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Vortrag von Justus Wertmüller, gehalten am 25.1.08 auf der Konferenz „Der Westen und der iranische Krieg gegen Israel“ in Berlin

 

Auf der Suche nach Schutz

Warum ein Bündnis mit der „Mitte“ der Israelsolidarität das Licht ausblasen würde

 

Sonntags abends um 20:15 in der ARD und nicht etwa direkt im Anschluss bei Anne Will spricht sich die Nation aus. Die Aussprache erfolgt über den Tatort, einer Krimiserie, die alles verhandelt und bewertet, was die Nation bewegen sollte. Kein Leitartikel, keine Talkshow und schon gar kein Politiker vermag das auch nur annähernd so konsensstiftend zu vollziehen – niemand ist so jeden Verdachts enthoben, einseitig zu sein, es übel zu meinen, den Ausgleich zu verweigern. Am 23.12.2007 sollte dem Publikum einmal wieder Nachhilfeunterricht über die Frage, wie es mit der Kultur des Moslems bestellt sei, erteilt werden. Unter dem Titel „Ehre wem Ehre gebührt“ kam ein besonders perfides Stück Diskriminierung zustande, das ausgerechnet jene dem islamischen Kulturkreis zugerechnete Minderheit Hohn und Spott aussetzte, von der bekannt sein sollte, dass sie die meisten islamischen Scheußlichkeiten ablehnt und deshalb immer wieder ins Fadenkreuz des sunnitischen Schein-Laizismus türkischer Prägung gerät.

 

Deutsche und Islamisten stürmen gemeinsam das Cemevi

 

Die Story: Eine junge Frau türkischen Migrationshintergrundes wird ermordet aufgefunden. Die Kommissarin denkt an Ehrenmord und wird von ihrem türkischstämmigen neuen Kollegen auf vorurteilsbelastete Einstellungen hingewiesen, sprich: sanft gerüffelt. Der Freund der Getöteten, auch ein Türke, gerät unter Verdacht, der Vater erweist sich als undurchsichtig, die Schwester Selda verhält sich sonderbar. Man weiß, dass sie mehr weiß, aber unter Druck steht, und: irgendwann lässt es sich nicht länger verheimlichen: sie ist schwanger. Die Kommissarin, selber schwanger und schon von daher vom Schicksal aller werdenden Mütter tief betroffen, sucht Nähe zu Selda, die sich aber verweigert. Schließlich kostümiert Selda sich neu: Die westliche junge Frau trägt das islamische Kopftuch und sucht Unterschlupf bei Freunden. Am Ende kommt heraus: Der Vater hat seine jüngere Tochter vergewaltigt und geschwängert und die ältere, die ihm drauf gekommen ist, zu Verdunkelungszwecken ermordet. So weit so fad, – wäre da nicht eine Pikanterie am Rande gewesen: Die Familie, aus der die Opfer stammen, ist alevitisch. Der Freund der Getöteten, unter dessen und des Kopftuchs Schutz sich Selda flüchtet, ist Sunnit.

„Ich wollte etwas Komplexes“ sagte die Drehbuchautorin und Regisseurin des Films Angelina Maccarone gegenüber der taz. „Ich wollte Klischees aufbrechen und zeigen, dass es keine homogene Gruppe von türkischen Migranten gibt.“ Den Hinweis der taz: „Die von ihrem Vater missbrauchte Selda distanziert sich vom Alevitentum und wendet sich einem strenggläubigen sunnitischen Islam zu“ konterte sie so: „Selda ist ein verzweifeltes Mädchen auf der Suche nach Schutz. Aber es ist in keinster Weise so, dass ich da eine Glaubensrichtung über die andere stelle.“ Da sei Gott vor. Die Alevitische Gemeinde Deutschland dagegen war anmaßend genug, in einer Presseerklärung sehr wohl eine Religion über die andere zu stellen, nämlich die ihre über den Mehrheitsislam: „Auch die subtile Botschaft des Films, dass der sunnitische Islam für das Inzest-Opfer als Rettungsanker dient, verstärkt hier den Verdacht der Instrumentalisierung. Die abstruse Botschaft ist doch letztlich, dass das Kopftuch, das sonst völlig zu Recht als Symbol für die Unterdrückung der Frau betrachtet wird, für das vom alevitischen Vater missbrauchte Inzestopfer eine Schutzfunktion hat. Applaus! Bravo! Islamisten danken! So viel volksverhetzende Propaganda vom deutschen Fernsehen ist für die sunnitischen Scharfmacher mehr als man zu träumen wagte.“

Wer nun glaubt, dass wenigstens alle hierzulande aktiven Politikerinnen und Publizistinnen türkischer Herkunft die alevitische Gemeinde unterstützt hätten, der liegt, wie folgendes belegt, völlig falsch: „Ich glaube Ihr Film ist den alevitischen Verbänden ein willkommener Anlass, eine Werbebotschaft in eigener Sache heraus zu posaunen – zur besten Sendezeit und die Aufmerksamkeit bekannter Tageszeitungen inklusive! Die Botschaft ist: ‚Aleviten sind die besseren Muslime, Aleviten sind liberal und demokratisch und damit moderner als ihre hinterwäldlerischen sunnitischen Brüder und Schwestern‘ Das organisierte Alevitentum nutzt die Chance, sich von den Sunniten abzugrenzen: ‚Wir sind die Guten, ihr die Schlechten!‘ Damit widerspricht es völlig der alevitischen Philosophie von Toleranz und Menschenliebe.“ So sprang eine Deutsche, die ihr besonderes Dazugehörigsein als Quotenmigrantin gelernt hat, in einem offenen Brief der Filmemacherin Maccarone an die Seite. Es war Lale Akgün, Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Was Akgün den Aleviten da in den Mund gelegt hat, ist nur zu wahr, auch wenn alevitische Verbände es so offen nicht aussprechen würden: Aleviten sind liberal, demokratisch und moderner als die Mehrheitstürken oder –kurden.

Sexuelle Gewalt gibt es überall, Inzest auch. Statistisch gesehen wäre es ein Wunder, wenn nicht auch unter den 800.000 türkischen Aleviten in Deutschland sexuelle Übergriffe in der Familie stattfänden. Statistisch ließe sich allerdings auch beweisen, – wenn man nur wollte – dass Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, auch sexuelle, unter Aleviten weit seltener vorkommt als unter den praktizierenden sunnitischen Mehrheitsmoslems. Aleviten zwingen ihre Frauen und Töchter nicht unters Kopftuch und führen ein religiöses Gemeindeleben, an dem Frauen und Mädchen gleichberechtigt teilnehmen können und nicht hinter einem Gitter der männlichen Ritualveranstaltung zuschauen müssen. Auch wird im Cemevi nicht von einer gläubigen Herde dauernd das Gesäß gen Himmel gereckt und unterwürfig und drohend zugleich „Allah ist der Größte“ psalmodiert. Dort finden vielmehr diskussionswürdige Vorträge über häufig sehr weltliche Dinge statt, ohne dass christliche oder jüdische Monster zur Triebabfuhr präsentiert oder ein paar hundert Jungfrauen gegen die ewige Verdammnis auf die Waage gebracht werden. Der Ausbildungsstand von Aleviten ist entsprechend höher als bei Sunniten, die Arbeitslosigkeit unter ihnen niedriger, die Konfliktlösung weit seltener gewalttätig und die allgemeine Prüderie weniger ausgeprägt. Das gilt für die Türkei genauso wie für Deutschland, und das weiß Lale Akgün genauso gut wie Angelina Maccarone, die nicht müde wird, auf ihre intensiven Recherchen zu verweisen. Deshalb verstehen sich die Aleviten zumeist auch gar nicht als die besseren Moslems, sondern höchstens gelegentlich im Überschwang als die besseren Türken, bzw. Deutschen türkischen Migrationshintergrundes. Akgüns gekränkt aggressiver Ton rührt aus der persönlichen Erfahrung einer assimilierten Sunnitin her, die es schwer verwinden kann, dass eine andere Gruppe religiös und kulturell definierter Türken immer schon einen Schritt weiter war und das dort, wo sie nicht dauernd mit Verfolgung rechnen müssen, auch ganz unverhohlen sagen. Sie ist als typische Bedenkenträgerin des sunnitischen Mehrheitstürkentums gleichzeitig ganz und gar in der Welt der autochthon deutschen Bedenken angekommen. Akgüns Klientel sind gar nicht die sunnitischen Türken in toto, unter denen sich immerhin ein unbekannter aber zum Glück hoher Anteil von Leuten befindet, die weder Kopftücher noch Moscheen noch Islambeauftragte schätzen, – ihre Klientel sind vielmehr jene unter ihnen, die mit Kopftüchern Schutz und mit dem Einsperren der Mädchen und Frauen in der Familie das Ausbleiben inzestuöser Übergriffe verbinden. Die gleichen, deren Kinder selten auf höhere Schulen gelangen – und wenn doch, vorab gegen Aufklärung abgedichtet ihre Abschlüsse machen, – wollen auf höherer Stufe verwirklichen, was der sehnlichste Wunsch ihrer gescheiterten Väter war: Anwalt und Patron einer armen und ungebildeten Klientel zu sein, dem sie Schutz gewähren, indem sie sie im Vorurteil bestärken. Einem Vorurteil, das sich unter anderem in einem in der Türkei weit verbreiteten Sprichwort manifestiert, wonach die Aleviten Leute seien, „die im Dunkeln die Mutter und die Schwester nicht erkennen“; soll heißen: im beim Gottesdienst angeblich verdunkelten Cemevi jede Form auch inzestuösen Schweinkrams trieben.

 

Die Mobilisierung der gesellschaftlichen Mitte

 

Es wäre grundfalsch, die öffentliche Verhöhnung der Aleviten – deren Proteste sofort in die Nähe der moslemischen Ausschreitungen anlässlich der dänischen Mohammed-Karikaturen gestellt wurden – nur mit der allerdings verbreiteten Angst vor der Konfrontation mit den richtigen Anhängern Allahs zu erklären. Die Deutschen sind sicherlich ausgemachte weasels, wenn es um die Übernahme internationaler Verantwortung für die Freiheit und das Leben kulturell bzw. religiös Verfolgter geht. Und ein Teil dieser Feigheit mag auch der irren Hoffnung entspringen, selber ungeschoren zu bleiben, wenn man sich mit den Aggressoren arrangiert, also sie nicht an ihrem mörderischem Tun hindert.

Die eigentliche deutsche Angst entspringt aber der dauernden Suche nach einem wahnhaften autoritären Surrogat für Versöhnung, die man an einem scheinbar ganz unverdächtigen Ort stiften will: In der Mitte. Dass die vielbeschworene Furcht vor dem Verlust der Mitte mehr ist als ein abgedroschenes Politikerwort, sondern eine scheinbar auf umfassenden Ausgleich drängende Veranstaltung, für deren Gelingen allerdings gelegentlich Notopfer gebracht werden müssen, lässt sich am Tatort „Ehre wem Ehre gebührt“ exemplarisch nachzeichnen: Ein Tabu wird gebrochen, es wird auf inzestuöse Vorfälle im moslemisch-migrantischen Milieu hingewiesen. Das Tabu wird unantastbarer denn je wieder aufgerichtet: Das Symbol für die gewalttätig ausgelebte Sexualität von zumeist Ehemännern, aber auch Vätern, älteren Brüdern, Onkeln – das Symbol für die Auslieferung der Frau unter ewig währende Männergewalt im hermetisch abgeschotteten Bezirk der Familie – erscheint als Zeichen der Zuflucht vor eben diesen Übergriffen. Übergriffe übrigens, die, und das ist eine der nachdenklich stimmenden Botschaften des Films, eben auch jederzeit in autochthonen deutschen Familien vorkommen könnten. Die in den Film eingebaute alevitische Ebene sollte wahrscheinlich wirklich nicht der Diskreditierung dieser Personengruppe dienen, wie Maccarone und mit ihr das Feuilleton nicht müde werden zu beteuern. Aleviten hatten lediglich die türkischen Widergänger von „uns“, den Mehrheitsdeutschen, abzugeben, und sollen jedenfalls nicht als besser dastehen als das ganz islamische Original, von dem sie sich so leidenschaftlich abgrenzen. Das muss Frau Maccarone gemeint haben, als sie vorgab, etwas Komplexes gemacht zu haben, das in Wirklichkeit aber ein Beitrag zur Herstellung umfassender Gleichförmigkeit war.

Nicht die Mittelmäßigen selber definieren die Mitte, für sie werden Meinungsmacher aktiv, die vorhandene Stimmungen stets zu benennen und ihnen manchmal erst so richtig auf die Beine zu helfen wissen. Lale Akgün will die türkische Welt an einem um sich greifenden aber noch nicht mehrheitsfähigen, zur Barbarei tendierenden, kulturell, nationalchauvinistisch und religiös definierten Mittelmaß affirmativ bestimmen, und Frau Maccarone hat ihr die Vorlage geliefert. Die Politiker von CDU und Linkspartei im Magistrat der mecklenburgischen Stadt Anklam gehen da ganz ähnlich vor, wenn sie das Mittelmaß in ihrer Gemeinde nach der beständig stärker werdenden NPD ausrichten, mit der sie immer wieder gemeinsam Beschlüsse fassen. Die Bestimmung des Mittelmaßes erfolgt nicht an der vorhandenen Mehrheitsstimmung, sondern an dem, was sich in ihrer Radikalisierung autoritär herauszubilden beginnt. Hier der islamische Rigorismus, dort die regionale Standortgemeinschaft mit ihrer völkischen Avantgarde.

Die Definition der Mitte meint durchaus das Mediokre, aber das Mittelmaß war noch nie harmlos, – es wird vielmehr in dem Maße, wie nach ihm gefahndet wird, immer gefährlicher. Die gesellschaftliche Mitte in einem Land ohne selbstbewusst durchgesetzte bürgerliche Vergangenheit repräsentieren die Feigen, Mutlosen und Untüchtigen – jene, die dem Nachbarn jede Abweichung von einer Norm neiden, die nie anders als in stets ungenügenden und nach mehr ausgreifenden Verboten gefunden wird. Die Mitte ist Phantasma und brutale Drohung zugleich. Die diesem Prinzip Anhängenden ahnen, dass ihr Traum von ewigem Dämmerschlaf oder todähnlicher Ruhe nur Realität werden kann, wenn die Unterwerfung unter ein gemeinschaftsstiftendes Prinzip, das keine Infragestellung duldet, vorausgesetzt ist. Die herbeigesehnte Gleichheit in der Mitte, also die Verantwortungslosigkeit fürs eigne Tun und zugleich die Interesselosigkeit am Anderen, – dieses orientalische Prinzip verbürgt der totale Staat, der sich allerdings nur durch die mit seiner Allmacht korrespondierende gläubige Ohnmacht der Unterworfenen durchsetzen kann. Dass das Leben nur noch in der Unterwerfung erträglich ist, wie der Philosoph Pjotr Tschadajew 1829 die lethargische Mehrheitsstimmung in Rußland unter dem Zarismus kennzeichnete, – in einer Zeit immerhin, in der es lebensgefährlich werden konnte, aus der Mitte herauszutreten, – bedeutet dennoch mehr als eine durch Gewalt und Zwang aufgeherrschte allgemeine Ohnmacht. Es meint zugleich das stille oder gar nicht so stille Einverständnis mit dem Schutz, den man sich von der totalen Herrschaft verspricht. Dieser Schutzgedanke ist ein inbrünstiger: So sehr die Gläubigen damit die Legitimation zur Verfolgung Ungehorsamer für sich ableiten und gelegentlich bei der Aufrechterhaltung des Schutzes mit Hand anlegen, so unabdingbar notwendig ist für die Entfaltung totaler Herrschaft ein gemeinschaftsstiftender Glaube an ihre Mission.

 

Von Anklam bis Neukölln – die Mitte sucht Schutz

 

Das dauernde Scheitern der NPD, die selbst in Anklam nicht über die Symbolebene eines kollektiv gegen Bonzen und Besserwessis gereckten Stinkefingers hinauskommt, was dennoch für Ausländer und Abweichler lebensgefährliche Konsequenzen haben kann, verweist auf die ziellose Suche der autochthonen Deutschen nach einem anschlussfähigem Glaubensersatz. Der stößt – bezogen auf die Nazis – vorerst, wenn auch völlig unzureichend und kräftig pädagogisch aufbereitet, auf völlige Ablehnung im „Tatort“, weil an eine Neuauflage des nationalsozialistischen Volksstaats niemand recht glauben will.

In der türkischen Minderheit hat man ein offensichtlich realitätstüchtigeres Glaubensoriginal ausgemacht, – mit fatalen Folgen für diejenigen, die der ihnen vom Islamrat und Angelina Maccarone angedrohten Versöhnung mit den Tugendwächtern in der Mitte verzweifelt zu entfliehen versuchen.

Wo man mit sich selber hadert, weil sich kein Ausweg aus einer allgemeinen Sinnkrise auffinden lassen will, wo all die inbrünstigen Zutaten, die man aus den unterschiedlichsten Töpfen nimmt, sich zu nicht mehr als einem völlig unverbindlichen Patchwork-Glauben zusammenrühren lassen, für den die abgeschmackten Gemeinplätze des Dalai Lama ideologieübergreifend stehen, schaut man gebannt auf ein sich anbahnendes Schlachtfest unter Angehörigen einer angeblich fremden Kultur, in dem sich die totale Macht schon nicht mehr als der autoritäre Staat, sondern durchaus zeitgemäß als unmittelbar demokratische Volksmacht ankündigt, deren Vollzugshelfer als Banden agieren.

Die Deutschen werden in ihrer Mehrheit weder Hadayatullah Hübsch noch Yussuf Islam alias Cat Stevens folgen. Sie haben bislang am Zentrum des Islam, der Knechtung der Mädchen und Frauen, keinen Gefallen gefunden und würden jeden, der ihnen dergleichen aufzwingen wollte, zurückweisen. An umfassendem Schutz sind sie als das Volk der Opfer allerdings gerade auch in sexuellen Dingen durchaus interessiert. Den Schutzgedanken zelebrieren sie zunächst hochpädagogisch im Kleinen, indem sie etwa skandalisieren, was einer durchaus unerotischen Mittelstandsmoral widerspricht. Man achte zum Beispiel auf das besonders im Fernsehen dargebotene Erscheinungsbild eines politisch korrekten Pärchens, das in Interessen, Alter, gesellschaftlicher Repräsentanz sich wie Bruder und Schwester zu gleichen hat, und daran gespiegelt die stetige Verunglimpfung von Liebespaaren mit großem Altersunterschied oder gar der weitgehend bindungslosen Libertinage. Erinnert sei auch an die haltlosen Verdächtigungen, beginnend vor 20 Jahren, mit denen das Mädchenzentrum Wildwasser e.V. und andere interessierte Denunzianten ausgerechnet die arrivierten, bildungsbürgerlich orientierten Kleinfamilien als pathologische Kinderschänderzellen verunglimpften. Seit den späten 80er Jahren ist eine ganze Enthüllungswelle über das Land geschwappt, deren Initiatoren als Zeitzeugen vorwiegend gestandene Frauen um die 40 aus dem Mittelstandsmilieu präsentierten, die wie auf einen erlösenden Zauberspruch hin in entsprechenden Therapiesitzungen sich an sexuellen Missbrauch durch den Vater im vorbewussten Alter von unter drei Jahren, manchmal gar unter einem Jahr, „erinnerten“ und damit an die Öffentlichkeit gingen. Seit Wildwasser und andere Agitatoren – nicht zuletzt wegen des mutigen öffentlichen Einspruchs der Publizistin und Journalistin Katharina Rutschky – widerrufen mussten und die damals ausgegebenen erfundenen Zahlen, wonach über ein Drittel aller Mädchen und auch sehr viele kleine Jungen in der frühen Kindheit missbraucht worden seien, als unseriös gelten, ist dieser Spuk zwar zu Ende. Unzerstörbar jedoch bleibt seither nichtsdestoweniger das schauerliche gefühlte Wissen, dass unter der Maske der Wohlanständigkeit die nackte Gewalt lauere, dieses hämische Einverstandensein mit der Lüge, dass gerade dort, wo Wohlstand, Bildung und Liberalität vorhanden sind, sich der schrecklichste Missbrauch zutrage. Die Tatort-Ideologen von heute behaupten seither – von dem belgischen Massenwahn um den Kinderschänder Marc Dutroux und seine herbeihalluzinierten Komplizen aus der besten Gesellschaft, Mitte der 90er Jahre, animiert – unverdrossen die Existenz von Kinderschänderringen, von denen insbesondere der sozialdemokratisch orientierte Kriminalroman oder -film aus den skandinavischen Ländern mit seinen vorwiegend deutschen Konsumenten weiß, dass sich dahinter ein Filz aus Großkapitalisten, Politikern und hohen Polizeibeamten verberge.

 

Dunkle Räume – der Mittelstand unter Generalverdacht

 

Was dem türkischen Sunniten die dunklen Räume der Aleviten sind, in denen man die eignen Mütter, Schwestern oder Töchter nicht mehr erkenne, also mit ihnen Inzest treibe, ist dem Mehrheitsdeutschen längst ein überall als brüchig erkannter Alltag, von dem unerhörte Gefahren jederzeit ausgehen könnten, die sich in der Phantasie nicht zufällig so häufig als inzestuöse Vergewaltigungen der Schutzbedürftigsten, also kleiner Mädchen, manifestiert.

Angelina Maccarone hat schuldhaft aber ohne jeden Vorsatz gehandelt, als sie die türkischen Aleviten zu dem erklärte, was Volkes Stimme über sie immer schon wusste, – denn sie hat gar nicht über Türken oder Moslems reden wollen. Der Generalverdacht sollte aus dem exotischen Milieu ins deutsche Zentrum der Gesellschaft zurückverlagert werden und nach alter Wildwasser-Methode bekräftigen: Dass jederzeit und überall der Vater seine Tochter vergewaltigen und die Zeugin seiner Untat umbringen könnte. Die Aleviten haben dafür als Darsteller herhalten müssen, weil deutsche Schutzsucher sie nicht brauchen können: Sie sind ihnen zu ähnlich.

Heutiges Alevitentum ist eine Verfallsform von Religion, die zugleich alle gerade im türkischen Mittelstand vorhandenen Bedürfnisse nach Esoterik bedient. Islamisches und Vorislamisches, die in der Türkei unter Linken immer noch verbreitete Wertschätzung für scheinbar tiefsinnige volksverbundene Lieder und Lyrik, der zunehmende Hang zu Meditation und Mystik, – unter Alevitentum läst sich heute in der westtürkischen Großstadt oder hier in Deutschland fast alles buchen. Nur eben eines nicht: Die Unterwerfung unter die menschenfeindlichen Gesetze der Sunna und der Schia und damit auch kein Schutzangebot vor den Anfechtungen des Eros in Form der Ganzkörperverhüllung.

Das Schwankende und Unklare im alevitischen Synkretismus ist zugleich auch lange Zeit sein Vorzug gewesen. Er ist Zeugnis einer bald 700 jährigen Widerstandsgeschichte gegen islamische und osmanische Zumutungen, also gegen den totalen Staat und seine hochideologisierten Untertanengemeinschaften, und damit Vorbild. Das gilt durchaus verwandt für die viel jüngere synkretistische Religion der Bahais, deren Anhänger deshalb im Iran der 80er Jahre zu Zehntausenden ermordet wurden. Was für die Bahais im Iran gilt (soweit dort überhaupt noch Bahais leben), trifft auch auf das Alevitentum zu. Diese Religion ist im türkischen Raum, und damit auch dort, wo Diaspora-Türken leben, die bessere Religion, oder genauer: der gar nicht sehr religiöse Widerstand gegen die Zumutungen des Orients. Ein Blick auf die am 29.12. in Köln gegen Maccarones „Tatort“ veranstaltete Demonstration mit immerhin 15.000 Teilnehmern verdeutlicht das: Auf den Pressebildern waren sehr viele Frauen zu sehen, aber nicht eine mit Kopftuch, fast ausschließlich türkische Auswanderer und nicht eine türkische Fahne. Sind das nicht die ersten Bündnispartner für einen Integrationspakt?

Aber man macht ja keinen Unterschied zwischen Religionen, wie man keinen zwischen einer alevitischen und einer religiös-sunnitischen Familie bei der Frage macht: Wo die statistische Wahrscheinlichkeit von Vergewaltigungen der Töchter durch ihre Väter oder andere männliche Verwandte höher liege. Genauso tabuisiert bleibt die Frage, in welchem Zusammenhang die Häufigkeit nicht unmittelbar sexueller Gewalterfahrung von Kindern und Jugendlichen, in deren Familien der Islam rigoros ausgelebt wird, mit der Perpetuierung der Gewalt durch die von ihr Betroffenen steht. Oder noch etwas direkter: In welchem Zusammenhang stehen vorprogrammiertes Scheitern von Unterschichtsjugendlichen aus Neukölln oder Anklam in Ausbildung und Beruf zu ihrer Neigung zu physischer Gewalt und totalitärer Ideologie – im Unterschied zu den Söhnen aus laizistischen türkischen beziehungsweise bürgerlichen deutschen Familien? Diese Unterschiede zu leugnen, obwohl sie zum großen Teil statistisch erhärtet sind, ist keineswegs irgendwelchen scheinbar gut gemeinten Strategien gegen die Durchmärsche von Roland Koch und Konsorten geschuldet. Solches Leugnen bedient die Kochs und die Anklamer Nazi-Versteher sogar. Deren Brandruf nach sofortiger Abschiebung krimineller Ausländer bekommt noch Nahrung durch die antirassistisch gefälschten Statistiken, wonach es unter autochthon westdeutschen Jugendlichen einen gleich großen Anteil an Kriminellen wie unter türkischen, arabischen oder ostzonalen gebe. Im westdeutschen Fall können Ausländerfeinde sich so zu Kündern der Wahrheit aufwerfen; im ostdeutschen Fall erscheinen sie immer mehr als Repräsentanten der gesellschaftlichen Mitte, der man sich nun mal anzuschmiegen habe, will man nicht Gesundheit oder Leben aufs Spiel setzen.

 

Politischer Wagemut gegen „knallharte Realpolitiker“

 

Die Unterschiede gar nicht erst erkennen, geschweige denn aussprechen zu wollen, korrespondiert mit jener sehr deutschen Verantwortungslosigkeit zunächst gegenüber der Empirie, dann der einfachen Logik und schließlich dem Unwillen, aus etwas einmal für richtig Erkanntem die gebotene Konsequenz zu ziehen. Das wäre die Voraussetzung für Verantwortung auch gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund, die sich gegen die teilweise von ihnen schon ausgehende oder ihnen drohende totalitäre Ideologie zu richten hätte, eine Verantwortung allerdings, die zu übernehmen nur der in der Lage ist, der sich aus dem Stillstand der Mitte hinausbegibt, der das Mediokre durch auch politischen Wagemut überwindet.

Politischer Wagemut wäre es etwa, sich dem Schriftsteller Zafer Senocak anzuschließen, der kürzlich in der „Welt“ postuliert hat, dass der Islam möglicherweise schlimmer sei als der Faschismus und Europa endlich in der islamischen Welt im Zweifel auch bewaffnet zu intervenieren hätte, genauso wie zu Hause der Islamisierung von Minderheiten aktiv entgegenzutreten sei. Wie wollte man aber den Leitlinien des Islams – nicht des Islamismus, des Djihadismus – nein, die des Islams – überhaupt den Kampf ansagen, ohne sich einem autoritären Konkurrenzprojekt zu verschreiben, das sich islamkritisch kostümiert und in Wirklichkeit deutschen Opferschutz betreibt?

Das gesellschaftliche Projekt, das man überhaupt erst aufzurichten hätte, wäre – auch hierin ist Senocak zu folgen – der Westen, die bürgerliche Republik, mit ihrer Respektlosigkeit gegenüber Kollektiven, ihrem Respekt vor dem Einzelnen und ihrem wachsamen Misstrauen gegenüber der schrankenlosen Demokratie, diesem Pendant des totalen Staats. Wie könnte man in einem Land, indem zwar die Republik aufgerichtet ist und immerhin seit bald 60 Jahren funktioniert, aber zugleich als künstliches, von außen eingeschlepptes Prozedere beargwöhnt wird, das bestenfalls Wohlstand, niemals aber wirkliche, unverfälschte Selbstfindung und entsprechendes Miteinander gewähren könne, die Bevölkerung in krisenhaften Zeiten dazu aufrufen, selbstbewusst dafür zu kämpfen, dass andere am immerhin erreichten Minimalstandard von Menschlichkeit partizipieren können? Europa steht von ganz rechts bis ganz links als Garant der persönlichen Unfreiheit aller Nichteuropäer da, auch solchen, die längst in Europa leben: An den Aleviten und ihrem öffentlich verlautbarten Protest hat man gerade nicht kritisiert, dass auch sie immer öfter einen fatalen Hang dazu haben, als autonome kulturelle Gemeinschaft, die unter sich bleiben will, Respekt für sich einzufordern und diesen Respekt – also das Kritikverbot – unter anderem auf einen auch unter ihnen verbreiteten Heiratsmarkt auszudehnen, der auf dem Prinzip der arrangierte Ehen basiert, wie Necla Kelek kürzlich richtig vermerkt hat. Stattdessen verfiel der möglicherweise unfreiwillig radikale Aufruf der alevitischen Gemeinde zur umfassenden Kritik der islamischen Moral dem Verdikt der gesellschaftlichen Mitte.

In Wien hat vor einem guten halben Jahr Matthias Küntzel auf der Irankonferenz das Ende fruchtlosen Grüblertums angemahnt und zu „knallharter Realpolitik“ aufgerufen. Das waren markige Worte, wie sie immer dann fallen, wenn in Zeiten des Niedergangs einer Bewegung die zweifelnde Gemeinde zu mehr Anstrengungen für die gute Sache angehalten werden soll. Was können aber die Freunde Israels schon erreichen, wenn ihnen als Bündnispartner ausgerechnet die Mitte der Gesellschaft aufgedrängt wird? Wie könnte aus deutscher Mittelmäßigkeit die für das eingeklagte Bündnis gegen die iranische Atombombe notwendige republikanische Vernunft geschöpft werden? Die Aufklärung über iranische Bombenpläne oder die Verfasstheit des zeitgenössischen Islam – so notwendig sie zweifellos ist – kann die Kritik nicht ersetzen. Eine Kritik, die, wenn sie den Islam verhandelt, immer auch die deutsche Opferschutzgemeinschaft einbeziehen muss, und die niemals um eines Bündnisses willen sich das Festhalten an der Notwendigkeit, die Wahrheit unbeschönigt auszusprechen, abkaufen lassen darf. Der iranische Krieg gegen Israel und die USA kann überhaupt nur stattfinden, weil in Deutschland und Europa der Westen nur noch als geographische Bestimmung gilt und panische Standortgemeinschaften über alle politischen Lager hinweg eine knallharte Realpolitik gegen Israel und zugunsten seiner Feinde betreiben, der sich kein Politiker oder meinungsbildender Journalist entziehen kann.

Wie viele Mitstreiter man für die Verbreitung der Kritik am um sich greifenden orientalischen Bedürfnis nach völliger kollektiver Unverantwortlichkeit im Schutz des autoritären Staates gewinnen kann, weiß ich nicht; ich weiß aber mit Sicherheit, dass jeder Versuch, dieser notwendig auch antideutschen Kritik aus dem Weg zu gehen, weil Bündnispartner aus der Mitte verschreckt werden könnten, immer nur den deutschen Status Quo affirmiert, was Israel genausowenig nützt wie den vom Regime Verfolgten im Iran, den Aleviten und anderen nicht-islamischen Türken in Deutschland.

 

Justus Wertmüller (25. Januar 2008)

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