Seit etwa 15 Jahren gilt das Viertel um den Frankfurter Hauptbahnhof mit seiner Mischung aus Kleinkriminalität, Obdachlosigkeit, Prostitution und migrantischer Bandenkultur unter hippen Kunststudenten und postmodernen Akademikern als Inbegriff authentischen Lebensgefühls. Seit einiger Zeit aber dient es ganz offen als Soziallabor für die zivilgesellschaftlichen Experimente der multikulturell erneuerten Berliner Republik.
Einen ersten, bisweilen faden Eindruck von dieser stadtpolitischen Transformation vermitteln die in jedem schicken Café respektive Club des Viertels ausliegenden Werbeprospekte von Schön hier, einem Magazin der Management- und Technologieberatung Cofinpro, das ihre Klienten sicher „durch die Herausforderungen von Digitalisierung, neuen Marktanfordearungen und Regulatorik“ zu navigieren verspricht, aufmerksamkeitsheischende „Kunstaktionen“ der Frankfurter Hauptschule und im verpflichtend post-ironischen Stil gestaltete Party-Flyer der Hochschule für Bildende Künste, die sich gerne demselben Geiste verhaftet als „true“ (im hiphopkulturellen Sinne) präsentieren, indem das Elend des Streetlife-Style goutiert wird. Jene Akzentverlagerung, die an die Stelle der Forderung nach Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen die Forderung nach restloser Integration der Ausgegrenzten in das unfreie Ganze treten lässt, erweist sich als der Grund für den Erfolg des Elendstourismus und spiegelt zugleich Tendenzen, die von den französischen Sozialwissenschaftlern Luc Boltanski und Éve Chiapello in ihrem Werk Der neue Geist des Kapitalismus (1999) herausgearbeitet wurden.
Das kreative Kulturspießermilieu, das sich ins barbarisierte Elend der Banden, Dealer und Zuhälter, von dem es sich ökonomisch abgrenzt, zugleich präventiv einzufühlen sucht, verkörpert den postmodernen Kapitalismus in Reinform und ist auch in den entsprechenden Kiezen Berlins oder Hamburgs anzutreffen. Nur gewinnt es in Frankfurt, wo sich um den Hauptbahnhof Relikte des überkommenen Armutsproletariats mitsamt seinen Begleiterscheinungen wie Bordellen und Absteigen lange halten konnten, besonders grelle Konturen. Mittlerweile zentrieren sich der sichtbare Drogenhandel, die Bandenkriminalität und die Elendsprostitution vornehmlich in der Elbe- und Taunusstraße des Bahnhofsviertels. Die Ära der Straßenschlachten, als die organisierten Rackets und der Polizeiapparat in der Kaiserstraße und ihren Abzweigungen gewaltsam aufeinandertrafen, gehören heute einer nostalgisch verklärten Vergangenheit an. So konnte im Gedächtnis der Stadtöffentlichkeit die selektive Wahrnehmung bestehen bleiben, dass das Bahnhofsviertel ein Sammelsurium all jener Handlungs- und Verhaltensweisen sei, die sich den sozial-ökonomischen Regeln eines funktionierenden gesellschaftlichen Lebens widersetzen, eine Art gesetzfreie Zone innerhalb des bürgerlichen Raums.
Auch weil die Polizei an Dealern, Junkies, Prostituierten und Obdachlosen eher selten eine aggressiv-autoritäre Law-and-order-Politik exekutiert, ist dort mehr als in anderen Stadtteilen Frankfurts das Ausgeschlossene des bürgerlichen Alltags, das zugleich dessen Kehrseite ist, gegenwärtig, was von den Anwohnern zuweilen staunend, meist aber gelangweilt oder indifferent registriert wird. Aussteiger treffen im Bahnhofsviertel auf Elendsprofiteure, Kriminalkarrieristen auf Marginalisierte, Zwangs- und Elendsprostituierte auf ihre Freier, und irgendwo dazwischen liegen Wohnhäuser, Gewerbebetriebe und die vielen hippen Clubs und Kneipen: kurzum das deutlich hiervon abweichende soziale Leben. Wie nirgendwo sonst in der Stadt prallen zwischen Bahnhof und Gallusanlage – auf nur einem halben Quadratkilometer Fläche – jeden Tag schroff widersprüchliche Erfahrungsräume aufeinander. Längst prägen nicht mehr nur Drogen, Kriminalität und Rotlicht das Stadtteilbild, das inzwischen als „it“ gilt: In den vergangenen Jahren haben immer mehr Szene-Bars und teure Restaurants eröffnet und ein junges, zahlungskräftiges Publikum in den einst verrufenen Stadtteil befördert. Auch Immobilienkäufer investieren in den aufstrebenden Bezirk, in dem etliche Bürokomplexe leer stehen.
Obwohl die Umgebung ansehnlicher, teurer und aufgeräumter als früher wirkt, existiert das alte Bahnhofsviertel weiterhin, womit auch das prekäre Leben der Prostituierten, Drogenabhängigen und Obdachlosen sichtbar bleibt. Mit ihrer augenscheinlichen sozialen Desintegration und körperlichen wie psychischen Verelendung widersprechen die Angehörigen der Drogen- und Bordell-Szene den gesellschaftlichen Gewohnheiten – vor allem dadurch, dass ihre Orte dem Lebens- und Arbeitsbereich der Start-up-Mitarbeiter, Künstler, Studenten und Manager, die das Bahnhofsviertel durchqueren, räumlich so nahe liegen. Die inzwischen übliche Politik, Bordelle und Stundenhäuser an die städtische Peripherie zu verlegen, damit Prostituierte und ihre Kunden nicht das Stadtbild stören, hat sich hier noch nicht flächendeckend durchgesetzt, so dass die Prostitution mitsamt ihren Begleiterscheinungen von Sucht, Armut und Gewalt unmittelbar gegenwärtig ist. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, woher die eklatante Diskrepanz zwischen dem Elend und der Begeisterung für die gesellschaftlichen Außenseiter durch kreative Milieuinsassen mit behüteter Sozialisation kommt, die eigentlich erwarten ließe, dass auf derlei Erbärmlichkeit mit Abscheu oder Mitleid reagiert wird.
Veranstaltet von Contre-Critique // Ideologiekritische Gruppe