zorn, der zur Kritik gehört. (116) Über den Zorn der scheitschen Kritik erfährt man leider nicht viel mehr, als das, was im Titel steht. Überhaupt kommt das Wort nur noch einmal vor. Die Scheitsche Unterscheidung von Zorn und Wut entspringt einem sehr seltsamen Zirkelschluss: Karl Kraus, der als Schutzengel dieses Ekels [in Anbetracht linksdeutscher Zumutungen; P.G.] angerufen werden kann, war allerdings das Gegenteil eines Wutempiristen. Wenn wütend sein heißt, nicht zu denken, dann ist der Zorn, der aus seinen Texten spricht, geradezu Inbegriff des Denkens. (117)

Diese zwei Sätze enthalten dermaßen viel und komprimierten Unsinn. Ersteinmal bedeutet, jemanden anrufen, ihn um etwas zu bitten oder auf sich aufmerksam machen, was im Falle Kraus’ etwas schwierig werden dürfte, sofern hier nicht jemand mit der Forderung nach der Abschaffung des Todes mit dessen Leugnung verwechselt. Lesen könnte man ihn bzw. seine Werke, und dort u.a. einiges über den Zusammenhang von Krieg und Sprache erfahren – Taktik wäre wohl das Wort, und: Die falschesten Argumente können einen richtigen Hass bezeugen. In seinem Gedicht Der Zeuge spricht das lyrische Ich zum Kaiser: Dein Zorn ist deiner Kleinheit Übermaß, der alle Grenze, alles Maß verrückt, um groß zu sein, wenn er die Welt zerstückt. Schutzengel waren ihm hingegen Polizeiagenten. Der Anruf von Schutzengeln ist vor allem Ausdruck eines persönlichen Fürsorgebedürfnis. Zu fragen wäre auch, wieso aus den Texten des Schutzengels dieses Ekels Zorn und nicht schlichtweg Ekel spricht, was schließlich eine recht treffende Beschreibung dessen Ouevres wäre. Nun kommt der Ekel aber nicht im Titel vor. Der Junktor wenn…, dann…, stellt eine Bedingung dar, und über Wut hat Adorno einmal etwas geschrieben, das man paraphrasieren, umdrehen und als Bedingung setzten kann, womit man auf scheinbar sicheren Füßen steht.

Nur hat Adorno in seinem halb- und breitzitierten Satz nicht geschrieben, dass, wütend sein hieße, nicht zu denken, sondern: Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend. (118) Dem folgt im Zusammenhang, worauf mit einem Doppelpunkt extra hingewiesen wird: Denken hat die Wut sublimiert. Anders formuliert heißt es also: Wer denkt, ist nicht mehr wütend bzw. wer wütend ist, denkt noch nicht. Da nun Karl Kraus’ Fähigkeit zum Denken wie auch die Ergebnisse dieses Denkens tatsächlich aus seinen Texten sprechen, kann dieser nicht wütend gewesen sein (Scheit) bzw. nicht mehr (Adorno). Bei Adorno tritt das Denken an die Stelle Wut, bei Scheit hingegen muss etwas Neues hinzukommen, das die Empörung doch noch rettet, was der erst gepriesene Ekel, welcher tatsächlich Teil der Idiosynkrasie ist oder ihr zumindest sehr nahesteht, anscheinend nicht vermocht hätte. Wie in der Ilias Homers kommt der Zorn wie aus dem Nichts – während er dort jedoch im Späteren noch erläutert wird, wird er hier einfach untergeschoben, als Zorn, der zur Kritik gehört – also der Zorn als Teil oder Voraussetzung der Kritik. Wer hingegen eventuell wütend war, ist nur noch wütend, also der bloß Wütende – der nebenbei bemerkt laut Titel sich aber auch noch in der Demut gefallen soll, und wird dem Zürnenden, heißt hier und nur hier: dem Kritiker entgegengestellt.

Der Unterschied von Wut und Zorn ist in zahlreichen Darstellungen oftmals ein nur gradueller, doch gibt es auch einen qualitativen, nur stellt sich dieser deutlich anders dar, als es Scheit suggeriert. Schon Aristoteles hat in seiner Rhetorik den Zorn beschrieben als ein von Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen dies nicht zusteht, zugefügt wurde. (119) Damit sind zwei Merkmale besonders wichtig. Erstens zürnt notwendigerweise der Zürnende immer einer individuell bestimmbaren Person […] und nicht der Menschheit allgemein und zweitens: mit dem Zorn geht notwendigerweise eine gewisse Lust einher, die der Hoffnung auf Vergeltung entspringt. Zorn ist in weiten Teilen ein Rachebedürfnis, das sich auf eine konkrete Person bezieht. Wie man sich in der Scham betrachtet fühlt, in der Wut unter Umständen wild um sich blickt, so schaut man im Zorn in der Regel schon von vornhinein auf jemand bestimmtes von oben hinab – lange Zeit war dies Gott. Der Zorn speist sich aus dem trügerischen Wissen im Recht zu sein, und kann nur besänftigt werden. In der Sprache drückt sich dies so aus, dass man strenggenommen über oder auf etwas wütend, auf jemanden hingegen zornig ist.

In der Wut kommt der Vorrang des Objekts als Überwältigung zur Geltung. Deshalb ist Wut weniger blind als vielmehr ohnmächtig. Wut kann zum Denken führen. Dann jedoch nimmt sie sich darin zurück und ist höchstens als Impuls des Denkens zu betrachten. Der Zorn hingegen ist eine Personalisierung der Aversion. Er erwächst in der Regel aus einer Verletzung des Stolzes oder eines Anspruchs, den man meint zu haben. Im Katechismus ist er ein Laster vor allem aufgrund seiner Affinität zum Verlangen nach Rache. Der säkulare-heilige Zorn, wie er von Scheit propagiert wird, kennt sein Ziel schon vor dem Denken, weiß sich im Recht und geht somit weit eher als die Wut unreflektiert in den Text. Die größte Gemeinsamkeit von Wut und Zorn läge darin, dass man, sofern man von einem der beiden befallen wurde, erst einmal durchatmen sollte, bevor man in die Tasten haut. Keineswegs heißt wütend sein, automatisch zum Denken zu gelangen, nur im Zorn wird es sogar noch schwieriger. Der Wiener Zorn ist nur scheinbar reflektierte Empörung – man kann sich trotzdem noch als Achilles oder sonstiger Heros fühlen. In ähnliche Zusammenhänge stellte sich schon sein Mentor Sartre. In seinem Vorwort zu Fanons Verdammten schrieb er: Die Gewalt kann, wie die Lanze des Achill, die Wunde vernarben/heilen, die sie geschlagen hat. (120) Auch Sartre bezieht sich auf den berühmtesten Zorn der Geschichte.

Hannah Arendt hat dagegen eingewandt: Wenn dies stimmte, dann wäre Rache eine Art Allheilmittel. (121) Da sie weiß, dass es sich hierbei um Quatsch handelt, fährt sie fort: Diese neuen Vorstellungen von der Gewalt und dem, was sie vermag, […] stehen auf einer Stufe mit Fanons ärgsten rhetorischen Entgleisungen – wie, dass es besser sei, in Würde zu hungern als das Brot der Sklaverei zu essen. Es bedarf keiner Geschichte und keiner Theorie, um diesen Ausspruch als Unsinn zu durchschauen; es genügt die flüchtigste Betrachtung der Körperprozesse. Hätte aber Fanon gesagt, dass es besser sei, sein Brot in Würde zu essen als Kuchen in der Sklaverei, was natürlich richtig ist, so wäre die rhetorische Pointe verloren. (122) Bezüglich der Formulierung Sartres hat Arendt richtig erkannt, dass auch diese eine implizite, dieser unsäglich suggestiven Wenn-dann-Formulierungen ist, die sich hier mit ihrer Bedingung auf den Mythos stützt. Aber der Mythos war deutlich reflektierter als seine heutigen Wiederkäuer: erst einmal kann nur Achilles selbst die Lanze überhaupt anheben, was ihre Destruktivkraft und deren beschränkte Handhabe hervorhebt. Dass Achilles selbst sein Leben im Krieg verliert, ist ein weiterer kleiner Hinweis gegen die Vorstellung des Allheilmittels namens Gewalt. Vor allem aber heilt die Lanze nicht die Wunde, die sie schlug, sondern eine einzige. Überhaupt ist die Darstellung, in der Odysseus erkennt, dass der Orakelspruch, nachdem Telephos nur von dem Verursacher seiner Wunde geheilt werden könne, sich nicht auf Achilles sondern seine Lanze bezieht eine überaus ironische, was Sartre nicht erkennen konnte, da seine Pointe dann wirklich zunichte gegangen wäre. Die magische Vorstellung, welche in Bezug auf die Waffen im Mythos schon in ironischer Brechung mitschwingt, hat Marx selbstverständlich auch wieder an Stirners eigener Vorstellung bloßgestellt: Nur die Waffen kämpfen, nicht die Leute, die sie führen und zu führen gelernt haben. Diese sind bloß zum Totgeschossenwerden da. (123) Auch die Anklage der abstrakten Demut hat Scheit von Nietzsche übernommen, oder direkt vom Begriffsakrobaten Stirner: Der moralische Einfluss nimmt da seinen Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab. (124)

Demut ist nun leider nicht das Gegenteil von Kritik oder Mut, sondern von Stolz oder gar Hybris, Hochmut, entfernt der Arroganz (125); Stolz ist Ausdruck der Ehre – und somit verrät Scheit recht prägnant, worauf seine Kritik beruht. Sehen Wir davon ab, dass Stolz eine Überschätzung ausdrücken könnte, (126) schreibt auch Stirner, und kann mit dieser äußerst fragwürdigen Prämisse den Stolz für die Konzeption seiner Empörung einfach nutzen. Der von Scheit als Schutzengel angerufene Zorn ist Ausdruck des verletzten Stolzes und nichts Anderes ist die lang und breit mit Sartre betriebene Subjektüberschätzung – die sich schon in der bloßen Setzung von Zorn als Modus der Kritik praktisch offenbart, und seit Stirner einiges an Gewicht aufweist. (127) Auch die mehrmals umgeschriebene Philosophie der Empörung, die uns soeben in schlechten Antithesen und welken Redeblumen vorgetragen wurde, ist in letzter Instanz nichts als eine bramarbasierende Apologie der Parvenuwirtschaft (Parvenü, Emporkömmling, Emporgekommener, Empörer). (128) Sartres Philosophie ist eine Philosophie des Lebenslaufs. Die Urwahl ist Berufswahl, die man nur mit drastischen Entscheidungen wieder revidieren kann. Das Engagement hingegen ist linke Empörung. Der Begriff des Engagements kommt nicht umsonst von dem Angestelltenverhältnis bzw. dem Honorar der Künstler oder Sold der Militärs (Gage). Über Jahrhunderte gab es das dazugehörige Verb nur als transitives: engagiert werden/jemanden engagieren; jmd. verpflichten oder verpflichtet werden gegen eine Bezahlung. Die reflexive Form sich engagieren ist erst seit Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt, und dem ebenfalls reflexiven Empören nachgebildet.

Es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass der von Scheit bemühte Adorno mit solchen Zeilen, wie den obigen von Scheit, die Arbeit und Anstrengung des Begriffs, das heißt also die Arbeit und Anstrengung der Subjektivität gemeint haben dürfte, denn, dass der Denkende nicht mehr wütend sei, beruht ebenso auf dem vorangestellten Satz: Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. (129) Das kann es nun gerade nicht, da das Postulierte jeder Logik, wie auch jeder Erfahrung widerspricht.

Statt zu hoffen wäre hierbei eher zu fürchten, dass dieser Quatsch wirklich woanders und von anderen nachgedacht werden könnte, heißt: dass Leute sich dies aneignen, es nachmachen/reden und für Gedanken halten, sich dieser Bauern – bzw. Lumpenintellektuellenfängerei also ergeben, die sich dem Angenehmen statt der Kritik verschrieben hat. Die betreffenden, unzähligen Wenn-dann-Konstruktionen sind nur noch Glaubensfragen. Soll also die Auseinandersetzung mit Sartre einen Sinn haben,…, beginnt einer jener Sätze und setzt mit dem ersten Teil schon, dass es einen Sinn in dieser Auseinandersetzung geben müsse. Man kann also den zweiten Teil des Satzes durchaus ignorieren und zur betreffenden Fußnote schweifen, in der der wirkliche Sinn der Beschäftigung offenbart wird. Laut Scheit habe nämlich Manfred Dahlmann nicht nur in dieser Hinsicht […] in seinem Buch […] neue Grundlagen geschaffen. (130)

Der Kultus des Einzigen und seines erarbeiteten geistigen Eigentums zieht sich heute bis in die profiliertesten Personifikationen dieser neuen existentiellen Ideologiekritik – sei es der Teilzeitpublizist, der nach jedem Post in den sozialen Netzwerken, welcher vier Zeilen überschreitet, meint eine Rechnung zu präsentieren, die verkündet, wieviel er mit dieser Geistesarbeitszeit hätte verdienen können (und es mit hätte müssen verwechselt), der also sein vermeintliches Vermögen für Kapital hält, da er auf seinem Blog schließlich Nichtidentisches anbiete und dabei auch noch eine Sparte namens Gesammelte Werke (131) zur Verfügung stellt; oder diejenigen, die immer wieder als erste und einzige einen der immanenten Widersprüche oder blinden Flecken der Kritischen Theorie entdecken, den sie dann als Einzige befugt seien, intellektuell und im besten Fall auch monetär auszuschlachten. Einzigkeit ist ihre trade mark, urteilte schon Helms über solche Gruppenbildungen (S. 128). Der psychische, individuelle Mehrwert geht auf Kosten der Kritik, der Sprache und letztlich der Wahrheit – und das ist das zu Kritisierende (132). Muss man für solch ein Urteil die Herkunft von Stirner ableiten? Nein, keineswegs. Schon die eigene Erfahrung sollte bei weitem genügen. Kann man es? Durchaus, wie Hans G Helms dargelegt hat.

Paulette Gensler

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