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Vortrag und Diskussion

 

Unconditional Surrender

Die Deutschen zwischen Dresden und Bagdad

 

„Stalingrad funktioniert wie eine Art seelisches Gegengewicht zu Auschwitz. (...) Hat Hitler nicht auch das deutsche Volk rücksichtslos verheizt?“ (Tagesspiegel, 2.2.03) Die moralische Rehabilitation des gemeinen Landsers, den an der Wolga sein Schicksal ereilte, geht heute einher mit der Rechtfertigung der Heimatfront, die gar keine Chance gehabt habe, sich gegen Hitler aufzulehnen, weil die damaligen Deutschen mit dem Überleben im Bombenkrieg beschäftigt gewesen seien. Diese deutsche Geschichte erzählt von der ewigen Friedensbewegung, die nie eine Chance hatte: In Stalingrad nicht, weil Hitler und seine Generäle die Truppe ins Verderben schickten, in Lübeck, Dresden, Hamburg, Berlin usw. nicht, weil die Alliierten keine Gnade mit Zivilisten kannten. „Der Brand“ heißt das Buch zu diesem Krieg gegen das Durchhalte-Deutschland, in dem die Westalliierten ihre moralische Überlegenheit durch die Art ihrer Kriegführung verloren haben sollen.

Jörg Friedrichs Schwarte wäre allerdings nicht so ein Megaseller geworden, befände sich die Berliner Republik nicht im Zustand freudiger Erwartung auf den Krieg gegen den Irak: Man wünscht den Amis, dass auch sie endlich ihr Stalingrad erleben. Ebenfalls im Tagesspiegel (23.12.02) erklärt Friedrich in einem Interview den deutschen Generaloberst Reinhardt zum Kronzeugen für Diskriminierungen gegen Deutsche. Reinhardt habe vor dem Nürnberger Tribunal „einen logisch bestechenden Satz“ geäußert: „Hätten wir mit unseren Maschinengewehren nicht horizontal das Dorf und jeden Zehnten vernichtet, sondern vertikal aus der Luft zugeschlagen und nicht jeden zehnten, vielmehr jeden dritten Bewohner getötet, dann stünde ich ja wohl als Kriegsverbrecher nicht hier.“ Friedrich fordert dazu auf darüber nachzudenken, „ob wir mit unserem wohl abgespeicherten Geschichtsbild den Gedanken verkraften können, dass auch die Gegenseite einen Vernichtungskrieg geführt hat.“ Als hätten die Deutschen je ein Problem damit gehabt, den Gedanken zu verkraften, sich zu Opfern zu erklären. Da muss der Interviewer nun doch protestieren: „War er das? Die Alliierten wollten das deutsche Volk doch nicht auslöschen.“ Friedrichs Antwort:„Die Wehrmacht wollte die russische Bevölkerung auch nicht auslöschen. Allein schon darum, weil man sie versklaven wollte.“

Deutsche Antworten auf Fragen, die sich merkwürdigerweise ausschließlich Deutsche stellen. Dass Deutschland die Sowjetunion überfiel und die örtliche Bevölkerung die Wahl hatte, entweder gleich erschossen zu werden oder wenigstens den Versuch zu machen, ein paar Deutsche mit in den Tod zu nehmen – das interessiert den deutschen Moralismus nicht. Ist Krieg nicht immer grausam, sind die Opfer nicht immer unter den Zivilisten zu finden, hat nicht jede Seite Dreck am Stecken? Die Tiefe solcher Fragen kann vielleicht nur von Deutschen ausgelotet werden: „Die historische Erfahrung – Auschwitz und Stalingrad – trennt die Deutschen von den Amerikanern, Briten, Franzosen und Russen, auch jetzt in der Irak-Krise.“ (Tagesspiegel, 2.2.03) Denn im Gegensatz zu Anderen können Deutsche aus der Geschichte lernen, weil auch sie sich als Opfer eines amerikanischen „Vernichtungskrieges“ fühlen. So werden die Bomben, die höchstwahrscheinlich demnächst Bagdad und andere irakische Städte treffen werden, in Wirklichkeit die Deutschen meinen. Sie sind schon jetzt ganz retraumatisiert. Wie Gaffer beim Autounfall sieht man genau hin, ob Blut fließt, um sich dann angewidert und betroffen abwenden zu können. Die irakischen Zivilisten, die mit Sicherheit unter den Opfern der US-Intervention sein werden, sind diesen Deutschen genauso gleichgültig wie dem irakischen Diktator. Es geht um sie selbst und ihre Psychohygiene. Sonst wäre ihnen aufgegangen, dass die Bevölkerung dort beileibe nicht nur unter dem Embargo zu leiden hat, das übrigens jene Friedensfreunde, die 1991 gegen den Krieg auf die Straße gingen, gefordert hatten.

Es bedarf deutscher Erfahrungen, um mit den Opfern gänzlich mitfühlen zu können. Mitgefühl zeigt man in dieser deutschen Tradition mit den von US-Bomben Bedrohten – also mit sich selbst, statt mit den Opfern Saddams. So sind es die in der Friedens-Volksgemeinschaft aufgehenden Deutschen, die den Vergleich zwischen dem deutschen und dem irakischen Schnauzbartträger ziehen: Im Irak, mehr noch als in anderen Staaten, gegen die das US-Militär vorgegangen ist, erkennen sie sich wieder, im Antisemitismus ebenso wie im Führerkult.

Was eigentlich soll man von Leuten halten, die anlässlich des Massakers vom 11. September 2001 nichts besseres zu tun hatten, als darauf hinzuweisen, wie lächerlich gering die Zahl der Opfer im Vergleich zu den täglich an Hunger Sterbenden sei, und die nun ankündigen, um jedes Opfer zu trauern? Von Leuten, denen jede Antikriegsaktivität wie von selbst zur antisemitischen Manifestation gerät, wie die attac-Tournee im Januar, und die angesichts israelischer Opfer von Selbstmordattentaten nur ein insistierendes „selber schuld“ verlauten lassen? Ihr Frieden ist nur ein anderer Krieg: der gegen die USA, und solange der noch keine Erfolgsaussichten hat, der gegen Israel. Das ist die Botschaft, die Zehntausende am 15. Februar auf die Straße tragen werden. Globalisierungsgegner, Nazis, Linke, Grüne, Christen – sie alle werden unter palästinensischen und irakischen Fahnen für den ewigen Frieden deutscher Provenienz  marschieren. Es ist einer dieser deutschen Zufälle, dass sie dies in zeitlicher Nähe zum 58. Jahrestag der Bombardierung von Dresden am 13.2.45 tun, und der eine oder andere Redner wird dieses Ereignis erwähnen, um die Grausamkeit und die Sinnlosigkeit des Krieges zu veranschaulichen.

Das Buch von Jörg Friedrich, das bei der hier anzukündigenden Veranstaltung die zentrale Rolle spielen wird, ist ein ebensolcher Angriff auf die Vernunft, also jenes distanzierende Moment der Reflexion, das mit dem Friedensgeschwafel ausgeschaltet wird.

 

Freitag, 14. Februar 2003, um 19:00 Uhr,

TU-Mathegebäude Raum MA 041,

Straße des 17. Juni, Berlin

 

Veranstaltet von: Redaktion BAHAMAS, Berliner Bündnis gegen IG-Farben, AStA TU

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