Im April 2009 traf das Europäische Parlament eine seiner vernünftigsten Entscheidungen. Der 23. August, der Tag des Hitler-Stalin-Pakts, wurde zum „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ erklärt. Anders als gelegentlich behauptet, wurde damit weder der Nationalsozialismus noch der Holocaust relativiert. Die Autoren der Resolution hatten strikt darauf geachtet, beide Regime nicht gleichzusetzen; sie hatten sogar explizit erklärt, dass der einzigartige Charakter des Holocaust anerkannt werden müsse. Die gemeinsame Nennung von Nationalsozialismus und Stalinismus entsprach der historischen Erfahrung zahlreicher Staaten des mittleren und östlichen Europa. Sie waren entweder, wie Polen, gleichzeitig oder nacheinander von der Wehrmacht und der Sowjetarmee besetzt worden. Es gab neben zahlreichen schlechten insofern auch einige gute Gründe dafür, dass die Truppen mit dem roten Stern jenseits Deutschlands nicht überall als Befreier begrüßt wurden. Die Ernennung des 23. August zu einem europäischen Gedenktag war damit vor allem ein Zugeständnis an die neuen EU-Mitglieder und -Beitrittskandidaten. Sie war eins der wenigen Signale aus Brüssel, dass die mittel- und osteuropäischen Staaten als gleichberechtigte Partner betrachtet und ihre historischen Erfahrungen ernst genommen werden. Zugleich schien die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt bei allen Unterschieden auch die Möglichkeit zu bieten, Gemeinsamkeiten zwischen einigen westlichen, östlichen und – erinnert sei an die tragische Situation Finnlands – nördlichen Mitgliedsstaaten der Union herauszustellen. Immerhin hatte der Hitler-Stalin-Pakt die Kommunistischen Parteien Frankreichs, Belgiens und der Niederlande, die die politischen Kulturen ihrer Länder teilweise deutlich prägten, vor Zerreißproben gestellt: Sie waren von Moskau angewiesen worden, die deutschen Besatzer in Paris, Brüssel oder Amsterdam freundlich zu begrüßen. Zugleich war der Pakt eine der Voraussetzungen für die schnellen Siege der Wehrmacht im Westen und Norden: Die Sowjetunion hielt Deutschland nicht nur den Rücken frei, sondern lieferte auch Rohstoffe, ohne die die „Blitzkriege“ nicht möglich gewesen wären. Dennoch konnte der Gedenktag die Erwartungen nicht erfüllen, die gerade im östlichen Europa in ihn gesetzt wurden. In Westeuropa wird er kaum begangen, in Deutschland findet er allenfalls an runden Jubiläen randständig Erwähnung. Auf der Homepage des Europäischen Rats wird er mittlerweile nicht einmal mehr genannt. Diese Entwicklung steht zweifellos auch im Zusammenhang mit dem politischen Ungleichgewicht innerhalb der EU und dem weiteren Auseinanderdriften ihrer Mitgliedsstaaten. Sie geht allerdings auch auf das Ereignis des Hitler-Stalin-Pakts selbst zurück, der sich einfachen Deutungen entzieht.
Jan-Georg Gerber ist Autor und (Mit-)Herausgeber mehrerer Bücher über die Geschichte und den Zerfall der Linken.
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