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Lübeck, 16. September 2010

 

„Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert.“ (Theodor W. Adorno)

 

Anfang dieses Jahres klagte eine Frau einen in der Lübecker Szene bekannten Mann an, er habe sie vergewaltigt. Was zwischen den beiden wirklich vorgefallen ist, bleibt ein Geheimnis, das wir nicht lüften können und wollen. Auffällig am durch die Frau vorgebrachten schriftlichen Outing war, dass die Begriffe Grenzüberschreitung, Übergriff und Vergewaltigung so miteinander vermischt wurden, dass jede Unterscheidung zwischen mit Gewalt oder Drohung erzwungenem Geschlechtsverkehr, dem Versuch einer Vergewaltigung, der durch Handlungen oder auch Worte begangenen sexuellen Belästigung und der erfolgten oder versuchten Verführung unmöglich ist.

Die Reaktion der szeneeigenen Miliz ließ nicht lange auf sich warten: Dem vermeintlichen Täter, ein Bewohner des Wagenplatzes, wurde zuerst ein Hausverbot ausgesprochen, danach musste er das Gelände vollständig räumen.

Begleitet wurde diese für die autonome Szenejustiz archetypische Verfahrensweise wie immer mit allerhand sich an der deutschen Sprache versündigenden Stellungnahmen, Berichten und Pamphleten, die den Interessierten mit Informationen über den aktuellen Stand der „Diskussion“ (die keine ist, da hierfür ein Mindestmaß an Rationalität nötig wäre) versorgten.

Tatsächlich interessant ist hierbei allerdings die Stellungnahme des V.e.B-Kollektivs., das (wiewohl inkonsequent) versuchte, zögerlich eine wirkliche Debatte über die Definitionsmacht anzustoßen, was sodann von der linken Jugendgruppe „Basta!“ als Frevel am Dogma erkannt und unter aufbrausendem Getöse, drohend, man werde jegliche Zusammenarbeit einstellen, zurückgewiesen wurde.

Die selbst ernannten Frauenschützer durften sich auf der sicheren Seite wähnen, als sie jede Kritik des V.e.B am bisherigen Vorgehen als Unterwanderung der Definitionsmacht brandmarkten, konnten sie dabei doch auf die sich entweder duckende oder sich im gleichen inhaltsleeren Wortlaut äußernde Szenemehrheit bauen, die alles versucht, nicht den Vorwurf des „Täterschützens“ auf sich zu ziehen. Wo kein vernünftiger Zweck der Zusammenarbeit mehr besteht, wo man keinen Begriff mehr von dem hat, was man zu kritisieren vorgibt, wo man allein noch um des wohligen Zusammenseins willen sich trifft, da kann Identität, Inklusion, nur qua Exklusion hergestellt werden, da bedarf es der gelegentlichen Denunziation und der Hatz, um sich des Zusammenhalts zu versichern. Die inadäquate Heftigkeit aber, mit der die einschlägigen Gruppen auf eine Kritik der Definitionsmacht reagieren, zeugt vielleicht noch von etwas anderem als bloßem Konformismus oder dem Versuch, die permanente Identitätskrise zu bewältigen: nämlich von einem Strafbedürfnis, das sich sowohl aus der Verdrängung speist als auch aus der Abspaltung der eigenen des desexualisierten autonomen Zusammenhangs halber nicht eingestandenen Wünsche, der unverstandenen Triebe, die auf ein Außen projiziert, einem als etwas Fremdes, zu Bekämpfendes gegenübertreten.

Dieser Mechanismus bricht sich sporadisch Bahn und manifestiert sich dann in den entsprechenden Kampagnen; hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Projektion nicht ausschließlich im Zusammenhang mit „sexualisierter Gewalt“ funktioniert, sondern bereits in der Vorstellung einer übermächtigen Außenwelt, die mit den vollkommen austauschbaren Floskeln wie „Staat und Kapital“, Patriarchat oder dergleichen belegt wird, sich artikuliert. (1)

Dem Strafbedürfnis entspricht die pseudo-emanzipatorische Einrichtung der Definitionsmacht, die nach dem Grundsatz verfährt, „[w]ie du es erlebt hast, so sei es“ (2) und letztlich nichts anderes darstellt als eine negative Aufhebung der bürgerlichen Gewalteinteilung, die direktdemokratisch im Sinne des Standrechts und der unmittelbaren Herrschaft ist und die betroffene Person zur Anklägerin, Richterin und Vollzugsbeamtin/Rächerin in Einem werden lässt.

Das dergestalt zum absoluten Prinzip erhobene Ich kann durch die wiedererlangte (vermeintliche) Autonomie, die es im Akt des Strafens erfährt, die Kränkung seines Narzissmus überwinden, die ihm durch die Belästigung durch die Außenwelt zugefügt wurde, indem es die volle Macht über das Schicksal einer anderen Person erhält.

Die Strafe besteht meist im Ausschluss aus sämtlichen „Zusammenhängen“, was bereits indiziert, dass es nicht darum geht, eine traumatische Erfahrung aufzuarbeiten, so dass das Ich vielleicht irgendwann derart gestärkt ist, dass es gar dem Täter gegenübertreten könnte, sondern primär um das Strafen selbst; dies wird auch darin deutlich, dass eine Form der Resozialisierung per se ausgeschlossen wird, denn der Täter ist als Mann ohnehin potentiell gewalttätig bzw. in diesem Konflikt auf Seite der „HERRschaft“, sprich des (wie auch immer verstandenen) Patriarchats, also nicht wieder zu integrieren – wie er dann aber überhaupt für seine Handlung verantwortlich gemacht werden kann, bleibt das Geheimnis der Verfechter der Definitionsmacht, denn „[k]ein Mensch kann gleichzeitig für sein Tun verantwortlich sein und unfähig, sich zu ändern.“ (3)

Die Tatsache, dass eine sexuelle Belästigung oder gar eine Vergewaltigung ein konkreter Akt ist, spielt dabei keine Rolle, denn allein die subjektive Wahrnehmung des Individuums soll die Realität konstituieren, ganz als ob im Subjekt die Realität nicht in verkehrter, mit der eigenen Wahrnehmung durchmischter Form sich widerspiegelte (dass somit auch der empathische Wahrheitsbegriff suspendiert wird, der für jede Form auf Befreiung drängender Agitation unabdingbar ist, wird wohl nicht gesehen, da ein solches Ziel ohnehin nur noch als Dekor fungiert).

Dieser regressiven Strafprozessordnung ist bei aller Kritik das bürgerliche Rechtsprinzip samt seiner Grundsätze („in dubio pro reo“) und seines Festhaltens am Zwang zur Beweisführung, der verhindert, dass auf Zuruf denunziert und verfolgt wird, vorzuziehen, da hier Mechanismen greifen, die Willkür und Missbrauch wenigstens versuchen zu verhindern.

Was jedoch für eine Debatte, die diesen Namen wirklich verdiente, nötig ist, ist eine Erweiterung der bisherigen schalen Begriffsfelder um Überlegungen zu den Begriffen „Lust“ und „Sexualität“, die mitreflektieren, dass gerade in der Lust sowie in der Liebe die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen, die Grenzen zeitweise permeabel scheinen und dass es „[e]in Stück sexueller Utopie ist [...], nicht man selber zu sein, auch in der Geliebten nicht bloß sie selber zu lieben: Negation des Ichprinzips.“ (4) Hierzu bedürfte es aber des Hinterfragens der verdinglichten Kategorien wie „Selbstbestimmung“, „Grenze“ etc.; dieser auf Sexualität beschränkte Bereich könnte dann noch in Bezug zur Erkenntnistheorie gesetzt und mit dem vermittelt werden, was Adorno mit Hegel die „Freiheit zum Objekt“ nannte.

Wir laden, um sich diesem Thema ausführlicher zu widmen, alle an einer veritablen Diskussion Interessierten zu einem Vortrag von Justus Wertmüller (Redakteur der Berliner Quartalszeitschrift Bahamas) ein.

 

16. September 2010

18:00 Uhr

In der „Diele“ (Mengstraße 41 /43, 23552 Lübeck)

 

Literatur:

Theodor W. Adorno „Meinung Wahn Gesellschaft“ in Gesammelte Schriften 10.2

Bahamas Nr. 32: Justus Wertmüller/Uli Krug: „Infantile Inquisition“

Bahamas Nr. 34: „Hauptsache Sexualität“

Gruppe „Les Madeleines“: „Definitionsrecht – Notwendige Antwort auf Gewalt gegen Frauen oder Teil eines das Geschlechterverhältnis konservierenden Diskurses?“

Dies. „Kein Kavaliersdelikt“ in Jungle World Nr. 32, 12. August 2010

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