Gegen Deutschland und alle Feinde des privaten Glücks
Erklärung der Redaktion Bahamas zum russischen Überfall auf die Ukraine
Gemessen an westeuropäischen Kriterien war es mit der individuellen Freiheit in der Ukraine vor dem Einmarsch der russischen Armee nicht weit her. Zu menschenunwürdigen Verhältnissen in den überfüllten Gefängnissen traten, wie in einigen Fällen dokumentiert, tödliche Arbeitsbedingungen für investigative Journalisten, im Parlament gehört weiterhin ein großer Teil der Abgeordneten zur Klientel der fünf tonangebenden patriotischen, also antirussischen Oligarchen, die Korruption ist erheblich und die Justiz ganz sicher nicht unabhängig.
Ein paar Hinweise auf die seit der orangenen Revolution 2004 und vor allem seit dem Euromaidan 2013/14 dokumentierten Bestrebungen, eine zivilere Ukraine zu begründen, die auch die Einschränkung der Macht der Oligarchen beinhaltet, die fast schon gläubige Hinwendung an die Europäische Union, der öffentlich ausgetragene innenpolitische Streit um mehr bürgerliche Freiheiten und vor allem Russlands Vorgehen dagegen sollten allerdings genügen, die Argumente notorischer Russland-Freunde, in der Ukraine seien revanchistische Marodeure tonangebend, die einen neuen Nazismus begründen wollten, als unhaltbar und bösartig zurückzuweisen. Es gibt umgekehrt aber auch keinen Grund, in Begeisterung über die erhebliche ukrainische Gegenwehr auszubrechen – schließlich ist es immer zynisch, beim Einsatz des eigenen Lebens anderer Leute mitzugehen wie bei einem Fußballmatch. Aber für Sympathie mit dem beeindruckenden Ernst, mit dem die Überfallenen für ihre Sache einstehen, sollte es dann doch reichen. Ihnen scheinbar ganz unpathetisch, aber in Wirklichkeit voller Ressentiment am Zeug zu flicken und sie entweder wegen fehlender revolutionärer Perspektive oder ihres „unrealistischen“ Widerstandes gegen eine ihnen weit überlegene Armee zu rügen, ist jedenfalls äußerst geschmacklos und damit eben sehr deutsch. Das betrifft auch all jene, die in „antifaschistischer“ Sorge vor einer ganz oder teilweise nazistischen Ukraine warnen. Denn der Einfluss rechtsradikaler bzw. nazistischer Parteien und Gruppen in der Ukraine ist trotz der seit 2014 anhaltenden Kämpfe im Donbass und in den angrenzenden Gebieten gering. Parteien dieser Couleur sind nicht nur deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, sondern spielen anscheinend auch im aktuellen Krieg bislang keine größere Rolle.
Die ganzen reichlich bemühten Einwände dienen gut erkennbar dazu, sich eine vergleichsweise simple und auf der Hand liegende Einsicht vom Leib zu halten: dass die meisten Ukrainer offenbar sehr gut wissen, was sie im Fall einer russischen Okkupation zu verlieren hätten bzw. andersherum: wofür es sich auch mit der Waffe gegen eine überlegene Streitmacht zu kämpfen lohnt. Denn sie haben nach der Erlangung der mehr formalen als tatsächlichen Unabhängigkeit im Jahr 1991 die postsowjetischen Herrschaftsstrukturen teilweise erfolgreich angegriffen, dafür gesorgt, dass die Zukunft des Landes seither in bürgerlicher Perspektive verhandelt werden konnte und nicht mehr die Verdrossenheit und Schicksalsergebenheit verwalteter Staatsanhängsel das Leben bestimmt – immer in der Hoffnung auf die Mehrung von Wohlstand und individueller Freiheit.
Dergleichen Pragmatismus ist Deutschen, anders als den Bewohnern mancher westeuropäischen Nachbarländer (vor allem Großbritannien und Frankreich) unbekannt und schon von daher verdächtig. Zwar ist kein EU-Mitglied dermaßen geizig, engherzig und so skrupellos allein auf den eigenen nationalen Vorteil bedacht wie Deutschland – dennoch ist Deutschland zugleich das Land der Ideale, Visionen und höheren Werte, dessen Bewohner den Kapitalismus nicht etwa deshalb beargwöhnen, weil dieser nicht hält, was er verspricht, sondern andersherum deshalb, weil diese Versprechungen ausdrücklich die Verwirklichung von Lebensglück und Lebensfreude zum Gegenstand haben. Am Freiheitsstreben der Ukrainer kann es jedenfalls nicht liegen, dass ganz Deutschland jetzt an ihrer Seite zu stehen scheint. Als antirussische Separatisten waren sie bis in die 1990er Jahre von geostrategischem Interesse, aber als eine Nation, die wie Polen und die baltischen Staaten die deutsche Energiepolitik mit ihrer Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen scharf kritisiert und auch noch Militärhilfe fordert, sind sie lästig. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnik, war noch vor wenigen Wochen verhasst und regelmäßig Gegenstand hämischer Kommentare. Trotzdem war es nicht zu verhindern, dass der deutschen Regierung und mit ihr der ganzen hörigen Phalanx aus Presse, Verbänden etc. das Geschehen aus den Händen geraten ist in jenen ersten Tagen, als der Schrecken über einen Überfall, der nicht „nur“ den Donbass und andere von prorussischen Milizionären kontrollierte Gebiete meinte, sondern die Eroberung der Hauptstadt und mit ihr des ganzen Landes, ihnen in die Glieder fuhr. Spontane Regungen wie der Abscheu gegen den Aggressor und die Bewunderung für die ungeahnte Gegenwehr der ukrainischen Armee wie auch der Bevölkerung prägten einige unkontrollierte Tage lang die allgemeine Stimmung, bis dieser Anflug von Solidarität umgehend in Regie genommen wurde. Seither wird aus schlechten Gründen darauf geachtet, dass der ungleiche Krieg, den Deutschland mit zu verantworten hat, nicht aus dem Ruder läuft. Seither geht es darum, die eigene Bevölkerung unter Verweis auf die Leiden der Ukrainer auf Verzicht einzustimmen. Die dabei praktizierte Methode ist im Großen und Ganzen und in den meisten Details diejenige, die während zwei Jahren Corona-Regime bereits hinlänglich erprobt wurde: dieses Mal kapert und instrumentalisiert man ein kriegerisches Geschehen vor der eigenen Haustür, um damit die Perspektivlosigkeit – dass niemand vom Leben und der Zukunft gefälligst mehr etwas erwarten soll – für die eigene Bevölkerung zur verbindlichen Perspektive zu erklären. Anders gesagt: um die Ukraine geht es im aktuellen Solidaritätstheater ebenso wenig, wie es in den letzten zwei Jahren um die je individuelle Gesundheit ging, sondern um die Organisation von Loyalität bei der Einschrumpfung eben jener Bürgerlichkeit, die die Ukrainer gerade behaupten.
Selbstaufgabe als Heroismus
Kriege, auch dann, wenn andere unter ihnen zu leiden haben, mobilisieren, was die Kollektivseele von alters her bereithält, aber im Normalmodus unter der Decke bleibt. Die Tatsache, dass das Leben auch in Friedenszeiten meist nicht schön ist, lohnt sich zwar gegen die Prediger des bedingungslosen Pazifismus festzuhalten. Wer aber im März 2022 den Krieg, den die Ukrainer deshalb führen, weil sie ein gutes Leben wollen und ein Frieden unter russischer Okkupation für sie deshalb unerträglich wäre, zum Vorwand nimmt, den Landsleuten ein schlechtes Leben schmackhaft zu machen, tut das nicht aus Solidarität, sondern um einer ganz anderen Befreiung willen, nämlich der von Mindeststandards eines guten Lebens und der Zivilisation. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, der sich für einen Stop russischer Energie-Importe einsetzt, dekretierte ganz in diesem Sinne, dass die damit einhergehenden Verluste an Wohlstand zu ertragen seien; allen Ernstes erklärte er: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.“ Und er weiß: „Eine generelle Delle in unserem Wohlstandsleben ist etwas, was Menschen ertragen können. Wir haben andere Probleme ertragen, und wir haben sie bewältigt.“ Über die große Hilfsbereitschaft für Ukraine-Flüchtlinge zeigte er sich entsprechend erfreut und empfahl, sich um andere zu kümmern. Denn: „Das Leben wird dann schön, obwohl es schwieriger wird.“ (Stern, 10.3.2022)
Einen Krieg, den andere an anderem Ort aus nachvollziehbaren materiellen Gründen führen müssen, als Gelegenheit zu einer langersehnten kollektiven Erweckung zu funktionalisieren, zeugt von einem postnazistischen Bewusstsein, in dem pathologische Egozentrik und entgrenzter Zynismus eine unentwirrbare Melange eingegangen sind. Theoretisch veredelt wird diese jederzeit abrufbare Grundstimmung in vornehmen Diskursen über die „postheroische Gesellschaft“ und das Ende soldatischer Männlichkeit, in denen probeweise die Entmannung, sprich die Selbstaufgabe des Westens durchgespielt wird und aus denen hervorgeht, dass der einzige Heroismus, der heute noch akzeptabel erscheint, das Zelebrieren dieser Selbstaufgabe ist. Diese ist ein Himmelfahrtskommando, das man in Deutschland, der Versuchsstation für kollektive Untergänge, offenbar anpacken will. Zunächst geht es darum, alle auf Mühsal und Entbehrungen einzustimmen; man will offenbar das Wenige, das die Durchschnittsdeutschen besitzen, um eines kollektiven Abenteuers willen zur Disposition stellen, um endlich jener höheren, wahren und „verantwortlichen“ Freiheit näher zu kommen, die man als Maskenträger, Abstandhalter, Impfabonnent und zur Beaufsichtigung von „Querdenkern“ Ermächtigter zwei Jahre lang an sich vollstreckt hat und die mit der Freiheit, die die Ukrainer anstreben, rein gar nichts, mit deutschen Hirngespinsten über Klimaneutralität und Nachhaltigkeit dafür umso mehr zu tun hat. Dreißig Jahre deutscher Ukraine-Politik waren und sind von dem Vorsatz geleitet, einen Aspiranten auf EU-Mitgliedschaft und damit auch auf einen offenen Arbeitsmarkt abzuwehren. Die Freiheit zum Beispiel polnischer Bauarbeiter im Deutschland der 1990er Jahre, die sich nicht nur Auto und Eigenheim erwirtschafteten, sondern inzwischen als Kleinunternehmer der einheimischen Baubranche erfolgreich Konkurrenz machen, die möchte man auf gar keinen Fall – so war das nicht gemeint mit der Solidarität, sondern so, dass ukrainische Fernfahrer gerne zu Tausenden ihr elendes Leben für einen Hungerlohn auf Europas Just-in-Time-Zulieferwegen verbringen dürfen. Den Deutschen geht es in ihren Solidaritätsbekundungen nicht um die bürgerlichen Ziele eines besseren Lebens, die sie mit Ukrainern verbinden würden, sondern lediglich darum, den Weg, den die Ukrainer zur Erreichung dieses Ziels derzeit zu gehen gezwungen sind, zu glorifizieren – denn der ist aktuell schmutzig und blutig und genau das ist es, wohin es die Deutschen immer wieder zieht. Den als unbehaglich empfundenen Ist-Zustand zu überwinden, in dem Gefühl, endlich einmal wieder gemeinsam etwas ertragen zu müssen, ist die pervertierte Sehnsucht an sich selbst irre gewordener nachbürgerlicher Subjekte, die sich je nach Generation und Vorliebe entweder in den Luftschutzkellern des Zweiten Weltkriegs wähnen, oder 40 Jahre später als Instandbesetzer jahrelang kollektiv an einer Bruchbude ohne Warmwasser und privatem Rückzugsraum herumwerkeln, oder am liebsten gleich in Wagenburgen, in Widerstands-„Camps“ oder wie erst kürzlich in Baumhäusern in dem zum „Hambi“ verniedlichten Hambacher Forst herumvegetieren. Einig sind sich dekomponierte Charaktere dieses Schlags mit dem furchtbaren Protestanten Gauck, dass es eng sein soll, die Hygienebedingungen mies, und mehrere übereinandergezogene Pullover besser, energiesparender und nachhaltiger als eine Zentralheizung.
Eine Politik, die lange vor dem Ukraine-Krieg im Namen übergeordneter „Klimaziele“ nur noch enge und kalte Wohnungen in Aussicht gestellt hat und obendrein vor zwei Jahren damit begann, die persönliche Freiheit der Deutschen sinnfrei und überdies zumeist rechtswidrig zu suspendieren, ist, obgleich dabei mitunter gar russisch anmutende Methoden von medialem Brainwashing und politscher Propaganda zur Anwendung kommen, kurz vor dem Ukrainekrieg an ihre Grenzen geraten. Obwohl kein ernst zu nehmender Widerstand sich rührte, waren die Deutschen und besonders jene, die weder über Abitur noch Festanstellung im öffentlichen Sektor verfügen, am 24.2.2022, als Russland die Ukraine überfiel, von den Zumutungen des Corona-Notstands zermürbt, überdies von Inflation und Preisexplosionen besonders auf dem Energiesektor aufgeschreckt und deshalb nicht für weitere Einschränkungen von Wohlstand und Freiheit zu haben. Um die Schönheit des Verzichts auf Lebensfreude und Lebensglück noch für den letzten Nörgler erlebbar zu machen, kam der russische Überfall auf die Ukraine in mehrerlei Hinsicht gerade recht. Die Willkommenszelte am Berliner Hauptbahnhof und die allerorts veranstalteten Armenspeisungen bedeuten in dieser Perspektive mehr als die Erstversorgung von Flüchtlingen. Sie sind zugleich eine nicht nur an die Prekären und Unbelehrbaren gerichtete Drohung an die eigene Bevölkerung mit einer Zukunft in Elend und unmittelbarer Abhängigkeit von einer immer schmaler werdenden staatlich gewährten Wohlfahrt. Zugleich ermöglicht es die Kriegssituation, die „Freiheit“, auf die sich zu berufen noch vor ein paar Monaten als Ausweis von Rechtspopulismus galt, plötzlich wieder laut und pathetisch im Munde zu führen und dabei die offensive Umdeutung und eigentlich Pervertierung des Begriffs im Sinne deutscher Ideologie nahtlos fortzusetzen: ein von Alltagserfahrung und Lebensbezügen gereinigtes, komplett abstraktes Ideal von Freiheit darf der entmachtete, aber sich kompensatorisch zum Weltpolitiker aufspielende Einzelne ruhig propagieren, aber keiner, der nur wieder unbehelligt und ohne Schikanen in seine Eckkneipe gehen will: das ist werteorientierte Politik im Deutschland des Jahres 2022.
Caritas statt Kampf
Auffällig ist, dass sich die angebliche Solidarität mit den kämpfenden Ukrainern schon nach wenigen Tagen Krieg in eine mit Ukraine-Flüchtlingen verwandelt hat – und das nicht nur deswegen, weil man unter keinen Umständen bereit war, das Land militärisch und logistisch gegen den Aggressor zu unterstützen. Flüchtlinge haben den großen Vorteil, dass sie in der Perspektive ihrer Betreuer als Objekte der Caritas schon mundtot und auf Dankbarkeit reduziert sind, bevor sie auch nur zu „uns“ kommen. Auf die Frage, warum sie bzw. ihre männlichen Angehörigen sich unerhörterweise einem ungleich stärkeren Gegner in den Weg gestellt und welchen Sieg sie sich erhofft haben, wird von den Organisatoren und freiwilligen Statisten der unvermeidlichen Hilfsbereitschaft, die in den Kategorien von Suppenküchen und Gemeinschaftsbaracken denken, eine Antwort erst gar nicht gesucht. Sie tun es aus niederträchtigem Mitleid mit den zu Objekten Herabgewürdigten und ganz sicher nicht aus Solidarität in einem gemeinsam zu führenden Kampf für die bürgerliche Freiheit. Schon deshalb durfte besonders an Polen gerichtet, das nicht nur das zwanzigfache an Flüchtlingen beherbergt, sondern sich mit diesen in ihrem Verteidigungskrieg verbunden fühlt, der hämische Rassismus-Vorwurf nicht fehlen, dass sie keine moslemischen Flüchtlinge ins Land lassen wollten. Folgerichtig wurde auch der Verweis auf die Eroberung Ost-Aleppos nach Wochen schweren russischen Bombardements durch die syrische Armee im Jahr 2015 und die damit sich verstärkende Flüchtlingswelle Richtung Westen nachgeschoben. Dass Ost-Aleppo von dschihadistischen Barbaren gehalten wurde, die die Zivilbevölkerung als menschliches Schutzschild mißbrauchten und vorher die christliche Bevölkerung enteignet und vertrieben hatten, fehlt im Flüchtlingsnarrativ regelmäßig. Diese Art Freiheit von Jungmännern, die ihrer unbedingt zu respektierenden Tradition folgend jederzeit ihre Schwestern massakrieren würden, wenn sie auf sexuelle Abwege gerieten und die Vernichtung aller und nicht nur der israelischen Juden für ein gottgefälliges Ziel halten – was sie deutschen Journalisten jederzeit lächelnd ins Mikrophon sprechen – ist nämlich deutschen Antirassisten allemal näher als die dezidiert westlich orientierten Aktivitäten der Ukrainer für ein schönes Leben. Warum arabische Dschihadisten als Nachbarn willkommener sind als das angeblich befreundete und in Wahrheit andauernd beargwöhnte Nachbarland Polen, das sich knebelbärtige Aleppo-Verteidiger genauso vom Leibe hält wie tschetschenische Mordbrenner, die in Deutschland Asyl genießen, liegt nicht daran, dass man besonders gute Erfahrungen mit ihnen gemacht hätte. Vielmehr sind islamische Zuwanderer das Unterpfand für einen deutschen Freiheitsweg, der zielstrebig von dem wegführt, was die Polen teilweise erreicht haben und wofür die Ukrainer heute kämpfen, ohne dass absehbar wäre, was tatsächlich daraus wird.
Was aber das Ziel dieses sehr deutschen Freiheitsweges ist, vermöchten auch dessen entschlossenste Protagonisten nicht anzugeben. Diese Ziellosigkeit und Selbstzweckhaftigkeit, wie sie sich in der Feier der scheinbar selbstauferlegten, in Wirklichkeit von den eigenen Herren oktroyierten Kärglichkeit äußert, verführt zum Abenteurertum auch dann, wenn es zunächst noch bei Leitartikeln und Sonntagsreden bleibt. Was man sich selber verordnen will und im Namen einer abstrakten „Gesundheit“ oder „Nachhaltigkeit“ seit geraumer Zeit auch praktiziert – den permanenten Notstand – darf auf seinen Zweck nie befragt werden; es muss die beschwörerische Versicherung genügen, dass das Leben erst dann schön wird, wenn es schwieriger wird. Wo es keine Zielvorstellungen mehr gibt, sondern der Weg selber das Ziel ist, werden aus Wegmarken Fakten. Die antiindustriellen Träumereien von einer „Energiewende“ haben nach der Abschaltung der Atomkraftwerke und der rigorosen Rückführung der Kohleverstromung dazu geführt, dass schon bald immer mehr Landsleute in kalten Wohnungen ausharren müssen und der Flug auf die Kanaren ihnen verwehrt sein wird. Dass die seit nunmehr zwei Jahren in Deutschland de facto abgehaltenen Notstandübungen sich wahnhaft verselbständigen, merkt man daran, dass ihre verkehrten Kriterien auf egal welches Thema übertragen werden, mit der Konsequenz, dass auch jedes grundsätzliche Argument dagegen erst delegitimiert und anschließend sofort zur Aufrechterhaltung des Notstands instrumentalisiert wird. Das zutreffende Argument etwa, dass die deutsche Energiepolitik der letzten 30 Jahre ein despotisches Regime mit am Leben gehalten und Putins Angriffskrieg vorfinanziert hat und die daraus abgeleitete Forderung nach einem Importstopp für russisches Gas und Öl – noch vor wenigen Wochen verfemt und undenkbar – halfen am Ende nur, den vorgefassten energiepolitischen Wahnsinn erst recht zu bestätigen: das gigantische Energieloch, das sich dann auftun würde, ließe sich binnen kurzer Zeit durch noch mehr auf heimischer Scholle zu erzeugende erneuerbare Energien schließen, verlautbarten allen Ernstes verschiedene Bundesminister einer Regierung, die sich angesichts eines längst erklärten „Klimanotstands“ gleich drei Klimaminister leistet: eine für Umwelt, einen für Wirtschaft und eine für Außenpolitik. Dieser mit der Autarkie liebäugelnde Alptraum von einer nachindustriellen Gesellschaft muss, zu Ende gedacht, zu rapidem ökonomischen Niedergang bei gleichzeitiger Geworfenheit auf sich selbst führen. Die unmittelbaren Folgen werden der verspätet eingeleitete Import von sehr teurer fossiler und Atomenergie sein, bei gleichzeitiger Unfähig- und Unwilligkeit, aus dem Irrsinn, für den die alleinige Orientierung auf Wind- und Solarparks in einem Industrieland exemplarisch steht, auszusteigen. Der mögliche Weg zurück wird zielstrebig und seit Jahren abgeschnitten: keine Forschung und keine Planung in Sachen verbesserter Atom- oder Kohleverstromung, keine staatlich protegierte Kampagne wie das im letzten Jahr in Frankreich präsentierte „Réinventer le nucléaire“ – Deutschland geht einen Sonderweg und d.h. es hängt sich ab.
Wer über 50 Prozent des benötigten Gases in Russland ordert und damit von diesen Lieferungen abhängig ist, aber sich gleichzeitig zum Repräsentanten des freien Westens gegenüber seinem Lieferanten aufwirft; wer seit Willy Brandts „Wandel durch Annäherung“ im Zweifel immer alles besser wissen wollte und sich durch seine politische Exportökonomie auch von China abhängig gemacht hat wie kein zweiter, steht international als Bankrotteur da und musste eine Besserung geloben, die nicht so gemeint ist. In den schiefen Worten Robert Habecks im Deutschlandfunk-Interview: „Herr Habeck, hat das Kopfschütteln in Washington aufgehört? Ja. Rückblickend muss man sagen, dass das Kopfschütteln laut war und deutlich war […]. Musste erst ein Krieg kommen […]?: Scheint so.“ (Dlf, 3.3.2022) Wer wie Deutschland einen Aggressor zu politischer Mäßigung ermahnt, obwohl es jahrzehntelang alles dafür getan hat, dass die eigene Armee zu einem Kommando von Brunnenbohrern und Barackenbauern für allerlei Flüchtlinge verkommen ist, musste, als die Aggression gegen die Ukraine in die kriegerische Phase eintrat, alles scheinbar zerknirscht mitvollziehen, was das westliche Ausland gegen Russland verhängte. Mehr noch: Eine kurze Weile sah es so aus, dass deutsche Sonderwege die mit den Namen Nordstream 2, Nordstream 1 und der Gazprom verbunden sind, mit einem Federstrich getilgt werden würden und zum Ersatz selbst Kohleverstromung und gar die Verlängerung der Laufzeiten der letzten Kernkraftwerke verhandelbar sein könnten – und man hätte sich sehr darauf gefreut, dass Robert Habeck den Wiedereinstieg in die Kernenergie verkünden würde. Aber was echte Nachhaltigkeit bedeutet, weiß man in Deutschland halt am besten und längst rudert man zurück zur Ausgangsposition: man besteht auf der Aufrechterhaltung russischer Gasimporte, weist privilegierte Aufnahmeverhandlungen der EU mit der Ukraine brüsk zurück, warnt vor weiteren westlichen Waffenlieferungen und schickt den Gerd von der Gazprom zu Putin.
Politik und deren Ersatz
Kompensatorisch zu dieser Außenpolitik, die es sich mit dem Despoten und Kriegsherrn nicht verderben mag, praktiziert man an der Heimatfront – und leider nicht nur in Deutschland, dort aber mit besonderem Eifer – das übliche und üble Selbstdarstellungstheater, in der mit schriller und maßloser Rhetorik ein „Zeichen gesetzt“ und „Haltung gezeigt“ wird, indem man blindwütig alles Russische verbannt: man traut sich zwar nicht gegen die russische Regierung vorzugehen, aber dafür ergeht von einer Bäckerei die Anweisung, „Russischen Zupfkuchen“ vorerst nur noch „Zupfkuchen“ zu nennen, es wird ein Uni-Seminar über Dostojewski abgesagt, es werden deutsch-russische Wissenschaftskooperationen beendet, es wird Musik von Tschaikowsky aus den Programmen genommen, eines Komponisten, der – wenn man Kunst schon politisch betrachtet – auf alle Fälle westlich orientiert war und in Russland als schwuler Pazifist, der er war, nicht thematisiert werden darf.
Auch hier das sattsam bekannte Muster: statt effektiver politischer Handlungen ersatzweise eine Moraloffensive an einer imaginären Heimatfront, mit der sich die politische Ökonomie des Corona-Notstands umstandslos verlängern lässt: allen, die sich selbst in den letzten zwei Jahren im Namen der „Gesundheit“ zu Ehren-Hausmeistern und Beaufsichtigern ihrer Mitmenschen geschult haben, dürfen nun ihre Fähigkeiten im Canceln von allem, was „russisch“ und damit per se schon kriegsverherrlichend sein könnte, unter Beweis stellen; für die „Kulturschaffenden“, wie sich die Angestellten der Kulturindustrie mit einer bei den Nazis und Stalinisten gleichermaßen gebräuchlichen Bezeichnung selber gerne titulieren, ist es eine schöne Gelegenheit, einen Schritt weiter zur Entbürgerlichung der Kunst zu tun und die gleichermaßen banausische wie barbarische postmoderne Auffassung, dass Kunst Ausdruck einer kollektiven „Identität“ und Kunstausübung eine unmittelbar politische Stellungnahme sei, im Canceln unliebsamer Künstler und ihrer Produkte weiter durchzusetzen – eine Anschauung wohlgemerkt, die vermutlich auch Putin vertritt und die in allen totalitären Systemen die Norm darstellt. Aber nicht nur die verdrehten Maßstäbe politischer Korrektheit und „Wokeness“, wie sie im Kulturbetrieb schon seit längerem Standard sind, setzen sich auf diese Weise weiter durch, sondern auch die gleichermaßen verkehrten des Corona-Regimes, wie der Fall Valeri Gergiev demonstriert: einen Dirigenten zu kündigen, weil er sich zum Krieg gerade nicht äußert, sondern weiterhin einfach Kunst macht und weil man allenfalls vermuten kann, er könnte auch jetzt Putin die Stange halten, ist nicht nur ein Akt atemberaubender Willkür, sondern setzt die Politik des hypothetischen Verdachts gegen „Impfgegner“ und die angeblich von ihnen ausgehende Gefährdung der Öffentlichkeit unmittelbar fort. So etwas geht nur deswegen durch, weil die Segregation und Ungleichbehandlung von Menschen anhand einer ihnen unterstellten Illoyalität längst diskutabel und reputabel wurde. Ein willkommener Nebeneffekt ist, dass sich in der antipolitischen Moraloffensive gegen alles Russische und alle, die im Verdacht stehen, es mit Putin zu halten, sich auch gleich jene lästigen Zeitgenossen als „Putin-Versteher“ diskreditieren lassen, die wie Alice Weidel von der AfD oder Sahra Wagenknecht von der Linken durch allzu kritische Nachfragen zu Corona negativ aufgefallen sind. Unabhängig davon, ob sie es wirklich sind, verhält es sich so, dass an ihnen und an anderen eine gesellschaftliche Formierung vollzogen wird, in der auf der Basis eines unberechenbar gewordenen Alltags nur noch die Zuverlässigkeit angesichts von periodisch erneuerten Tagesbefehlen und wechselnden Feindprojektionen abgeprüft wird und die in ihrer Selbstzweckhaftigkeit zur deutschen Abenteurerpolitik nahtlos passt.
Damit ist ebenso sehr klar, dass es sich bei der derzeitigen Kampagne gerade nicht um einen genuinen „Russen-Hass“ handelt, der in Wahrheit mit jedem weiteren Jahr, das einen von der bedingungslosen Kapitulation trennt, irrelevanter und auch angesichts eines Brandanschlags auf eine russische Schule in Berlin-Marzahn am 11.3.2022 nicht plausibler wird. Seine regelmäßige Beschwörung taugt nur dazu, sein immanentes Gegenteil, nämlich eine unbegreifliche Liebe zu bekräftigen, die deutsche Ideologen stellvertretend für Russland empfinden (und die periodisch tatsächlich in nicht minder blinden Haß umschlagen kann). Die ist nicht nur ganz rechts und ganz links zu Hause, sondern gerade in der meinungsführenden linken Mitte der Gesellschaft. Während im Spektrum der europäischen neuen Rechten von AfD bis Rassemblement National die Bewunderung für die brutale russische Machtpolitik leitend ist, der man ihre irgendwie antikapitalistischen Motive hoch anrechnet, so herrscht in der Mitte ein grotesk verzeichnetes Russlandbild vor, das hinter der grausamen Unterdrückung einen humanistischen Kern im russischen Wesen sucht. Bis tief in die 1990er Jahre vermutete man in den von Stalin und Hitler und dann wieder Stalin geknechteten Russen ein stilles Volk der Bücher lesenden und theaterliebenden Arbeiter und Bauern, die von westlicher Kulturindustrie unverdorben ein unverfälschtes Leben anstrebten. Diese versöhnliche Haltung, die mit vielen Reminiszenzen an die Lehren aus der Geschichte garniert ist, war vor allem im Dunstkreis der SPD mit den ihr nahestehenden Intellektuellen und sonstigen Liedermachern zur Glaubenssache erhoben worden. Unangenehmer noch als bei SED-Nostalgikern und verhinderten Nationalbolschewisten rechter Couleur, tritt die Verachtung gegenüber dem eigenen Anteil am Los dieser zu Schöngeistern verklärten Entrechteten und mit ihnen der dem Territorium der SU zugeschlagenen Nationen in Erscheinung. Was man Russen wünschen und worin man sie auch politisch unterstützen sollte: ihre Befreiung vom Despotismus sowjetischer Provenienz und damit immer auch russischen Joch trat mit der Erringung der ideologischen Hegemonie durch die Linke seit spätestens 1968 in den Hintergrund und wurde zunehmend als revanchistisch und tendenziell neonazistisch verdächtigt. Zum Verständnis gegenüber „den“ Russen gehörte denn auch das für Stalins jovial erscheinenden Nachfolger, der mit seiner halbprivaten Propagandatour durch die USA im Jahr 1959 sich die Herzen der Bewohner des freien Westens eroberte. In einer Mischung aus scheinbar bodenständiger Unbeholfenheit, unmittelbarer Herzlichkeit und gegebenenfalls lärmender Drohgebärde in Wortwahl und Gestus hatte Nikita Chruschtschow in nur zwei Wochen beinahe vergessen lassen, dass doch er es gewesen ist, der als der Schlächter der Ukrainer in die Geschichtsbücher eingegangen ist und erst ein Jahr zuvor den Dichter Boris Pasternak aufs Viehischste öffentlich schmähen und bedrohen ließ, bis dieser den Nobelpreis ausschlug und Abbitte leistete. Alles das, was Russen nicht sind: cholerisch, rührselig, brutal und sentimental zugleich, was sie aber sein sollen in den Augen ihrer Zurichter und der anteilnehmend schauernden Bewunderer echten Skythentums, lenkt immer wieder auf den Ausgangspunkt der Bewunderung zurück: Eine Jahrhunderte alte und im 20. Jahrhundert von den Sowjets maßlos forcierte despotische Unterdrückung, die aus Menschen erst gemacht hat, was man an scheinbar unverfälschtem mithin antizivilisatorischem und deshalb edlem Wesen in ihnen entdeckte.
Allzu lange war versucht worden, die Sowjetunion als Projekt einer nachholenden Modernisierung dem Westen zuzuschlagen, gerade so, als verbürgten Industrieschlote, Monokulturen und Plattenbauten individuelle Freiheit und die Teilhabe von Bürgern an politischen und gesellschaftlichen Fragen. Die Ausblendung der mit ihr verbundenen brutalen und unmittelbaren Gewalt und ihre Verhimmelung zugleich, hat bereits in den 1930er Jahren nicht nur fast die komplette europäische Linke einer Modernisierungstat zujubeln lassen, gegen die man zu Hause buchstäblich auf die Barrikaden gegangen wäre. Denn auch wenn der ukrainische Nationalmythos vom „Holodomor“ schon deshalb zurückzuweisen ist, weil mit dem Namen eine Gleichsetzung der großen Hungersnot mit dem Holocaust bezweckt ist: eine Zwangsmodernisierung militärischen Zuschnitts, zu der der Massenmord an der Landbevölkerung gehörte, hat seit den späten 1920er Jahren dort zweifellos stattgefunden. Denn wer den Bauern – nicht nur in der Ukraine – Saatgut und Vieh entzieht, kalkuliert ihren Hungertod ein; wer die Hungergebiete auch noch abriegelt und jede Hilfe von außen unterbindet, ist, jeder in seiner Funktion, Täter. Solche selbst beim großen Bauernlegen während der ursprünglichen Akkumulation im 16. und 17. Jahrhundert unbekannte Grausamkeit, zu der die faktische Versklavung der nunmehr als Landarbeiter robotenden Überlebenden gehörte, wurde dann mit Floskeln aus dem Arsenal des Marxismus-Leninismus schöngeredet und zurechtrationalisiert: es hätten dabei ja keine Privatpersonen profitiert, das Ganze habe keinen Kapitalinteressen gedient, sondern dem Menschheitsfortschritt und deshalb, so der Tenor, heilige der gute Zweck alle Mittel. Solche Logik verhieß auch für die nachfolgenden Generationen sowjetischer Bürger nichts Gutes: Sie
hatten als letztlich durch ihre Bezwinger beglücktes Völkerkonglomerat zu gelten, die das, was ihnen angetan worden ist, nie benennen durften. Dass die stalinistischen „Großtaten“ nur der Statistik nach „Modernisierung“ geheißen werden können, in Wirklichkeit aber das gerade Gegenteil dessen sind, was dieses Wort im empathischen Sinn meint, nämlich die Etablierung und Verbreitung bürgerlicher Freiheit – diese Einsicht in das von Anfang an angelegte Scheitern eines Revolution geheißenen Amoklaufs des totalen Staates fehlte und fehlt nicht nur bei Deutschen.
Allerdings war keine Nation so affin zu den Resultaten russischer Gewaltherrschaft wie die angeblich westliche deutsche: kein Wunder, denn sie war ebenso wie die russische zugleich eine Gesellschaft „nachholender Entwicklung“ und eine „verspätete Nation“. Maßlose Staatsaktivitäten bei gleichzeitiger Abwesenheit privater Wirtschaftsinteressen – diese materielle Basis russischer Staatlichkeit schon lange vor 1917 und damit eben auch der Massenpsychologie russischer Seelen, hat deutsche Bewunderer in einem Anflug von Ehrfurcht und wohligem Schaudern immer bewegt, auch wenn ihr Herz angeblich nur für die angeblich geduldigen Bewohner von Holzhütten schlug. Nicht zwischen Herrschern und Beherrschten, dem totalen Staat und den ihm Ausgelieferten unterscheiden zu wollen, sondern in Willkür und Gewalt die Grundlage für die schöne Seele des russischen Volkes entdecken zu wollen, hat deutsche Russlandfreundschaft regelmäßig geleitet. Dieser deutsche Weg, der von Rainer Maria Rilke und Möller van den Bruck zu einem verschlossenen Eisenbahnwaggon im Frühjahr 1917 führte und weiter zur Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee ab 1920 und von Karl Radek zu den Strasser-Brüdern, bleibt anschlussfähig.
Integration und Okkupation
Russische Propaganda kann in der ukrainischen Souveränität nur die Folgen einer illegitimen und „faschistischen“ Abspaltung erkennen und stempelt damit den Wegläufer bizarrerweise zum Eindringling. Separatismus ist der Schrecken aller Regimes, die es nicht verstanden haben, ihre Bewohner mit Gewalt und Überzeugung zu Staatsbürgern in ihrer doppelten Form als Produzenten und aktiv an den Staatsgeschäften Beteiligte zu formen. Staatsbürgerschaft und verschiedene ethnische oder kulturelle Herkunft müssen dabei nicht kollidieren – der Abfall von ganzen Landesteilen steht vielmehr dann zu befürchten, wenn etwas Besseres als der Bezug auf die eigene Ethnie oder Rasse nicht im Angebot steht. Das zaristische, das sowjetische und dann das putinsche Rußland beruhen hingegen auf einer imperialistischen Politik der Arrondierung des Terrains an den immer weiter vorgeschobenen Landesgrenzen, ohne dass ein Schlussstein dieser Ausdehnung je benannt wurde. Diese Politik scheiterte bereits am Beginn final, als im 16. Jahrhundert unter Iwan dem Schrecklichen parallel zur Westausdehnung gegen die polnischen und litauischen Großreiche die brutale Niederwerfung der wenigen bedeutenden Handels- und Handwerkerstädte bei damit einhergehender weitgehender physischer Liquidierung ihrer Bewohner die Option auf ein absolutistisches Regime nach französischem Vorbild für immer liquidiert wurde. Ein russisches Bürgertum ist im zaristischen Reich nie entstanden – und die wenigen Ansätze dazu seit dem mittleren 19. Jahrhundert fielen nicht erst Lenins Staatskapitalismus zum Opfer, sondern waren spätestens 1905 mit der Niederschlagung der Revolution obsolet. Damals wurde der mögliche Kompromiss für eine gemäßigt sozialdemokratische Herrschaft nicht nur vom Zarismus, sondern parallel von innen heraus durch ein selbstverliebtes wie skrupelloses Revoluzzertum obskurer aber zahlreicher radikaler Schwadroneure verhindert, die nichts mehr fürchteten, als in einem bürgerlichen Beruf in einer bürgerlichen Welt bestehen zu müssen. Es handelte sich dabei um Abenteurer, die der Antisemit und großrussische Chauvinist Dostojewski schon Jahrzehnte davor in seinen Romanen als Inkarnation einer ins unklar Unendliche ausgreifenden russischen Identitätssehnsucht beschrieben hat. Die Ökonomie Rußlands beschränkte sich seit Iwan dem Schrecklichen mit der Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen, ergänzt um die Ausfuhr von Weizen aus vor allem auf dem Gebiet der heutigen Ukraine liegenden Monokulturen. Dabei blieb die Industrie in Staatshand und diente ganz vorwiegend der Rüstungsproduktion. Universelle, d.h. über die jeweilige Herkunftsregion hinausreichende Beziehungen der Bewohner entlang der Kriterien von Produktion und Handel unterblieben hingegen. Während die Ausdehnung nach Sibirien als koloniales Projekt mangels zu kolonisierender Ureinwohner ohne Bedeutung blieb und in der Schwarzmeerregion, etwa in Odessa, nach dem Sieg über die Osmanen das russische Imperium wie sein Vorgänger den zumeist nicht moslemischen und auch nicht russischen Einwohnern weitgehende Autonomie gewährte, weil das Interesse an der dort vorherrschenden Produktivität das an der Unterdrückung überwog, war für den Separatismus in Russland die misslungene Integration der unterworfenen Westvölker, vor allem Polen und Balten maßgebend. Schon im 19. Jahrhundert erfasste der Separatismus auch Weißrussen und Ukrainer: auch Ihnen erschien das russische Angebot ungenügend, die Integration in ein System der Repression, der Zwangsrekrutierung, der bürokratischen Gängelung und kaum zu stemmender Steuerlasten bei gleichzeitiger Hemmung größerer kapitalistischer Unternehmungen unattraktiv.
Am Beispiel der Ukraine und den Massendemonstrationen in Weißrussland im Jahr 2020 zeigt sich, dass Separatismus antirussisch sein kann, ja im Spiegel der fortwährenden Geschichte großrussischer Unterdrückung wohl auch sein muss, ohne sich gegen „die“ Russen zu richten, dass er nationalistisch sein kann, ohne zu viel Wert auf all die behaupteten ethnischen und kulturellen Besonderheiten zu legen. Im Donbass zum Beispiel kämpfen Leute für die ukrainische Sache, die sich als von Herkunft russisch bezeichnen und sich mit dem Ukrainischen schwer tun, während zugleich junge russische Soldaten sich wunderten, warum sie in den von ihnen „befreiten“ Gebieten auf lauter „Russen“ stießen, die ihnen in ihrer Sprache bedeuteten, sie sollten heimgehen. Ausschlaggebend für die ukrainische Emanzipation von der seit 1991 indirekten russischen Herrschaft und ständiger ideologischer Bevormundung ist die Nachbarschaft zu den aus dem Warschauer Pakt befreiten Nachbarn Polen bzw. den baltischen Ländern, Rumänien und selbst Moldawien. Der ukrainische und möglicherweise bald schon weißrussische Separatismus ist die einzige Option auf ein besseres Leben, denn die Alternative, die nur in einem sich selbst befreienden russischen Kernland liegen könnte, steht nicht in Aussicht.
Der Unterschied, ob ein imperialistisches Regime sich Überseegebiete in Gestalt von Kolonien unterwirft und dort den Raub organisierende Verwaltungen einrichtet, oder das eigene Territorium durch Eroberung vergrößert, ist von grundsätzlicher Art und vor dem Hintergrund „postkolonialer“ Anstrengungen, den Nationalsozialismus und dessen Protektoratsbestrebungen gerade im Fall der Ukraine zu einem „normalen“ westlichen Kolonialprojekt umzulügen, umso stärker zu betonen: Kolonien konnte man dann, wenn sich die Beherrschten nicht mehr mit ihrem Status abfanden, ohne allzu großen Prestigeverlust in einen selbstverwalteten und schon bald autonomen Status entlassen, denn sie galten nicht als konstitutiver Teil des Mutterlands. Hingegen geht die Entlassung von dem Mutterland einverleibten okkupierten Gebieten in die Unabhängigkeit an die nationale Substanz: denn nicht nur die misslungene Integration der Abtrünnigen steht dann zu beklagen, sondern es stellt sich nach diesen Kriterien die bange Frage nach zunächst den Grenzen und schon bald der nationalen Selbstversicherung des Mutterlandes, wenn gar keine „fremden“ Völker mehr abfallen wollen.
Das russische Kernland wird den Alptraum des Separatismus desto weniger in den Griff bekommen, je auftrumpfender eine auf vergangener Größe aufruhende russische Identität beschworen wird, deren Bannerträger jeden Zweifler in den Ruf auch rassischer Unzuverlässigkeit bringen. Was Lenin einmal den stets zu bekämpfenden großrussischen Chauvinismus genannt hat und ihn zu einer bisweilen bizarr und manieristisch anmutenden Nationalitätenpolitik animierte, die die antinationale Rosa Luxemburg im Fall der Ukraine nicht frei von polnischem Patriotismus seinerzeit auf die Palme brachte, ist heute die Selbstversicherung von irre gewordenen Anhängern eines untergehenden Regimes, das nur noch zusammenhält, weil Ausbeutung eigener Rohstoffe und der Handel mit ihnen immerhin noch ausreichen, um Wohnung, Heizung, Kleidung und Nahrungsmittel für jedermann zu gewährleisten. Das mag auch angesichts der überall herrschenden Bedrückung in einem Klientelsystem, in dem durch Loyalität begründete Beziehungen alles sind und die skrupellosen von Privatarmeen umgebenen Profiteure einem täglich durch die bloße Zurschaustellung ihres Raubgut die eigene jämmerliche Existenz verdeutlichen, noch lange gut gehen. Ein Ausweg ist nicht ersichtlich, solange die Praxis der Rassifizierung der Bevölkerung zu dem Zweck, sie im Namen des „Antifaschismus“ als Garanten eines alle Grenzen sprengenden Russentums nicht von innen heraus gebrochen wird. Das gilt entsprechend auch für die zu Ersatz-Kosaken umgeschmiedeten Hilfsvölker, die, wie allen voran die Tschetschenen, mit besonderer Grausamkeit die russische Sache verfechten, um „zu Hause“ in autochthoner Barbarei zu verharren. Dass das russische System längst nicht bei allen Russen verfängt, zeigen einerseits die Demonstrationen und Aktionen (wie etwa jüngst im russischen Fernsehen) gegen den Krieg, andererseits die Meldung, dass vor allem die russischen Jugendlichen und die Angehörigen intellektueller Berufe nichts sehnlicher wünschen, als sich in den Westen abzusetzen; sie wären bei entsprechender Gelegenheit vermutlich die ersten, die Putin und dem System, das er repräsentiert, einen Maidan bereiten würden.
Verteidigung und Preisgabe von Freiheiten
So wie die deutsche Zuneigung gegenüber Russland historisch der Gemeinsamkeit entspringt, nachholende Gesellschaften mit starkem Staat und schwachem Bürgertum zu sein, die ihre Zurückgebliebenheit als Fortschritt ummünzen, so ist die aktuelle Wahlverwandtschaft dadurch charakterisiert, dass es sich um eine Koalition der Abgewirtschafteten und prospektiven Bankrotteure, die sich gegenseitig stützen, handelt. Putins Russland lebt, ähnlich wie die frühere Sowjetunion, über seine Verhältnisse und muß gerade deshalb umso stärker auf sein wieder hochgerüstetes Militär und einen möglichst schwachen Westen setzen, wenn es nicht das sein will, was es ohne seine Waffen, insbesondere seine atomaren, in Wirklichkeit ist: nicht mehr als eine „Regionalmacht, die alleine steht“, wie es Obama 2014 auf den Punkt brachte, deren Wirtschaftsleistung unter der Italiens liegt. Im Unterschied zur Sowjetunion verfügt das heutige Russland in nur vernachlässigbarer Größenordnung über Vergleichbares wie einen Vorhof aus Satellitenstaaten, den sich die Sowjetunion beginnend mit dem Hitler-Stalin-Pakt und dann dank Sieg über die Deutschen mit nachfolgender Breschnew-Doktrin ab 1968 halten konnte. Dass es wie jede Macht, die sich selbst überschätzt, dumm und plump agiert und dabei selbst bei seinen Schönrednern Kredit verspielt, ist wenigstens ein kleiner Ansatz für Hoffnung: den medialen Krieg der Bilder und Worte hat Putin schon längst verloren, während der ukrainische Präsident im Gegenzug äußerst geschickt und intelligent agiert und dabei nicht mit Kritik am Westen und insbesondere Deutschland spart.
Deutschland wiederum hat sich mit dem Atomausstieg, der „Willkommenskultur“, der „Klimaneutralität“ und dem Corona-Regime auf seine Kernkompetenzen Panikproduktion und Katastrophenpolitik besonnen. Deutsches Abenteurertum ist nicht einfach nur eine harmlose Lust am Eskapismus – es meint die Sehnsucht nach dem institutionalisierten Ausbruch aus Konvention und Verlässlichkeit, beides Voraussetzungen für ein gewaltfreies Nebeneinander von Bürgern, die ungestört ihren jeweiligen Geschäften nachgehen wollen. Aus diesem Nebeneinander soll ein zwanghaftes Miteinander ohne Notausgang werden – und damit das halbwegs funktioniert, muß die erhoffte möglichst klaglose Hinnahme, im Zweifel aber auch brutale Oktroyierung von Not und Zwang ins Grenzenlose und Unermessliche ausgreifen. Der böse deutsche Traum von der totalitären Sache ist bei aller Verwandtschaft mit dem russischen Großmachttraum, was die Maßlosigkeit betrifft, diesem weit überlegen. Die Segregation der Bevölkerung nach Rassen haben sie längst großzügig an die guten Nachbarn und Gäste aus Ost-Aleppo und anderswo abgetreten, die peinlich genau darüber wachen, dass ja keine Vermischung stattfindet und ihr Menschenrecht auf kulturelle und religiöse Identität vom Staat eingehalten wird. Mit Deutschland ist Freiheit nach ukrainischen Maßgaben nicht zu haben, denn dieses Land wird jeden Versuch, Verhältnisse zu schaffen, die mehr Lebensglück und Lebensfreude bereithalten, aus den menschenfreundlichsten Gründen sabotieren. Das haben zuallererst die Ukrainer und auch das dortige Staatspersonal bemerkt und zuletzt wurde es nach der in den deutschen Bundestag übertragenen Rede Selenskyis so deutlich, dass keine Fragen mehr offenbleiben: keine menschliche Reaktion darauf, keine Debatte darüber außer einer über die Geschäftsordnung und anschließend über die Corona-Impfpflicht.
Nicht absehbar ist daher, ob Deutschland sich mit seinem erneuerten Sonderweg isoliert und zum Irrläufer Europas wird oder andere mit in den absehbaren Abgrund ziehen wird. Momentan will es will so scheinen, als ob mit jedem auf griechischen oder englischen Hügeln aufgestelltem Windrad, jeder neuen Moschee in einem europäischen Land und jeder Palette mit chinesischen Softwareprodukten Europa immer mehr dem deutschen Weg verfällt. Aber ausgemacht ist das noch lange nicht und wie es ausgeht, liegt nicht zuletzt an osteuropäischen Staaten wie den baltischen, an Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei etc., die den Weg der Selbstpreisgabe des Westens nach innen und nach außen, auf dem Deutschland und die deutsch dominierte EU vorangehen, auf keinen Fall mitmachen und die wie z.B. Tschechien und Ungarn, die in den letzten Jahren eng mit Putins Rußland kooperierten, im Unterschied zu Deutschland aber nach Kriegsbeginn eine unmißverständliche Kehrtwende hinlegten.
Kein Zweifel, dass „der Westen“ seinen Anhängern wie seinen Gegnern insgesamt wie eine abbruchreife Ruine erscheint – wäre es anders, dann hätte sich Putin niemals getraut, die Ukraine zu überfallen. Dass im Westen und im Epizentrum des Irrsinns, Deutschland, allerorten daran gearbeitet wird, jene alltägliche Freiheit, für die die Ukrainer eintreten, zu kassieren und zu pervertieren und sich damit wahlweise russischen Zuständen oder denen Chinas, seinem weltpolitischen Verbündeten, bedenklich anzunähern, ist unbestreitbar. Was dieses Unternehmen aber auslöst, welche Gegenkräfte es auf den Plan ruft, welche Konflikte und Verlaufsformen es provoziert, ist nicht ausgemacht. Und deshalb ist jede mit ebenso routiniert-überlegener wie fatalistisch-achselzuckender Gebärde vorgetragene Unterstellung, wonach die Freiheit im Westen sowieso schon nicht mehr existent sei, die vorauseilende Akzeptanz jenes Zustands, auf den die deutsche Abenteuerpolitik zusteuert und in dieser Hinsicht ein Moment ihrer Durchsetzung, auch wenn die Diagnose möglicherweise kritisch oder anklagend gemeint sein sollte, wogegen aber schon der defaitistische Sound der folgenden Stellungnahme spricht: „Für die Freiheit, die, weil zuhause ohnehin nicht mehr existent, nunmehr nicht länger am Hindukusch (der ist in weite Ferne gerückt), sondern am Donbass verteidigt werden soll, lassen sich auch keine Ukrainer mehr einspannen, die, sofern Zivilisten, in Massen über Polens Grenze desertieren oder, sofern Militärs, offenbar Arbeitsverweigerung betreiben – ausgenommen neonazistische staatliche Söldnertrupps, die aus blankem Eigeninteresse versuchen, ihren Arsch vor der brutalen Haue zu retten, die Rußland für sie vorgesehen hat. Der Orangen-Präsident Zelenskij zoomt aus seinem Führerbunker zunächst, die Bevölkerung solle sich mit Molotov-Cocktails bewaffnen, dann gibt er wahllos Schußwaffen in den Straßen aus, die in wer weiß welchem Gemetzel in Zukunft verwendet werden (jedenfalls nicht mehr in dem aktuellen Kriegstheater), schließlich ruft er international dazu auf, dass sich gerne Freischärler aus aller Welt in den ukrainischen Kampf stürzen dürfen (was eine unbekannte Anzahl organisierter Faschisten aus dem Westen ohnehin schon tun). […] Nun ja, der kühl kalkulierende Putin wird seinen Teil des Spektakels schon sehr bald beendet haben und sich dann wieder nach Süden und Osten ausrichten, dann steht die Gegenseite erst einmal blank da.“ (www.magazinredaktion.tk/ukraine.php)
Was noch kommt wird Deutschland nicht aufhalten
Es kann dem Moralweltmeister Deutschland nur entgegenkommen und von seiner Totalblamage an der Realität ablenken, dass derzeit als Teil des Spektakels unter Anleitung der Amerikaner eine kollektive Wokeness der Moral zur Aufführung kommt, die mit ihrer durchaus wirksamen Cancel Culture gegen Russland letztlich dafür steht, die Moralisierung der Politik und damit ihre faktische Entpolitisierung immer weiter voranzutreiben. Am Ende könnte es, wenn Israel einen heißen Krieg nicht gegen die Hamas, sondern direkt gegen den Iran führen muss, genau diese immer weiter ausgreifende antipolitische globale Moralisierung sein, die den jüdischen Staat womöglich seine Existenz kosten kann. Denn die Cancel Culture, die derzeit an Russland so erfolgreich vorexerziert wird und nicht einmal vor der Kunst Halt macht, lebt von der demagogischen medialen Präsentation weinender und hilfloser Kinder, die heute aus der Ukraine und morgen schon wieder aus Palästina gesendet werden. Sie geben den moralinsauren Maßstab für die David-gegen-Goliath-Inszenierung ab, mit der das Verlangen nach einem eindeutigen Gut-Böse-Schema und der Einfühlung in die vermeintlich Schwachen organisiert wird. In dieser Perspektive muß die Solidarität mit der Ukraine in diesem Krieg immer auch aus Solidarität mit den Juden erfolgen. Der Kampf der Ukraine, obwohl so keineswegs erklärt, ist auch einer gegen den Antisemitismus. Die bevorstehende Kapitulation und die Besetzung des Landes durch die russische Armee bzw. – noch schlimmer – prorussische Milizen dürfte größtes Leid über die in der Ukraine ständig lebenden ca. 150.000 Juden bringen. Die dann wahrscheinlich nicht mehr gesicherte Versorgung der auf ständige Pflege angewiesenen Holocaustüberlebenden wäre alleine schon Grund genug, mit Schrecken auf das zu sehen, was da noch kommen könnte. Schließlich gilt der Präsident des Landes den Eroberern und ihren Claqueuren als Naziverbrecher, der so schnell wie möglich liquidiert werden müsse, als Voraussetzung einer gründlichen Entnazifizierung der gesamten Ukraine. Selenskyi hat zwar von seiner jüdischen Herkunft nie Aufhebens gemacht, es war aber dort, wo man es wissen wollte, immer schon bekannt: bei den Antisemiten in der Ukraine und vor allem denen in Russland, aber auch bei den ukrainischen Juden. „Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das mal meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der sowjetischen Armee mitgekämpft hat und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine gestorben ist.“ (Jüdische Allgemeine, 24.2.2022) Seine Kandidatur war von großen Teilen der jüdischen Gemeinden strikt abgelehnt worden, die Feindseligkeiten bis hin zu Pogromen fürchteten. Während die im Wahlkampf 2018 gegen Selenskyi erhobenen Vorwürfe, er agiere als Marionette ominöser Drahtzieher mit dunklen internationalen Verbindungen, unter Ukrainern nur wenig Gehör fanden, sieht es auf Seiten des in vorgeblicher Entnazifizierungsabsicht tätigen Aggressors ganz anders aus. Man muss schon ernst nehmen, was seit 1948 – drei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Sowjets – in der Sowjetunion unter dem Vorzeichen Kampf gegen Kosmopolitismus und Zionismus losgetreten wurde, eine Kampagne, der hunderte Juden, vor allem jüdische Künstler und Intellektuelle zum Opfer gefallen sind. Das war und ist die Vorgabe, unter der Feinde der Einheit und damit der SU auch seither verfolgt wurden. Denn Kosmopolitismus meint Separatismus und die Juden hatten sich als erste persönlich separieren wollen in den Jahren seit 1948, in Richtung Israel nämlich.
Westliches, also nicht deutsches Selbstverständnis wäre es gewesen, in Europa zu verteidigen, was einem nach dem Sieg über Deutschland nicht durch sowjetische, sondern amerikanische und britische Waffen zuteil geworden ist: Jahrzehnte des Friedens bei gleichzeitiger Etablierung eines hohen Maßes von bürgerlichen Freiheiten und persönlichem Wohlstand. Dafür zu sorgen, dass die Gefährdung des Erreichten abgewehrt wird, war jahrzehntelang, für die Deutschen äußerst bequem, die Rolle der USA; nach 1990 wäre es auch diejenige Westeuropas gewesen. Aktuell ginge es darum, Waffen für die ukrainische Armee zu liefern, von denen zu wenige kommen und eine Flugverbotszone über ukrainischem Territorium, die keiner will, als Minimal-Voraussetzung für Verhandlungen mit Russland. Das alles geschieht nicht, obwohl jeder weiß, dass wenn die freie Ukraine fällt, sich Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Moldawien als „neutrale“ und selbstredend unbewaffnete Staaten unter den russischen „antifaschistischen“ Schirm begeben müssten. Polen, Slowenien und Tschechien wissen das sehr gut und deshalb waren es nicht zufällig die Ministerpräsidenten dieser drei Länder, die ins belagerte Kiew reisten, um dort symbolisch ihre Solidarität mit den Ukrainern zu bekunden.
Was der Ukraine-Krieg ausgelöst hat, bestätigt eine Erfahrung, die man schon seit längerer Zeit machen konnte: dass die Bürgerlichkeit, die den Westen ausmacht, d.h. die Vorstellung von einem berauschend normalen Leben, indem man frei von Gängelung und Zwang seinen Dingen nachgehen kann, in Wort und Tat vorzugsweise von Menschen außerhalb Zentraleuropas vertreten wird, aktuell etwa von der ukrainischen Bevölkerung unter Gefahr für Leib und Leben, aber auch von allen Russen, die mindestens ihre Freiheit riskieren, wenn sie im Land gegen Putins Krieg agitieren – während die Bürgerlichkeit von den meisten westlichen Eliten, allen voran der ebenso infantilen wie bösartigen deutschen Laienspieltruppe, Tag für Tag verraten wird. Nicht an sie, sondern an alle jene, die mit großer Selbstverständlichkeit Bürgerlichkeit behaupten und für sie eintreten, sind die Parolen adressiert: Gegen Russland und für die Befreiung seiner Bewohner vom großrussischen Joch! Gegen nicht nur russische Antifaschisten und andere Antisemiten! Gegen Deutschland und alle Feinde des privaten Glücks! Für die Ukraine in ihrer territorialen Integrität, in Solidarität mit ihren um persönliche Freiheit kämpfenden Bürgern!
Redaktion Bahamas (22. März 2022)
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