Anders als im Wohlfahrtsstaat traditionellen Zuschnitts zielen die sozialpolitischen Maßnahmen des „aktivierenden Sozialstaats“ nicht mal mehr vorgeblich auf die Zivilisierung des Kapitalverhältnisses. Der mit erweitertem Verwertungsdruck konfrontierte transformierte Sozialstaat organisiert die Generalmobilmachung für den internationalen Wettbewerb und agiert dabei als Produzent allgemeiner Panik, indem er unter dem Deckmantel der Autonomieförderung immer neue Anpassungszwänge schafft und die Einzelnen zur tendenziell masochistischen Selbstoptimierung anstachelt. In der Gesundheitspolitik kommt die destruktive Dynamik des Ertüchtigungsprogramms offen zum Vorschein. Während zunehmend darauf verzichtet wird, die Voraussetzungen für eine wenigstens einigermaßen menschenfreundliche kurative Behandlung von Kranken und Pflegebedürftigen zu schaffen, wird die Bevölkerung mit Präventionskampagnen zu sozial erwünschtem Verhalten erzogen. Zu den Eigenheiten der Präventionspolitik zählt erstens, dass der vorbeugende Aktionismus unerschöpflich ist, weil grundsätzlich alles als Bedrohung der Volksgesundheit deklariert werden kann, und dass zweitens beim Aufspüren und Umpolen von riskanten Verhaltensweisen eine aufdringliche Maßlosigkeit mitschwingt, die eine sachliche Gesundheitsaufklärung letztlich verhindert.
Bedrängt und pathologisiert werden potentielle Risikopersonen indes längst nicht mehr nur von bio-psycho-sozialen Fachleuten, sondern immer häufiger von übergriffigen Gesundheitshysterikern, die die ihre rigide Selbstzurichtung dadurch kompensieren, dass sie allen anderen das gleiche freudlose Maßhalten in allen Lebenslagen abverlangen. Erst vor wenigen Wochen wurde der Öffentlichkeit eine im renommierten Fachblatt The Lancet veröffentlichte internationale Großstudie präsentiert, deren Abschlussempfehlung zusammengefasst lautet, auf Alkohol am besten ganz zu verzichten. Zur Bekehrung der Unbelehrbaren fordern die Wissenschaftler strengere Gesetze. Die ZEIT zeigte sich rasch einsichtig und titelte der Leserschaft folgenden Ratschlag ins Gewissen: „Selbst das eine Bierchen ist schon ungesund“.
Eine mobilisierte Gesellschaft von Gesundheitsstrebern und notorischen Petzen, die verbittertes Mitmachen prämiert und in der selbst die Fähigkeit schwindet, noch die harmlosesten Laster anderer auszuhalten, lässt nichts unberührt − auch nicht den Tod. Der soll neuerdings auch optimiert werden, also eigenverantwortlich, kostengünstig und geräuschlos abgewickelt werden. Die Zahl anonymer Bestattungen in Städten ist in den letzten Jahrzehnten signifikant angestiegen: Sie sind nicht nur billig, sondern erleichtern das Vergessen. Verbindungen, die den Tod überdauern, gelten als schrullige Sentimentalitäten. Weder soll zu viel Trauer den Antrieb lähmen noch darf der Tod Distanz zum Alltag evozieren. Optimal sterben heißt zudem Organe liefern, gegen deren Spende man sich künftig explizit auszusprechen hat, sofern man dem Medizinbetrieb nicht vollkommen blind vertraut. Die „stärkste Nicht-Utopie“ (Bloch) erzeugt keinen Widerstand, sondern wird immer häufiger ersehnt. Wo das gesellschaftliche Leben zu einer Art „Vortod“ (Schweppenhäuser) missraten ist, gilt auch der individuelle Tod nicht als Skandal, sondern als Erlösung oder finale Rache – geistige Verfallserscheinungen, die sowohl in der Befürwortung der „Sterbehilfe“ als auch in der virulenten Untergangsstimmung in politischen Fragen zum Ausdruck kommen.
Noch sind die Adressaten der morbiden Volksgesundheitspropaganda nicht identisch mit der Motivationspsychologie, die sie fortwährend beschallt. Statt reibungslos zu funktionieren, wüten sie besinnungslos oder ziehen sich zurück in die Trostlosigkeit der eigenen vier Wände. Seit Jahresbeginn Regierungssache: Das Ministerium für Sport und Soziales wurde mit der Aufgabe ausgestattet, Vereinsamte ans Händchen zu nehmen und sie aus der Isolation zu führen. Dass sozialpolitische Vorstöße vor allem als Drohung zu verstehen sind, bezeugt etwa dieser latent schadenfrohe Vorschlag eines CDU-Sozialpolitikers: „Politiker können vor einer Senioreneinrichtung einen Spielplatz errichten und so gestalten lassen, dass er von allen Generationen genutzt werden kann. Das ist eine Möglichkeit, gegen die Einsamkeit anzukämpfen.“ Aufgrund mangelnder Alternativen fremden Kindern beim Spielen zugucken, zwecks intergenerationeller Freundschaftspflege Gummibärchen verteilen oder sich beim Mitwippen fühlen wie Graf Koks kurz vorm Kommunismus: Wo derlei Optionen ernsthaft verhandelt werden, ist die Beliebtheit der Sterbehilfe wohl folgerichtig.
Im Vortrag wird der Zusammenhang zwischen Gesundheitspropaganda und kurrenter Todesideologie dargestellt. Außerdem wird es um die Frage gehen, warum sich die Einzelnen die immer dreisteren politischen Angriffe auf ihre Privatsphäre im Namen der Gesundheit gefallen lassen.
Eine Veranstaltung der Gruppe Distanz in Kooperation mit dem Komma Kultur Esslingen.