Ohne Identität geht heute nichts mehr – sei es in der 24/7-Form oder als sogenannte Patchwork-Variante. Sie ist längst zur gesellschaftlichen Bedingung geworden, ohne die man nicht existieren können soll. Dieser identitäre Zwang zur kollektiven Zu- und Unterordnung richtet sich deshalb gegen die Vorstellung vom identitätsfreien Individuum, weil die postmoderne Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaft danach verlangt. Dabei überdeckt das ständige Gerede von der Pluralisierung der Lebenswelten, dass in der Gesellschaft längst eine massenkulturelle Monotonie vorherrscht, die nicht zur Emanzipation aller Individuen geführt hat, sondern zu deren Überflüssigkeit. Je mehr Überflüssigkeit aber in der Massengesellschaft vorherrscht, desto höher das aus der Angst vor dem Selbsteingeständnis der Überflüssigkeit erwachsene identitäre Bedürfnis, sich von seinen Mitmenschen unbedingt zu unterscheiden – sei es als queer, muslimisch, people of colour oder antideutsch usw. usf. Nur folgerichtig versteht man sich so als Teil der Wir-sind-Mehr- oder Unteilbar-Masse gegen ein nebulöses Rechts.
Bei diesem Identitätswahn handelt es sich gerade nicht um eine zeitgemäße Form von gesellschaftlichen Widerstand, sondern um eine Anpassungsleistung, die der „neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello) dem Subjekt aufnötigt, um sich da als bunt und vielfältig zu camouflieren, wo die Einöde der Lohnarbeit und der Reproduktion zu ihr, die Brutalität des Konkurrenzkampfes und der Konformitätsdruck verschlüsselt werden sollen. Als Chiffren postmoderner Marktbrutalität haben deshalb „emanzipatorische“ und „fortschrittliche“ Ideen wie Diversity, interkulturelle Kompetenz, Empowerment oder Antidiskriminierung Hochkonjunktur, deren eifrigste Verfechter sich nicht zufällig als selbstbehauptet konsequent antirassistisch und antifaschistisch autoritär gegen alle wenden, die nicht so denken wie sie. Ausgestattet mit diesem autoritären Dünkel bringen sie sich zugleich gezielt gegen die als altbacken und von gestern geltende Identität der Gleichheit aller Lohnarbeiter in Stellung, der wenigstens noch eine Ahnung vom Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit und der Trennung der Arbeit vom Feierabend innewohnte, die heute, in Zeiten der endgültigen Auflösung der bürgerlichen Scheidung von öffentlich und privat, nicht nur im Fall der französischen Gelbwesten gerade von denen als reaktionär und antiemanzipatorisch beargwöhnt werden, die als Linke einstmals sich nur allzugern ungefragt als avantgardistisches soziales Gewissen der lohnabhänggien Massen aufspielten.
Unter diesen objektiven Umständen der postmodernen Wechselbeziehung von „fortschrittlicher“ Identität und Kapital kann als Bedingung der Möglichkeit einer Kritik der Verhältnisse nur die Verweigerung der von der Gesellschaft abverlangten identitären selbst- wie Fremdzuschreibung stehen, die zugleich die Erkenntnis einzuschließen hätte, dass in Deutschland der Umweltschutz spätestens mit dem Entstehen der Grünen und der sogenannte Kampf gegen rechts spätestens mit dem vom damaligen Bundeskanzler Schröder ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“ als jenes volksgemeinschaftlich verbindende Schmiermittel und als ideologischer Kitt fungieren, die jede ernsthafte Kritik am Um- und Ausbau zum bzw. des postmodernen Kapitalismus unterminieren und diskreditieren sollen.
Eine Veranstaltung der HUmmel Antifa und En Arrêt! Berlin