Warum uns ein Welt-Redakteur auf einer antideutschen Konferenz willkommen ist
Wenn der 11. September 2001 etwas unabweisbar deutlich gemacht hat, dann dies: daß immer größere Kreise der „Linken“ sich von ordinären Faschisten nicht unterscheiden, der Begriff des Postfaschismus also rein umfangslogisch gesehen viel mehr umgreift als bis dato angenommen, also nicht nur die deutsche Nachkriegsordnung, sondern auch und gerade ihre Linke als legitime Erbin des Faschismus denunziert, insofern ihr Dasein darin besteht, dieses Erbe kompetent und zukunftsträchtig weiterzubewirtschaften; daß die gemeinen Kategorien von „Links“ und „Rechts“, von „progressiv“ und „konservativ“ – wofern sie, was zu bezweifeln ist, jemals Substantialität aufwiesen – restlos außer Kraft gesetzt und zur Beurteilung der entscheidenden Fragen wie z.B. derjenigen, wie bestimmte Leute sich zur weltweiten antisemitischen Formierung verhalten, komplett untauglich sind; woraus schließlich die im Grunde bekannte materialistische Pointe folgt, daß die sachlich-substantielle Trennungslinie nicht zwischen irgendwelchen großen Weltanschauungen, nicht einmal zwischen politischen Grundüberzeugungen verläuft, sondern zwischen den Erfahrungsresistenten, den versierten, abgebrühten und empfindungsarmen Rationalisierungsprofis auf der einen und jenen, die sich die Unmittelbarkeit zur Sache nicht haben abmarkten lassen, auf der anderen Seite.
Damit wird ein Gedanke von Horkheimer aktuell, den er, noch bevor die Studentenbewegung die USA mit SA und SS in einem Atemzug nannten und nach 20 Jahren Nachhilfe im Konsumkapitalismus wieder die Mobilmachung probten, 1966 in einem Aphorismus mit der Überschrift „Der wahre Konservative“ folgendermaßen formulierte: „Der wahre Konservative ist vom Nazi und Neonazi nicht weniger weit entfernt als der wahre Kommunist von der Partei, die sich so nennt (...) Nazis und Parteikommunisten sind Diener niederträchtiger Cliquen, die nichts anderes wollen als die Macht und ihre unendliche Ausdehnung. Ihre wahren Feinde, der Gegenstand ihres Hasses, sind keineswegs, wie sie behaupten, die Totalitären der Gegenseite, sondern die, denen es mit der besseren, der richtigen Gesellschaft ernst ist. Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft die Trennungslinie, nicht zwischen dem sogenannten Links und Rechts, dem schon veralteten bürgerlichen Gegensatz. Die Cliquen mögen sich bekämpfen, wo ihre Interessen es erfordern, ihre wirklichen Gegner sind die ihrer selbst bewußten Einzelnen.“ (Horkheimer, Notizen 1949 – 1969, in: Schriften Band 6, S. 408f.) Es ist, als habe Horkheimer, dessen nach 1945 entstandene Aphorismen durchweg einen unbestechlichen Blick hinter die so freundliche Fassade des Deutschlands der Vollbeschäftigung und der Westbindung verraten, schon vor über 30 Jahren die Situation nach dem 11. September 2001 antizipiert: im Gefolge des Massenmords sonderten sich nämlich nicht nur die Materialisten und Kritiker von der Linken ab – auch im scheinbar so homogenen konservativen Lager gab und gibt es, wie spätestens der Krieg der USA gegen den Irak erwiesen hat, tiefgreifende und auf längere Sicht wohl unüberbrückbare Differenzen: zwischen jenen Konservativen, die in Wahrheit nur konformierende Asoziale darstellen, die das unselige Duo Schröder/Fischer vielleicht aus parteipolitischen Gründen nicht mögen, deren Option – deutscher Weg, Konfrontation mit den USA, Zerschlagung Israels und Paktieren mit dem islamischen Faschismus – unbedingt gutheißen; und andererseits den wahren Konservativen, für die grundsätzlich die Westbindung Deutschlands der einzige Weg ist, um deutsche Ansprüche in der Welt sicherzustellen, für die aber die Westorientierung deshalb immerhin kein 40 Jahre lang zähneknirschend hingenommener Waffenstillstand und die Freundschaft zu Israel und den USA keine Sachen sind, die in irgendeiner Form zur Disposition stehen würden.
Es macht die Lektüre der Tageszeitung „Die Welt“ derzeit und wohl auch noch eine ganze Weile so interessant, weil sich hier tagtäglich verfolgen läßt, an welchen Fragen und wie die Konformistischen-Konservativen und die wahren Konservativen sich voneinander wegbewegen. Sicherlich – die „Welt“ ist, als ein Produkt der Springer-Presse, einerseits als ganze eine der wenigen deutschen Tageszeitungen, die eine sachlich angemessene Berichterstattung zu Israel und der US-Politik bringen; andererseits finden sich insbesondere auf dem Gebiet der Innenpolitik und im Feuilleton gehäuft Einlassungen jener konformistisch-konservativen, nach allgemeiner Mobilmachung förmlich gierenden Provenienz, die durchweg geeignet ist, der USA- und Israelsolidarität sachlich die Grundlage zu entziehen, weshalb man bisweilen den Eindruck hat, daß – Springer sei Dank – nur das Redaktionsstatut bislang Schlimmeres verhindert hat.
Umso bewundernswerter ist vor diesem Hintergrund das, was Redakteure wie etwa Mariam Lau und Alan Posener in der „Welt“ leisten – deren Artikel werden aber regelmäßig immer noch übertroffen von den scharf durchdachten, polemisch treffsicheren und sachlich lehrreichen Artikeln des Redakteurs Hannes Stein. Bei den besten seiner Arbeiten hat man bisweilen den Eindruck, als wäre der Geist des leider viel zu früh verstorbenen Eike Geisel in die Redaktionsstube der „Welt“ gefahren und habe sich des Redakteurs Stein bemächtigt, so trefflich führt dieser die Waffen der Kritik, wobei er nichts und niemanden schont, also mit einer Unverblümtheit zu Werke geht, die für einen Konservativen erstaunlich ist und sich auch im Umfeld der „Welt“ exzeptionell ausnimmt: der Deutschen liebste Weltorganisation beispielsweise bezeichnet er ohne viel Federlesens als eine „ehrenwerte Gesellschaft“, wie auch die Mafia eine sei, denn auch die sei von edlen Idealen geleitet, nennt sie mithin eine „Organisation, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, über den Staat der Juden zu Gericht zu sitzen“; über die Europäer und deren aktuelle Rolle in der Weltpolitik heißt es an anderer Stelle: „Sie haben den islamischen Terroristen ein sicheres Hinterland geboten, von dem aus sie operieren konnten; die Polizei hat geduldet, daß sie hetzten und neue Attentäter warben, solange sie ihre Anschläge anderswo verübten. Gleichzeitig haben namhafte europäische Intellektuelle den jüdischen Staat systematisch delegitimiert“ und zieht mit sarkastischem Witz eine Bilanz, in der der professionelle Trauerarbeits- und Bewältigungskitsch als Einstimmung auf die Barbarei sein Fett ordentlich wegbekommt: „Das Signal war deutlich. Es wurde in der arabischen Welt auch sofort verstanden: Europa wird Israel, wenn es darauf ankommt, nicht als seine Bastion betrachten. Wenn der Atompilz über Tel Aviv aufgegangen ist, wird man den Israelis zweifellos Monumente errichten und in geschmackvoll eingerichteten Museen ihrer Kulturleistungen gedenken.“ Kurz vor Beginn des Krieges gegen den Irak publizierte Stein im Feuilleton der „Welt“ einen Text mit dem Titel „Sechs Gründe für diesen Krieg“, eine Polemik gegen die „nationalpazifistische Volksgemeinschaft und den Papst“, die in ihrer beißenden, aber dabei völlig unaufgeregten Diktion verdeutlichte, wie einfach derzeit die Dinge weltpolitisch liegen, wenn man zwei und zwei noch zusammenzählen kann und welche Verbissenheit umgekehrt dazugehört, sich wie die Deutschen und die Mehrheit der europäischen Bevölkerungen gegen die einfachsten Vernunftgründe zu sperren. Dieser Artikel von Stein ist der wohl beste, der zum Irak-Krieg in der bürgerlichen Presse erschienen ist; gäbe es den antideutsch-kommunistischen kollektiven Kritiker – er hätte genau diesen Text, von einer kruden Passage mal abgesehen, verfassen müssen.
Einigermaßen unerfindlich daher, daß auch unter Vorbereitenden und Teilnehmern der Konferenz „Gegen die antisemitische Internationale“ sich hier und da Unmut darüber breitmacht, daß ein so eindeutig profilierter Autor wie der „Welt“-Redakteur Hannes Stein zum Auftaktpodium am Freitag eingeladen war. Ist es die Tatsache, daß es jemand von der „Springer-Presse“ war, was die Angesprochenen umtreibt? Nun sollte sich aber gerade unter antideutschen Materialisten herumgesprochen haben, daß das linkspopuläre Ressentiment gegen die „Springer-Presse“ zum Himmel stinkt und zu jenen „linken Selbstverständnissen“ gehört, die endgültig entsorgt oder aber dem stetig regredierenden Hermann Gremliza überlassen gehören, der sich davon bis ans Ende seiner Tage ernähren mag. Oder ist es der Umstand, daß Hannes Stein erklärter Konservativer und Antikommunist ist? Gerade antideutsche Kritiker sollten doch weit über allen Relativismus erhaben sein, der die Wahrheit nicht an der Sache, sondern an Klassen, gesellschaftlichen Lagern oder persönlichen Überzeugungen bemessen möchte. Oder ist es die Tatsache, daß neben dem vielen Vernünftigen in Steins Texten sich hie und da auch Falsches und Unsinniges findet wie etwa die Erklärung Milosevics zu einem Saddam Hussein ebenbürtigen Schurken? Nun wiese gerade letztere Denkfigur zwar auf eine Begrenztheit von Steins Artikeln hin, kraft welcher er verkennt, daß das deutsche Konzept von Friedenspolitik – die Zerschlagung halbwegs zivilisierter Gemeinwesen durch das Fraternisieren mit völkisch-antisemitischen Banden – seinen Vorlauf in der Hetze gegen Milosevic hatte, um nun gegen Bush und Sharon und die wahren Schurkenstaaten USA und Israel in Anschlag gebracht zu werden – die ihn aber gleichzeitig befähigt, eben jenes deutsche Konzept, nun da es sich offen zeigt, mit allergrößter Vehemenz und Treffsicherheit zu attackieren. Es wäre dies wiederum nur beispielhaft dafür, daß aus einer Begrenztheit kluge, vernünftige Gedanken entstehen können; jedenfalls ist gerade antideutschen Materialisten noch mit den Irrtümern des Antikommunisten Hannes Stein mehr gedient als mit den faden und erbaulichen Wahrheiten irgendwelcher korrekter Linker und daher lohnt es sich ungleich mehr, mit einem ausgewiesenen und intelligenten konservativen Autoren zu streiten als mit irgendwelchen abgehalfterten Polit-Mumien. Das ist, wie einige Schlaumeier nun mutmaßen werden, keine „Real-“ oder „Bündnispolitik“ – wohl aber der Versuch, wie er auf der Konferenz zugegebenermaßen noch nicht richtig gelungen ist, einen Streit zwischen Leuten zu führen, die wie Hannes Stein und der Vorbereitungskreis sich ungleich mehr zu sagen haben als etwa der Vorbereitungskreis und die Linken.
Aber vielleicht ist ja auch alles ganz undramatisch und die Vorbehalte gegen Stein resultieren schlicht aus der Unkenntnis seiner Texte. Für diesen Fall, aber auch sonst zur aufmerksamen und gefälligen Lektüre haben wir in Anschluß fünf Texte versammelt, die von ihm sind oder durch ihn in der „Welt“ standen.
Redaktion-Bahamas
Dokumentation:
1. Sechs Gründe für diesen Krieg
2. Pol Pot, Saddam Hussein & Co
4. Der alte neue Hass, von D.J.Goldhagen, Übersetzung von Hannes Stein
Linke, Liberale, Konservative, Reaktionäre, Europäer, Steuerzahler dürfen erleichtert sein
von Hannes Stein
„Wenn Freiheit überhaupt irgendwas bedeutet“, schrieb George Orwell, „dann das Recht, den Leuten genau das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Also los: Seit gestern feuert die amerikanische Armee auf Flugabwehrstellungen, geheime Bunker und Waffenfabriken im Irak. Und mein Gefühl dabei – ganz gleich, was die nationalpazifistische Volksgemeinschaft und der Papst sagen mögen – ist vor allem Erleichterung. Ja, ich bin für diesen Krieg. Ich bin es mit sämtlichen Facetten meiner multiplen Persönlichkeit: als Linksradikaler, als aufgeklärter Liberaler, als realpolitischer Konservativer, als verstockter Reaktionär, als geschichtsbewusster Europäer und als bornierter Steuerzahler. Dies dürfte einer der wenigen Augenblicke in meinem Leben sein, wo ich mit mir selber völlig einer Meinung bin. Schreit nur, hier sind meine Gründe.
Erstens: Ich bin für diesen Krieg, weil ich links bin. Schließlich wurde die Baath-Partei, die bis heute im Irak an der Macht ist, während der vierziger Jahre in Damaskus von arabischen Nazis gegründet. Das ist wenig bekannt, weil der braune Untergrund notdürftig mit roter Farbe übertüncht wurde, als das irakische Regime zum Protegé der ruhmreichen Sowjetunion wurde. Aber das satte Braun trat für jeden, der Augen hat, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder deutlich hervor. Zu Saddam Husseins Freunden gehören Rechtsradikale wie Jörg Haider und Jean-Marie le Pen; er brüstet sich damit, dass er Hitlers „Mein Kampf“ über weite Strecken auswendig könne, weil es „das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts“ sei.
Mit einem Wort: Der Krieg gegen das Saddam-Regime ist ein antifaschistischer Krieg, wie es seinerzeit der Kampf gegen Franco war, nur verfügen die Antifaschisten dieses Mal gottlob über Fernlenkraketen und Kampfhubschrauber. Venceremos!
Zweitens: Ich bin für diesen Krieg, weil ich liberal bin. Bisher hat der Kapitalismus im Nahen Osten noch nicht wirklich Fuß gefasst; schuld daran ist das Erdöl, das es als überflüssig erscheinen ließ, produktive Gesellschaften zu errichten. Die arabischen Länder sind Rentiersstaaten, die ihre Einkünfte aus dem Ausland beziehen; die Funktion der jeweiligen Regierung ist es, das so gewonnene Geld unter der Bevölkerung zu verteilen. Auf diese Weise erkauft sie ihre Unterstützung oder doch wenigstens ihr Stillhalten. Die Folge ist eine ungeheuerliche Stagnation, nicht nur auf dem Gebiet der Ökonomie.
Wenn aber auf etwas Verlass ist, dann darauf, dass die Amerikaner den Irakern nach dem Sieg die kapitalistischen Flötentöne beibringen werden – fragt die Japaner, Deutschen, Südkoreaner. Fragt die Osteuropäer. So könnte der Nahe Osten am Ende doch noch aus seinem todesähnlichen Dornröschenschlaf erwachen. Sobald der amerikanische Märchenprinz mit seinen Panzern anrollt, verwandelt sich sogar das vermaledeite Erdöl in einen sprudelnden Segensquell. Three cheers for Big Business!
Drittens: Ich bin für diesen Krieg, weil ich konservativ bin. Denn nur eine Minderheit reagierte mit Bestürzung auf die Terroranschläge vom 11. September; in großen Teilen der Welt herrschte Genugtuung, ja Freude über den Massenmord. Linke Globalisierungskritiker und eingefleischte Neofaschisten, Radikalfeministinnen und militante Moslems, korrupte Dritte-Welt-Potentaten und europäische Schöngeister – sie alle reichten einander die Hand zum Singetanz. Und das Lied, das sie sangen, hatte den simplen Refrain: „Geschieht den Yankees recht!“ Die Begeisterung war allgemein; sie würde eher noch wachsen, wenn es einem Terroristen gelänge, das grässliche Bravourstück von damals zu übertreffen. Tout le monde konnte ja am Bildschirm verfolgen, wie einfach es ist, den amerikanischen Riesen zu verwunden.
Darum muss den Antiamerikanern eine Lektion erteilt werden. Jeder potenzielle Nachahmungstäter soll begreifen, dass die Nation unter dem Sternenbanner sich zu wehren weiß – auch vorbeugend, und auch gegen die Helfershelfer eines solchen Massakers. Das ist keine Frage des Gefühls, sondern ein kaltes Gebot der realpolitischen Vernunft. In Staub mit allen Feinden Washingtons!
Viertens: Ich bin für diesen Krieg, weil ich reaktionär bin. Früher war bekanntlich alles besser; das gilt besonders für den Irak. Die Diktatur der Baath-Partei ist kein Ergebnis der kulturellen Tradition Mesopotamiens; sie ist – wie der Nationalsozialismus – ein Ergebnis des Bruchs mit allen Traditionen. Sie ist ein Resultat der teuflischen Moderne. Mesopotamien war nie totalitär, es ist immer ein bunter Flickenteppich aus verschiedenen Ethnien und Religionen gewesen. Im Zweistromland wohnten Araber, Kurden und Griechen, Sunniten, Schiiten, assyrische Christen, Gnostiker und Juden in schlampiger Toleranz nebeneinander.
Erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde aus Deutschland der Virus des Rassismus eingeschleppt; erst in den vierziger Jahren gab es Pogrome; erst in den fünfziger Jahren wurden die Juden vertrieben; erst in den siebziger Jahren setzte eine brutale Arabisierungspolitik ein; erst in den achtziger Jahren rottete Saddams Armee 100 000 Kurden aus; erst in den neunziger Jahren massakrierte sie die Schiiten.
Die Amerikaner werden den Irakern gestatten, im 21. Jahrhundert all diesen modernen Unfug beiseite zu räumen und wieder an die menschenfreundlichen Bräuche der Vormoderne anzuschließen. Als da wären: im Caféhaus sitzen, Nargila rauchen und den Nächsten leben lassen. Alhamdullilah!
Fünftens: Ich bin für diesen Krieg, weil ich Europäer bin. Wir Europäer leben auf einem Kontinent voll schöner Bauwerke und Kulturlandschaften, aber wir haben auch ein paar unschöne Eigenschaften: Doppelzüngigkeit, Antisemitismus und die Neigung, Diktatoren gewähren zu lassen. Die Erfahrung lehrt, dass es uns im Verbund mit den Amerikanern am zuverlässigsten gelingt, unsere dunklen Seiten zu unterdrücken. Immer wieder fördern sie das, was gut in uns ist. Kleine Erinnerung: Ohne die USA säße Slobodan Milosevic heute nicht als Angeklagter in Den Haag, sondern – als Herrscher eines mit dem Blut der Bosnier und Kosovaren getränkten Imperiums – in Belgrad. Und wir Europäer würden ihm ohne Zweifel untertänigst all unsere roten Teppiche ausrollen.
Im selben Augenblick, da wir uns gegen Amerika stellen, fangen wir an, das nobelste Erbe Europas zu verraten, die Liebe zur Freiheit. Bleiben wir also loyale Bürger des Alten Kontinents, bleiben wir transatlantisch. In tyrannos!
Sechstens: Ich bin für diesen Krieg, weil ich Steuern zahle. Um noch einmal vom Erdöl anzufangen: Alle westlichen Industriestaaten hängen wie Junkies an der Pipeline, aber wir Europäer sind viel mehr vom Nahen Osten abhängig als die Amerikaner. (Die beziehen ihren Stoff eher aus Venezuela und Mexiko.) Wenn man Saddam gestattete, Atomwaffen zu entwickeln, würde seine Soldateska zum zweiten Mal Kuwait okkupieren – und keine Armee der Welt könnte sie mehr daran hindern. Als indirekte Folge würde das Leben hier schrecklich ungemütlich; Benzin und Diesel wären bald nur noch auf Bezugsschein erhältlich. Der Staat aber würde die Energiekrise zweifellos nutzen, um uns noch tiefer in alle Taschen zu greifen.
Warum soll ich eigentlich finanzielle Verluste erleiden, nur weil ein Provinztyrann in Bagdad den Traum vom großen Arabien träumt? Up yours, Saddam! Abschließend noch ein Wort zur Legitimität dieses Militärschlags. Oft war in den letzten Wochen die Behauptung zu hören, ein Präventivkrieg, wie ihn die Amerikaner hier führen, sei nach der Lehre vom gerechten Krieg verboten. Das ist falsch. Die klassische Doktrin verhält sich gegenüber der Frage, ob es sich um einen Verteidigungs- oder einen Angriffskrieg handelt, gleichgültig; sie fragt lediglich, ob das Übel, das durch den Krieg weggeschafft wird, größer ist als das Übel, das er selbst darstellt (und ob es vorher einen ehrlich gemeinten Verhandlungsversuch gab).
Mir scheint, das Übel sei im vorliegenden Fall groß genug. Immerhin haben wir es mit einem Gewaltherrscher zu tun, der über mehrere Hektoliter bakteriologische und chemische Waffen verfügt, dabei ertappt wurde, als er in Afrika Uran kaufen wollte und sich habituell mit Terroristen verbündet. Der Talmud sagt zum Thema der präventiven Selbstverteidigung das Nötige in der gebotenen Schroffheit: „Wenn dich jemand umbringen will, so stehe du früher auf und töte ihn zuerst.“ (Traktat Sanhedria 72 b) Niemand kann von den Amerikanern verlangen, dass sie mit den Händen an der Hosennaht abwarten, bis der große Rauchpilz über einer ihrer Städte aufsteigt.
Gewiss – das Völkerrecht ist überfordert durch Potentaten mit nuklearen Ambitionen, und es rechnet nicht mit Selbstmordmördern, die vor nichts zurückschrecken, also nicht abschreckbar sind. Aber das zeigt nur, dass das Völkerrecht reformiert werden muss; sonst nichts.
Erschienen am 21. Mär 2003, © WELT.de
http://www.welt.de/data/2003/03/21/55529.html
Die Killing-Fields im Irak lassen ahnen: Die arabische Welt ist ein Leichenfeld – Debatte
von Hannes Stein
Als ich noch zur Schule ging, fielen mir eines Tages Plakate auf, die an Bushaltestellen und Brandmauern hingen: „Hände weg vom demokratischen Kampuchea!“ Mag sein, dass diese Plakate mit Hämmern und Sicheln verziert waren oder wehende rote Fahnen zeigten, jedenfalls verstand ich nur Bahnhof. Heute weiß ich, dass mit dem „demokratischen Kampuchea“ das Kambodscha Pol Pots gemeint war. Bei den Plakatklebern handelte es sich um radikale Linke, Maoisten, die gegen den Überfall vietnamesischer Truppen auf Kambodscha protestierten. Formaljuristisch hatten sie vollkommen Recht. Der Einmarsch Vietnams 1979 war wirklich völkerrechtswidrig; man konnte sogar von einem Angriffskrieg sprechen. Aber ohne diesen Krieg wäre das schauderhafte Regime in Phnom Penh nicht vom Thron gestoßen worden. Hinterher waren im „demokratischen Kampuchea“ die Killing-Fields zu besichtigen, wo die Anhänger Pol Pots mehr als einer Million Menschen die Schädel eingeschlagen hatten, weil das billiger war, als sie zu erschießen. Es war der schnellste Demozid in der Geschichte gewesen (der Rekord wurde erst 1994 durch die Hutu-Mörder in Ruanda gebrochen).
Heute stehen wir wieder vor Killing-Fields. Es ist wieder ein geschichtlicher Augenblick der Wahrheit. Nach dem Sieg der anglo-amerikanischen Koalitionssoldaten im Irak liegt jetzt im gleißenden Sonnenlicht zu Tage, was das für ein Feind war, gegen den man da gekämpft hat. Die Massengräber stehen offen. Irakische Männer und Frauen kommen mit Plastiksäcken und suchen nach Knochen ihrer Angehörigen. Manche weinen. Manche schreien. Manche sind versteinert.
Worte wie „Faschismus“ oder „Stalinismus“ fassen nicht, womit wir es hier zu tun haben. Man muss sich vorstellen, in einem Land von der Größe Frankreichs wären die Hell's Angels an die Macht gekommen – dann bekommt man eine Ahnung, was Saddams Herrschaft bedeutet hat. Die Grundlage der Baath-Ideologie, schrieb der irakische Dissident Kanan Makiya kalt und verzweifelt, sei die Liebe, die allen Arabern in der Vergangenheit und Gegenwart gilt. Im Namen dieser mörderischen Liebe wurden die Massengräber im Irak gefüllt.
Ich weiß, das ist nur die halbe Wahrheit. Ihre andere Seite ist, dass die Killing-Fields des Irak von einem Versagen der Amerikaner zeugen. Denn jene Massengräber, die man heute findet, stammen aus dem Jahr 1991; damals haben die amerikanischen Streitkräfte ihre Bodenoffensive ein paar Tage zu früh abgebrochen. Und dann standen sie daneben und schauten zu, während Saddam Husseins Republikanische Garden ihre eigenen Landsleute zu Tausenden mordeten. Und George Bush senior ging Golf spielen. In einem furiosen Artikel gegen die moralische Verkommenheit der Europäer schrieb der amerikanische Schriftsteller Ralph Peters: „Srebrenica ist das europäische Modell. Bagdad ist unseres.“ Falsch, Mr Peters. Denn Jahre bevor holländische UN-Soldaten die bosnischen Moslems in Srebrenica ihren serbischen Schlächtern auslieferten, standen amerikanische Soldaten Gewehr bei Fuß, während Saddams Republikanische Garden sich an Kurden und Schiiten austobten.
Doch auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Denn als die amerikanischen Truppen 1991 Saddams Regime davonkommen ließen, statt nach Bagdad durchzumarschieren, handelten sie in wunderbarster Harmonie mit den Regeln der UNO. Es waren dann auch nicht der Weltsicherheitsrat oder irgendwelche europäischen Intellektuellen, die George Bush senior vom Golfspielen zurückholten. Es waren neokonservative Journalisten in den USA selbst – Leute wie A.M. Rosenthal und William Safire. Sie entfesselten einen mittelgewaltigen Sturm in den Medien und erreichten so, dass im Norden und Süden des Irak so genannte Flugverbotszonen eingerichtet wurden. Ohne sie würde dort heute kein Kurde, kein schiitischer Moslem mehr leben.
Es ist also ein Glück, dass es dieses Mal kein UN-Mandat für den Krieg gab. Es ist ein Glück, dass George W. Bush nicht gelang, was sein Vater zu Stande brachte: eine breite Kriegskoalition unter Einschluss arabischer Staaten zusammenzufügen. Kann man sich vorstellen, dass Syrien dem Sturz von Saddams Statuen in Bagdad zugestimmt hätte? Den Amerikanern wäre höchstens gestattet worden, kurz nach Massenvernichtungswaffen zu suchen – gleich danach hätten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen.
Denn die Killing-Fields im Irak sind insgesamt doch nur ein Teil des Gesamtbildes. Gewiss, das Saddam-Regime war besonders grausam (sogar für die Verhältnisse des Nahen Ostens); aber Massengräber gibt es auch anderswo. Vielleicht kommt irgendwann wer auf die Idee, den syrischen Präsidenten Baschar el Assad öffentlich zu fragen, wie viele Skelette eigentlich unter dem Asphalt der Stadt Hama liegen. Sind es 20 000 oder doch eher 40 000? Im Februar 1982 trat in Hama eine radikal-islamische Gruppe auf. Baschar el Assads Vater ließ daraufhin prophylaktisch sämtliche Einwohner der Stadt umbringen und diese asphaltieren. Solche Geschichten gibt es viele in der Region. Die arabische Welt ist ein riesiges Leichenfeld. Noch darf man nicht darüber reden; noch liegen die Verbrechen nicht offen im Licht. Aber vielleicht wird es einmal für den ganzen Nahen Osten einen Augenblick der Wahrheit geben.
Artikel erschienen am 25. Jun 2003, © WELT.de
http://www.welt.de/data/2003/06/25/123965.html
Wenn das Leichenschauhaus zur Utopie wird: Paul Berman analysiert den massenmörderischen Schrecken, der die islamische Welt heimsucht
von Hannes Stein
Lord Voldemort ist zurückgekehrt, aber die meisten Leute wollen es nicht wahrhaben. Harry Potter hat mit eigenen Augen gesehen, wie der böse Zauberer einen Menschen getötet hat, aber keiner glaubt ihm. Das sind die Grundzüge der Geschichte, die Joanne Rowling im fünften Band ihrer Harry-Potter-Serie erzählt. Eine ähnliche Geschichte erzählt Paul Berman in „Terror and Liberalism“ – nur spielt sie in der Muggle-Welt.
Das Monstrum, das in Bermans Buch von den Toten auferstanden ist, hört seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Namen Totalitarismus. Er wendet uns heute zwei blutige Gesichter zu. Das eine ist der Baath-Fschismus, wie er gerade eben im Irak gestürzt wurde; das andere Gesicht ist der islamische Fundamentalismus. Und wer meint, diese beiden Formen des Schreckens hielten keinem Vergleich mit dem Kommunismus oder dem Nationalsozialismus stand, der irrt gründlich. Ungefähr 100 000 Menschen, so sagt man, wurden allein in Algerien von Islamisten massakriert. Die Opfer des genozidalen Regimes im Sudan gehen in die Millionen. Im Irak versuchte Saddam, Pol Pot zu übertreffen. Aber bis zum 11. September 2001 blieb all dies merkwürdig unsichtbar; und auch als sich die Südspitze von Manhattan in ein Massengrab verwandelte, gab es noch genug Intellektuelle, die behaupteten, Lord Voldemort sei gar nicht zurückgekehrt.
Um den Schrecken zu erklären, der den Orient verwüstet, greift Paul Berman freilich auf einen Mythos zurück, der etwas älter ist als der von Joanne Rowling. Dieser Mythos spielt in den letzten Tagen der Menschheit und berichtet vom Volk Gottes, das angegriffen wird. Der Angriff kommt von innen; die reichen Bürger Babylons wollen das Gottersvolk bis ins Mark korrumpieren. Gleichzeitig wird es von den Armeen Satans attackiert. Aber im Krieg von Armaggedon werden die satanischen Heere zurückgeschlagen und die Bürger Babylons bis auf den letzten Mann vernichtet. Danach bricht das Gottesreich an.
So steht es in der Apokalypse des Johannes; und dies war das heimliche Programm sowohl des Bolschewismus als auch der Nazis. Aber auch der Baath-Faschismus und der militante Islam sprechen diese apokalyptische Sprache. Das Gottesvolk ist hier die große arabische Nation – oder es ist die islamische umma. Der Feind im Inneren sind die Juden, deren Ziel es ist, den reinen arabischen (moslemischen) Geist zu vergiften; der äußere satanische Feind sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Krieg gegen Israel und Amerika wird von einem Messias angeführt, einem Supermann auf einem Pferd, der ganz offenkundig verrückt ist und in seiner Verrücktheit die rohen Kräfte der Geschichte verkörpert.
Das erhabenste Versprechen, das der apokalyptische Führer für seine Anhänger bereithält, ist der Tod. Der Totalitarismus ist in seinem tiefsten Kern ein Todeskult. Dies wird deutlich, wenn man die jüngsten Exzesse des israelisch-arabischen Konflikts analysiert: „Der Selbstmord-Terror gegen die Israelis konnte nur in einem Bereich siegen, und das war der Bereich des Todes – jener Bereich, in dem ein perfekter Palästinänserstaat im Schatten einer vollkommenen koranischen Seligkeit schwelgen konnte, gereinigt von jedem schändlichen Gedanken, jedem konkurrierenden Glauben und jeder anderen ethnischen Gruppe . . . In der Phantasie der Öffentlichkeit waren Utopia und das Leichenschauhaus verschmolzen.“
Paul Berman, der Autor von „Terror and Liberalism“, ist kein Neokonservativer, sondern ein amerikanischer Sozialdemokrat. Er sieht sich in der Tradition jener antikommunistischen Linken, die den freien Westen gegen die sowjetische Gefahr verteidigen wollten. Sein Buch ist keine Apologie der Politik von George W. Bush – Berman spart nicht mit Kritik: Warum das Cowboygerede, man wolle Osama Bin Laden „tot oder lebendig“ ergreifen, wenn es darum ging, einen ausgewachsenen Krieg zu führen? Warum das Gerede von einem „Präventivschlag“ gegen den Irak, wenn seit 1991 – dem Jahr, als die USA Saddam Hussein ungeschoren davonkommen ließen – irakische Soldaten auf amerikanische Kampfflugzeuge schossen? Indes: Berman lobt auch, was die Bush-Regierung gut gemacht hat. So hat sie in Kabul keinen korrupten Warlord an die Macht gebracht, sondern Hamid Karzai – einen Liberalen, dem die Menschenrechte am Herzen liegen. (Und im Irak, könnte man hinzufügen, haben die Amerikaner bislang der Versuchung widerstanden, einen arabischen Pinochet zu installieren, ihm ein paar CIA-Berater zur Seite zu stellen und heimzugehen.)
Der „Krieg gegen den Terror“ – der Krieg gegen den Totalitarismus des 21. Jahrhunderts – ist viel zu wichtig, als dass man ihn den Generälen überlassen dürfte. Deshalb möchte Paul Berman ihm eine „dritte Kraft“ zur Seite stellen, die weder regierungskonform noch pazifistisch ist: eine intellektuelle Task Force, die sich für die Rechte von Frauen, säkulare Erziehung und Pluralismus in der gesamten islamischen Welt einsetzt. Für Europa-Bashing ist Berman dabei nicht zu haben. Gerade Deutsche könnten im intellektuellen Krieg gegen den Terror ihre Rolle spielen, denn die deutsche völkische Philosophie hat sowohl den Baath-Faschismus als auch den islamischen Fundamentalismus befeuert: „Mögen die Deutschen in der ganzen Region von Tür zu Tür gehen und ihr geistiges Produkt aus dem Verkehr ziehen.“
Paul Bermans „Terror and Liberalism“ ist das wichtigste politische Sachbuch dieses Jahres. Es ist tief durchdacht, in manchen Passagen sogar weise, es ist elegant geschrieben und an manchen Stellen sogar witzig und hat nur einen einzigen Fehler: Es wird nie ins Deutsche übersetzt werden, weil es quer zu allen hier zu Lande gängigen Ressentiments steht.
Paul Berman: Terror and Liberalism. Norton, New York and London. 214 S., ca. 25 EUR.
Erschienen am 5. Jul 2003, © WELT.de
http://www.welt.de/data/2003/07/05/128243.html
von Daniel Jonah Goldhagen
Der Antisemitismus entwickelt sich. Nach einer Zeit der Remission, die dem Schrecken des Holocaust geschuldet war, ist das uralte Vorurteil vor kurzem reaktiviert worden, katalysiert durch den israelisch-arabischen Konflikt. Es ist in eine neue Ära eingetreten, in der sich der Brennpunkt von den inneren Angelegenheiten hin zum Internationalen verschoben hat. Der Antisemitismus, der immer proteushaft war, hat sich globalisiert.
Der Judenhass hat stets innen- wie außenpolitische Komponenten gehabt. Während des langen Zeitalters des christlichen Antisemitismus verbreitete die katholische Kirche – eine übernationale Institution – den Glauben, die Juden seien als Christusmörder eine kosmische Kraft des Bösen. Aber das Hauptziel des antijüdischen Vorurteils lag im Lokalen; es waren die Juden der eigenen Stadt oder Region oder des eigenen Landes, die angeblich ihre christlichen Nachbarn schädigten.
Während seiner zweiten Ära im 19. und 20. Jahrhundert nahm der Antisemitismus eine säkulare und eher rassistische Form an, dergemäß eine internationale Verschwörung von Juden gegen die Menschheit arbeitete. Gewiss wurden die meisten Schüsse auf lokale Ziele abgegeben. Das „jüdische Problem“, eines der brennendsten politischen Probleme seiner Zeit, drehte sich in überwältigendem Maß darum, was Deutsche, Franzosen und Polen mit den Juden in ihren eigenen Ländern tun sollten.
Der globalisierte Antisemitismus ist eine neue Konstellation von Wesensmerkmalen, die auf alte aufgepfropft wurden. Er ist vielfältig und komplex, und er orientiert sich an einer weltweiten Bühne. In weiten Teilen von Europa ist das innenpolitische „jüdische Problem“ so gut wie tot. Nur Randexistenzen glauben, dass Juden vor Ort ihren nichtjüdischen Nachbarn finanziellen, beruflichen oder moralischen Schaden zufügten und dass eine radikale Antwort notwendig sei.
Der Brennpunkt der Animosität gegenüber Juden hat sich in überwältigendem Maß zu Juden anderer Länder verschoben: nach Israel und in die Vereinigten Staaten, die angeblich die moralischen und materiellen Hauptverbrecher in der internationalen Arena seien. Für viele ist der Zionismus zu einer mythischen Wesenheit geworden, zu einer zerstörerischen Kraft; und der Antizionismus ist mit dem Antiamerikanismus mittlerweile so weit verwoben, dass nationalistische Politiker in Russland ihre Furcht vor der amerikanischen Vorherrschaft ausdrücken, indem sie sagen, Russland sei in Gefahr, „zionisiert“ zu werden.
Das Zentrum des Antisemitismus und die Richtungen seiner Transmission sind ebenfalls neu. In den früheren Ären des Antisemitismus floss die Dämonologie über Juden erst vom christlichen – dann vom europäischen – Zentrum in die Peripherie. Heute gibt es viele antisemitische Zentren, und die Dämonologie fließt in viele Richtungen, aus Europa in den Nahen Osten und anderswo und wieder zurück. Im Wesentlichen hat Europa seinen klassischen rassistischen und Nazi-Antisemitismus in die arabischen Länder exportiert, die ihn auf Israel und Juden im Allgemeinen anwandten und mit wirklichen oder eingebildeten Merkmalen des intensiven örtlichen Konflikts überzogen. Anschließend re-exportierten die arabischen Länder die neue zusammengesetzte Dämonologie zurück nach Europa und in andere Länder rund um den Globus, indem sie von den Vereinten Nationen und anderen internationalen Institutionen Gebrauch machten. In Deutschland, Frankreich, Großbritannien und anderswo bedient sich die intensive antisemitische Ausdrucksweise und Propaganda von heute alter Tropen, die einst gegen die örtlichen Juden gerichtet waren – Anklagen, dass sie Chaos säen würden, um andere zu unterjochen -, aber sie füllen diese Tropen mit einem neuen Inhalt, der sich vor allem gegen Juden außerhalb ihrer Länder und ihres Kontinents richtet.
Die Bilder, die den globalisierten Antisemitismus charakterisieren, sind neu. Der Rambo-Jude hat in der antisemitischen Phantasie im großen und ganzen Shylock ersetzt. Der schlau und heimlich korrumpierende Jude der ersten zwei Jahrtausende des Antisemitismus, der nun mit seiner neuen militärischen und politischen Macht bewaffnet ist, hat sich in den unterdrückenden, brutalen und tötenden Juden verwandelt, der die Schmutzarbeit entweder selbst verrichtet, wie in Israel, oder andere dazu anstellt, sie für ihn zu verrichten, wie man es – phantastischerweise – den Juden nachsagt, die mit der Bush-Regierung zu tun haben.
Ein emblematisches Bild des globalisierten Antisemitismus ist jenes, das Donald Rumsfeld zeigt, wie er einen gelben Stern mit der Aufschrift „Sheriff“ trägt, gefolgt von Ariel Scharon, der einen Knüppel schwingt und von einem goldenen Kalb flankiert wird. Es ist mehr als ein Zufall, dass diese Szene, die die (putative) weltweite Natur und die raubtierhaften Gelüste der Juden ausdrückte, für eine Anti-Globalisierungs-Demonstration in Davos geschaffen wurde.
Der globalisierte Antisemitismus hat noch andere wichtige und neue Merkmale – darunter seine sofortige und weltweite Verbreitung sowohl durch das Internet als auch die einseitigen Fernsehberichte und aufhetzenden Bilder vom Leiden der Palästinenser, die in das antisemitische Narrativ einfließen. Weitere Kennzeichen sind seine Vereinigung von Elementen der Rechten und Linken in Europa und sein halb durchlässiger Deckmantel des Antizionismus.
Vielleicht am bezeichnendsten ist indes die Ablösung des Antisemitismus von seinen ursprünglichen Quellen. Er hat sich freigemacht vom Christentum, auch wenn es noch mächtige christliche Quellen des Antisemitismus gibt. Er hat sich freigemacht von den europäischen Quellen der Nationenbildung im 19. Jahrhundert, auch wenn die Dämonologie dieser Ära in etwas verschobener Form immer noch mächtig ist.
Der globalisierte Antisemitismus ist Teil der Vorurteilsstruktur der Welt geworden. Er schwebt frei, ist in vielen Ländern und Subkulturen beheimatet und in vielen Variationen erhältlich – und zwar für jeden, der Einflüsse aus dem Ausland, die Globalisierung oder die Vereinigten Staaten nicht mag. Er ist unbarmherzig international in seiner Konzentration auf Israel als Zentrum der mit Konflikten am stärksten geplagten Region der Welt und Amerika als allgegenwärtige Weltmacht. Er schöpft seine Kraft aus sich selbst, mit seinen phantastischen Konstruktionen von Juden und Zionismus – die etwas anderes sind als legitime Kritik, die man an Israels Politik üben kann -, und er liegt völlig außerhalb der Länder und Erfahrungen der Leute. Und er ist immer nur ein paar Mausklicks entfernt.
Nach dem Holocaust und dem Zweiten Vatikanischen Konzil schien es, als sei der Antisemitismus im Abnehmen begriffen und könnte im Laufe der Zeit verkümmern. Er hat tatsächlich abgenommen, und in den meisten europäischen Ländern inklusive Deutschlands wurde die Wahrnehmung der Öffentlichkeit von ihren örtlichen Juden entdämonisiert. Viele Leute in Europa und anderswo weisen heute auch die neuen antisemitischen Phantasien zurück.
Doch das Wiedererwachen des Antisemitismus in seiner neuen globalisierten Form bedeutete, dass es dem Judenhass wiederum gelang, sich zu verwandeln und seine Einflusssphäre auszubreiten – sogar bis nach Afrika und Asien. Bisher hat der neue globalisierte Antisemitismus sich als nicht so gefährlich wie frühere Formen erwiesen – außer im Nahen Osten -, aber seine beunruhigenden Merkmale deuten darauf hin, dass er das Potenzial dafür hat. Eine echte Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts würde viel Wind aus den Segeln dieses neuen Antisemitismus nehmen. Aber die tiefen Wurzeln des Antisemitismus im sich immer weiter ausbreitenden globalisierten Bewusstsein und die Beharrlichkeit und Formbarkeit, die er bewiesen hat, machen seine Auflösung unwahrscheinlich.
Aus dem Amerikanischen von Hannes Stein
Copyright by Daniel Goldhagen. Sein jüngstes Buch, „Die katholische
Kirche und der Holocaust“, erschien letzten Oktober bei Goldmann.
Erschienen am 28. Jun 2003, © WELT.de
http://www.welt.de/data/2003/06/28/125396.html
von Hannes Stein
Is Germany an Arab country? At the surface, the answer seems clear: it is still easier to get wurst than falafel, and bars serve beer rather than sickly sweet tea with nana. If the German chancellor made a habit out of beginning speeches with „In the name of Allah, the all-merciful“, it would come as a surprise; and it has not yet become customary to start conferences at newspapers by reciting a sura from the Holy Quran.
And yet, one sometimes wonders. I got my first whiff of the things to come on the evening of 9/11. The news of the bloodbath in New York City had arrived in Germany in the afternoon, so we had had to re-arrange our entire newspaper. I felt exhausted and sad and needed a pint of something: so I went to a pub in what used to be East Berlin. The pub was crammed full, the TV was showing the unbelievable news again and again and I could not help overhearing a man at a neighbouring table who used his mobile phone as if it were a microphone. He kept shouting about „that criminal Bush“, „arrogant Americans“ and „Sharon, that fascist“, and of course about „those Israeli swine who are behind it all“. Ah well, I thought. A lunatic. But after the initial shock and the spontaneous feeling of solidarity with the US had worn off – and this happened rather quickly – in a sense it was the voice of this sole lunatic that became dominant.
The most amazing conspiracy theories about 9/11 became rampant. Soon it was accepted knowledge that „the US had it coming“. This was not something you heard only in pubs and on campuses; the majority of German journalists and writers (most notably the Nobel-laureate Günter Grass) were in utter and terrible agreement. One was constantly being admonished not to draw the wrong conclusions from this incident, i.e. not to search for its roots in the Arab world. Rather one ought to respect the honourable religion of Islam. I wondered at the time what would have happened if the perpetrators of 9/11 had been found out to be devout Catholics. Would we then have been told not to tell jokes about the Pope? Would Günter Grass have reminded us that „the Americans had it coming“ since their nation had been founded by radical protestants?
Once the US started bombing the Taliban out of Afghanistan, virtually everybody knew instantly that this was only about oil, stupid. (George W. intended to build a pipeline or something.) During these weeks Edward Said gave a lecture at a theatre in Berlin. Said, an American professor of literature, famously wrote a book in which he argues that the Orient is the defining „other“ against which the West defines itself; he also authored an autobiography in which he claims that the plight of the Palestinian nation is very much his own. Usually Mr Said is admired for the subtlety of his thinking, but there was nothing subtle about the speech he gave at that theatre. It was nationalist propaganda, pure and undiluted: and there was hardly any question that Mr Said called for more than a withdrawal of Israeli forces from occupied territories. (He made this plain by referring to Haifa as part of „Palestine“.)
About one third of the audience were members of Berlin´s Palestinian diaspora community. It was clear that they should be jubilant. The larger part of the audience were Germans, however -- middle class people of moderate political persuasions, not flag-waving left-wing radicals. And now comes the surprising bit: they, too, thought it was a riot. Their ovations lasted for several minutes. Only three people among them did not cheer; and only one of them was not Jewish. (And even these three did not dare to voice their disapproval.) In Ramallah or Damascus such a scene would have been quite normal. But in Berlin?
Roll on the war against Iraq. It is true that there were hot debates about this issue everywhere, particularly in the US itself: both the legitimacy and the wisdom of the war were questioned, journalists voiced reasonable doubts whether the Iraqi regime did in fact possess weapons of mass destruction. In Germany such debates were conspicuously absent. Here it was very simple: the entire country had turned into one big peace camp. The sentence „Mr Stein is in favour of this military campaign“ sounded like „Mr Stein lives in a house which is made of green cheese“.
Writers and intellectuals were even more unanimous than they had been re. Afghanistan. All newspapers – with the notable exception of DIE WELT, the paper I happen to be working for – denounced Mr Bush and Mr Blair as dangerous lunatics. German television stations began to resemble outposts of Al Jazeera. Civilian casualties were mourned like martyrs. When the coalition forces encountered difficulties in the early days of the war, this was reported with unmitigated glee. When the bloodshed was over after three weeks and none of the apocalyptic prophecies had come true (no street fighting, no burning oil wells), there was a keen sense of disappointment.
None of this would be worth mentioning were it not for the fact that the German government and TV stations and newspapers spoke with one voice. What does this kind of consensus remind us of? Certainly not a Western democracy in the middle of Europe. But it does have an uncanny resemblance to countries like Egypt or Syria. Even more so if one takes the Zionist entity into account. For if one pointed out that this war might – as a side-effect – contribute to the security of Israel, this was not perceived as an argument in its favour. Quite the contrary. One journalist wrote that a conspiracy of people like (you know) Wolfowitz and Perle was responsible for this military adventure; another journalist suggested the US might be securing Iraq´s oil fields for the benefit of Jerusalem.
So, is Germany seriously turning Arab? Perhaps. We may yet see demonstrations in the streets of Berlin where ordinary German citizens in suits and ties burn American flags and call for the introduction of Islamic law. Personally, I would prefer them to call for hummus and tea with nana.
Gespiegelt von: http://www.henryk-broder.de/html/fr_stein.html
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