Das 19. Jahrhundert wähnte sich nur allzugern als eine Epoche, in der eine historische Mission auf die Zielgerade einbog. Eines Sinnes war man sich von St.Simon bis Spencer und Engels: Gerade letzterer brachte den common sense des Fortschrittsoptimismus, der in der Arbeiterbewegung seine größten Triumphe feierte, auf gewohnt markige Formeln. In "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", einer Schrift, die nicht nur den naturgeschichtlichen Gesetzmäßigkeitsobsessionen, sondern auch der Germanophilie deutlich frönt, steckt Engels Start- und Ziellinie des historischen Prozesses ab, Barbarei als seinen notwendigen Anfang, Zivilisation als sein notwendiges Ende. (1)
(Nicht nur) Engels unterstellt ein festgelegtes "Fortschreiten" der neuzeitlichen Gesellschaft auf dem Weg von sog. barbarischen, sprich naturwüchsig-zwanghaften Produktionsverhältnissen vermittels Arbeitsteilung, Expropriation und Warenproduktion (kulminiernd in der Industriealisierung) hin zu einer zivilisierten, sprich harmonischen (oder wenigstens pazifizierten) Verwirklichung der Weltvernunft.
Zu diesem Kanon des Fortschritts, den der aufgeklärt-liberale Bürger mit dem Marxismus-Leninismus teilt, gehört an exponierter Stelle die Nation als revolutionäre Errungenschaft: Sie verkörpert den Übergang vom Typus des in provinzieller Engstirnigkeit befangenen, in persönliche-konkreter Abhängigkeit vom Feudalherren versumpften Untertanen zum Staats-Bürger eines die lokalen Differenzierungen überwindenden Zentralstaates, in dessen Rahmen alle in unpersönlich-abstrakter Freiheit und Gleichheit miteinander verkehren. Nicht immer aber verlief der Prozeß auf seinem vorgeschrieben Weg ganz gleichmäßig; es ergab sich sogar, daß der gefeierte Fortschritt der Produktivkräfte sich gerade in autokratisch scheinenden Verhältnissen recht wohl fühlte.
Den eingeschworenen Anhängern des gesellschaftlichen Fortschritts, den Sozialdemokraten, war dies allerdings nur ein kleines Problem. Die selbsttätige Bewegung der Materie, des sogenannten gesellschaftlichen Unterbaus, womit die Gestaltwerdung der Produktivkraft Wissenschaft gemeint war, verkörperte ja den Fortschritt. Das Wachsen und die Zentralisierung des produktiven Apparates, die mit einer Enteignung des einzelnen Bourgeois zugunsten von Aktiengesellschaften einherging, die Ablösung des persönlichen Regiments des Eigentümers durch den Sachzwang der maschinisierten Produktion schien das alles nicht der allgemeinen Richtung des Fortschritts, der Ersetzung persönlicher Abhängigkeit durch objektive Notwendigkeit zu korrespondieren, ja ihr vorauszueilen?
Den gesellschaftlichen Fortschritt voranzutreiben hieß dementsprechend, den Überbau, in erster Linie also den Zentralstaat, der vorauseilenden Entwicklung des Unterbaus anzupassen. Lenin, in dieser Hinsicht legitimes Kind der (deutschen) Sozialdemokratie, mit dieser nur uneins in der Wahl der dienlichen Mittel, prägte für diese Haltung dann die bis heute gängige Anschauung: die Gesellschaft wird strikt mechanisch in Politik einerseits und Ökonomieandererseits zerlegt und ersterer je nach persönlicher Einschätzung Fort- oder Rückschrittlichkeit gemessen am unbezweifelten Rationalitätspotential der letzteren attestiert. Schon ein wenig ungeduldig gegenüber allerlei "linker Kinderei", belehrt Lenin deren Anhänger über den Weg des Fortschritts an einem Beispiel:
"Alle wissen, was für ein Beispiel das ist: Deutschland. Hier haben wir das "letzte Wort" moderner großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation, die dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unterstellt sind. Man lasse die hervorgehobenen Wörter aus, setze an Stelle des militärischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, aber einen Staat von anderem sozialen Typus ... und man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt ... Und die Geschichte ... nahm einen so eigenartigen Verlauf, daß sie im Jahr 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus gebar, eine neben der anderen, wie zwei künftige Küken unter der einen Schale des internationalen Imperialismus. Deutschland und Rußland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen Bedingungen und andererseits der politischen Bedingungen für den Sozialismus." (2)
Für Lenin schien also gerade in Deutschland alles zum Besten bestellt zu sein, dem modellhaften Fortschreiten der Zivilisation nichts Ernsthaftes im Wege zu stehen.
Unermeßlich somit der Schock, den der Nationalsozialismus diesem Weltbild versetzt hat! Trotz der doch unverbrüchlich verbürgten Rationalität der Produktivkräfte und das ausgerechnet in Deutschland verbindet sich ihre Planmäßigkeit bruchlos mit der archaisch scheinenden Tateinheit der beiden Zivilisationsprodukte par excellence Volksstaat und Staatsvolk im gemeinsam und planmäßig (!) begangenen Massenmord. Was auf dem Weg des Fortschritts längst hätte überholt sein müssen, zeigte sich auf der Höhe der Zivilisation in ungeahnter Virulenz, anstatt sich, nach Engels berühmten Diktum aus bewußter Fortschrittsfibel, ins "Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt zu gesellen." (3)
Was tun, damit der historische Materialismus daran keinen Schaden nimmt, damit man weiterhin glauben kann, daß der Weg der neuzeitlichen Gesellschaft zumindest im allgemeinen weiterhin von A gleich Barbarei nach B gleich Zivilisation führe? Deutschland muß vom Musterbeispiel zum historischen Sonderfall erklärt werden, d.h. es muß sich auf einem Umweg, einem Sonderweg von A nach B befinden.
Es war Lukács, der diese Lösung in ein zusammenhängendes Konzept vom deutschen Sonderweg faßte: Getreu der Vorgabe der zweigeteilten Gesellschaftlichkeit, getreu der Losung vom Primat der Politik, beläßt er der "ökonomischen Basis" der bürgerlichen Gesellschaft den rationalen, fortschrittlichen, zivilisatorischen etc. Nimbus. Als ob das propagandistische Idealbild des bürgerlichen Liberalismus mit der Entwicklung des Kapitalismus notwendig verbunden wäre, erklärt er Deutschland mitsamt seines Irrationalismus zum Sonderfall. Durch das "Überbau"phänomen einer zu späten und allzu schwachen Demokratisierung, hervorgerufen durch die Schwäche ihres vermeintlich naturgemäßen Protagonisten, der liberalen Bourgeoisie gegenüber der "Revolution von oben" seitens des preußischen Absolutismus sei das vorhandene Rationalitätspotential mißbraucht worden. Die so hergestellte Nation trüge im Vergleich zur an sich fortschrittlichen Nation immer einen zur Katastrophe tendierenden irrationalen Surplus mit sich herum, der dem Widerspruch zwischen fortgeschrittener ökonomischer Basis und reaktionären politischen Formation innerhalb der deutschen Gesellschaft geschuldet sei: Denn dieser Widerspruch ließe sich nur mit Hilfe irrationaler Konstrukte wie Rassenzugehörigkeit befristet und mühselig übertünchen, und müsse sich zwangsläufig apokalyptisch entladen.
Diese abgedroschenen Gassenhauer der Sonderwegsdebatte werden leider auch durch stetes Wiederkäuen nicht so provokant, wie sie gerne wären und häufig scheinen. Sieht man sich die vom geistigen Ziehvater Lukács durchaus beabsichtigt und folgerichtig gezogenen Konsequenzen aus dem Sonderwegsmodell an, so springt die innige Wahlverwandschaft zur reformistischen Geschichtsschreibung der 60er und 70er Jahre ins Auge:
"Deutschland wird neben den Vereinigten Staaten - das höchstentwickelte, kapitalistischste Gebiet der Welt. Gleichzeitig jedoch verfestigt sich seine demokratisch zurückgebliebene soziale und politische Struktur ... Damit reproduziert sich der Widerspruch der früheren Stadien auf einer zugleich höheren und qualitativ neuen Stufe. Abstrakt sind für die Aufhebung dieses Widerspruchs zwei Wege vorhanden ... (Bei der) Forderung, daß die soziale und politische Struktur sich seiner ökonomischen Entwicklung angleiche ... kann diese Forderung in revolutionärer Weise erhoben werden, es kann die Aufgabe gestellt werden, daß endlich die Vollendung der demokratischen Revolution in Deutschland zu vollziehen sei ... Es kann aber auch vom Standpunkt eines wirklich und innerlich zeitgemäßen deutschen Imperialismus, die Angleichung des politischen Überbaus (ohne Antasten der sozialen Struktur) an die bewährten und sich stets Deutschland gegenüber bewährenden Formen der westlichen parlamentarischen Demokratie erstrebt werden." (4)
Nach der Zauberformel der Sonderwegsthese, derzufolge die Basis, d.h. die sogenannte Ökonomie, nach Zivilisation sei es nach Sozialismus oder sei es nach westlichen Standards schriee, läßt sich auch Frieden schließen mit der Vaterländerei: Nur vom persönlichen Gusto hängt ab, für welche der beiden von Lukács genannten Optionen, sich der einzelne Sonderwegsanhänger entschließt.
Denn die mangelnde Entsprechung zwischen Ökonomie und Politik kann in ein und demselben theoretischen Rahmen genausogut statt durch die proletarische Revolution auch durch Westeinbindung und Grundgesetz herbeigeführt werden, wie Wehler, Fischer, Kocka etc. es demonstriert haben. Die allen Sonderwegsthesen gemeinsame Unterstellung, daß nämlich die Ökonomie das unstreitige Rationalitätsbollwerk der Gesellschaft vorstelle, dem der Überbau sich ebenbürtig zu erweisen habe, haben die sozialdemokratisch-leninistischen Progressisten von einst in ihr Up-to-Date-Dasein als Apostel der Zivilgesellschaft mitgenommen: Nur, daß sie heute mit ungebrochen unheiligem Ernst die Zurückbombung Serbiens (nicht mehr Hitlerdeutschlands) in die westliche Zivilgesellschaft als antifaschistische Großtat herbeigrölen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Nicht das moralische Im-Recht-Sein der Sonderwegsvertreter, das Beharren auf dem einmaligen Charakter deutschen Völkermordens, soll hier bestritten werden im Gegenteil. Vielmehr ist es der theoretische Teufelskreis, der im Begriff des Sonderweges lauert, dem die Kritik gilt.
Die zwingende Konsequenz der Sonderwegstheorie, den besseren vom schlechteren Kapitalismus zu unterscheiden, oder den rational-normalen dem irrational-pathologischen Imperialismus vorziehen zu müssen, macht es den Glattbüglern der deutschen Geschichte allzu leicht. Jene wie beispielsweise Karl Held in der ans Lächerliche grenzenden Debatte mit Gremliza 4a), ob es ein deutsches (Un)wesen gäbe oder nicht brauchen sich nur auf das Allgemeine zurückzuziehen mit dem Argument, daß der Imperialismus an sich ja etwas Schlechtes sei, und so eine jede Nation Dreck am Stecken habe, was in dieser Banalität sicherlich unstreitig ist. In der Praxis aber unterfüttert solche Banalität nur resentimentgeladene Stumpfsinnsparolen, wie die vom "antideutschen Rassismus".
Die Haltung eines Robert Kurz hingegen ist so nicht abzutun. Sie zielt genau auf die Achillesferse der Sonderwegsannahme, weil sie die mystifizierte ökonomische Basis ihrer blind geglaubten, dem Modell der Buchführung nachempfundenen, Rationalität, entkleidet. Kurz verweist mit Recht auf das gewaltige Potential von Irrationalität und Wahn, das der Übergang der gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse von persönlichen, konkret-stofflichen, in abstrakt-warenförmige, die nur noch unter enormem Aufwand an Realitätsverlust personifizierbar bleiben, erzeugt ein Potential, das nicht einer Nation als spezifisches Signum vorbehalten bleibt, sondern in allen Gesellschaften auftritt, in denen Warentausch zur dominanten Verkehrsform wird. (5)
Mit diesem Argument gelingt es Kurz, die Shoah der allgemeinen Geschichte der abstrakten Arbeit zuzuordnen. Gerade aber diese Einsicht, die Kurz Trampert/Ebermann zurecht und genüßlich aufs Butterbrot schmiert, diskreditiert sich dadurch, daß sie letzten Endes dem gleichen Geschichtsmodell vorgespannt ist, dem auch der naive Abbildmaterialismus entsprang; Kurz teilt die schlichte Gegenüberstellung von Politik und Ökonomie, hat aber einige Lektionen Sophismus voraus.
Denn auch hier bewegt sich Geschichte von A nach B, aber nach Hegelschem Vorbild. Der Weg zur Zivilisation geht durch sein Gegenteil, um letztendlich doch sein Ziel zu erreichen, anstatt der Selbstbewegung der Produktivkräfte unmittelbar nachzueilen. Richtig daran ist die Erkenntnis, daß Fortschritt nicht linear ansteigt, daß das "Volk" nicht alle Tage klüger wird (nach dem berühmten Ausspruch des sozialdemokratischen Volksdichters Dietzgen), daß die Aufhebung natürlicher Barbarei mit Barbarei zweiter Natur bezahlt wird. Grundfalsch ist aber die Erwartung des dialektischen Umschlags dergestalt, daß sich die Keime einer neuen Zivilisation durch und nur durch eine solche Apokalypse entwickelten. Das ist nur um den Preis möglich, daß der sozialdemokratische Produktivkraftfetischismus als "Kommunismus der Sachen" (6) fröhliche Urstände feiert.
Kurz´ Konstruktion bietet also mehr, da sie die widersinnigen Unterscheidungen von Weg und Sonderweg nicht treffen muß und so die allgemeine Pathologie der Vergesellschaftung unter dem Joch des Tauschwerts durchaus zu benennen weiß, aber eben auch viel weniger: Ungebrochener als diejenigen, die am Sonderweg festhalten, wähnt sie sich mit der Tendenz der Geschichte im Einklang, und zwar deshalb, weil ihr das Wirkliche Geschehenes und Künftiges auch als vernünftig, da notwendig gilt. So bewahrt sie jene verstockte Indifferenz gegenüber dem Äußersten, das in Deutschland wirklich wurde; eine Indifferenz, die nicht umsonst auf eine gerade in der deutschen Tradition tief verwurzelte Eigenschaft zurückverweist: den Seelenfrieden des weltgeisttrunkenen Stammtischstrategen.
Im politischen Alltagsbewußtsein der Protagonisten in den Diskussionen um das Für und Wider des Sonderwegs wird die in den aufeinanderprallenden Positionen sedimentierte Geschichtsmetaphysik selten (mit Tendenz gegen niemals) reflektiert. Konfus, mit Hintergedanken an konsensfähige Kompromißslogans für eine Bewegungspolitik, die etwas niedriger gehängt auch als Strömungspolitik daherkommen kann, versucht man sich an Synthetisierungen: "Der [US-amerikanische,U.K.] Staat muß seine Gegner ausfindig machen. Das hat noch etwas Rationales (!), auch wenn der Feind selbstredend entlang der üblichen Ausschließungsmechanismen kapitalistischer Wertvergesellschaftung (!) festgemacht wird. In Deutschland hingegen (!) ist der deutsche Opfermythos und seine Halluzinationen, die sich in der Parole von der "jüdischen Weltverschwörung" bisher am Radikalsten die Bahn brachen, als potentielle Grundlage der Feindbestimmung auszumachen." (7)
Während die Wertvergesellschaftung zur Bastion des "noch etwas Rationalen" geadelt wird, avanciert der Antisemitismus zu einer Halluzination, die als solche jeden Zusammenhangs mit dieser Vergesellschaftungsform entbehrt, und obendrein nahezu exklusives Privileg Deutschlands ist. Um mit Ulbrichts unvergeßlichen Worten zu sprechen: Was lernt uns das? Etwa gar, daß nach Deutschland die westliche Wertvergesellschaftung importiert werden müsse, um antisemitische Halluzinationen in etwas rationalere Bahnen zu lenken?
Die hier zum Ausdruck kommende Verwirrung ist wohl aber ursächlich den Defiziten der dieser aus dem Zusammenhang einer Buchrezension gerissenen Passage zugrundeliegenden Theoriebruchstücke geschuldet: Defizite, die vom Versuch herrühren, der neuzeitlichen Geschichte, samt ihrer Hervorbringsel Nation und Zentralstaat, irgend eine übergeordnete Rationalität angesichts des Falles Deutschland zu entlocken.
Was wäre nun aber, wenn dort keine solche Vernunft am Werke wäre? Was wäre, wenn die Nation an sich Produkt einer barbarisch-pathogenen Vergesellschaftung wäre? Was, wenn der Fall Deutschland keine Verirrung zu spät gekommener Entwicklung wäre, sondern prototypischer Vorschein (ohne eingebautes Happy-End)? Was, wenn die deutsche Fratze nur das aller kosmetischer Schichten entledigte Antlitz des als Anhängsel des Warentauschs entstandenen Subjekts wäre?
Die gewohnheitsmäßige Gegenüberstellung von Barbarei und Zivilisation ist vor diesen Fragen unhaltbar geworden, und aus dieser Klemme führt weder Sonderweg noch Weltgeist. Adorno brachte dieses Dilemma 1951 bereits auf den Punkt: "Der Faschismus ist als Rebellion gegen die Zivilisation nicht einfach eine Wiederholung des Archaischen, sondern dessen Wiedererzeugung in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst." (8) Antworten zu geben auf die Frage, warum und wie es zu solcher Wiedererzeugung des Archaischen kommt, und dann versuchen, zu ergründen, wieso ausgerechnet Deutschland bei der zivilisierten Archaisierung bis auf den heutigen Tag die sprichwörtliche Nasenlänge voraus hat, muß Vorrang genießen vor allem Politisieren und Räsonieren über Kontinuitäten besonders aggressiver deutscher Außenpolitik.
Wie schon im Begriff der Nation mitschwingt, ist sie schon in ihrer heroischen Phase, als kämpferische Umschreibung der politischen Selbsterhebung des produktiven dritten Standes zum Souverän des Staates, reproduzierte Archaik: Nation, sprich Geburtsgemeinschaft, erscheint von Anfang an zurückbezogen auf einen vorgeblichen menschlichen Naturzustand, eben jenen der Produktivität. Diesem nicht zu genügen, war ein im Gewand der Naturnotwendigkeit daherkommendes Ausschlußkriterium von Teilen der Bevölkerung aus dem Volke.
Es gehörte zu den Grundzügen der Aufklärung, als Anwalt einer der unterstellten Menschennatur gemäßen Einrichtung von Gesellschaft, gegen religiöses Blendwerk und feudale Anmaßung, aufzutreten. Die dabei zu Tage tretende Naturalisierung gesellschaftlicher Formbestimmungen stellt einen allgemeinen Grundzug gesellschaftlichen Bewußtseins der Neuzeit dar: Die Entstehung von Anthropologie und Sprachenforschung als eigenständiger Wissenschaften und ihr inniger Zusammenhang mit dem Aufkommen und der Popularität des Ariermythos, der Klassifizierung von Völkern und Rassen legt davon Zeugnis ab. (9)
Allerdings sind Rassenwahn und Antisemitismus mehr als nur grausige Begleiterscheinungen, mehr als nur generelle Geburtswehen des abendländischen Modernisierungsprozesses: Sie entpuppen sich als seine alleroriginärsten Hervorbringungen.
Denn wenn es richtig ist, daß das Besondere etwas vom Allgemeinen ausdrückt, daß Auschwitz und der moderne Antisemitismus ohne einander nicht mehr vorstellbar sind, läßt sich die Synthese von Volk und Staat in der Nation nicht länger als mehr oder weniger unproblematische Ingredienz "kapitalistischer Normalität" betrachten. Ohne Nation im Allgemeinen als Ausdruck einer an sich pathogenen Form der Vergesellschaftung zu begreifen, läßt sich der Nation in Gestalt des deutschen Mordkollektivs nicht beikommen: Deswegen greifen all diejenigen zu kurz, die die in Deutschland stattgefundene Barbarei auf einige zufällige Besonderheiten zurückführen wollen, sei es auf die Rolle des Staates in einer Revolution von oben, sei es auf den Bismarckschen Bonapartismus, sei es auf das spätabsolutistische Gepräge des Kaiserreichs etc. Zu all dem ließen sich unschwer Parallelen in Italien, Frankreich, Spanien und weiteren Staaten auffinden.
In den sich an dem Grad der Berechtigung solcher Parallelisierung entzündenden unseligen Streitereien, als deren degoutanter Höhepunkt regelmäßig das Feilschen um die Einmaligkeit der Shoa sich entpuppt, stellt normalerweise niemand eine entscheidende Frage:
Worin besteht der Vergleichsmaßstab, der in der Sprache der Kritik der Politischen Ökonomie das qualitativ Unvergleichliche in eine quantitative Relation zueinander setzten läßt? Müßte es dazu nicht ein Gemeinsames geben, welches das Feilschen, Verrechnen und Abwägen erst ermöglicht, und dennoch keinem der Beteiligten als solches bewußt zu sein scheint (und damit nicht zufällig an die "theologischen Mucken" (10) der Ware erinnert)? Diese gemeinsame Form ist so allgegenwärtig, daß sie dem vor lauter Bäumen unsichtbaren Wald gleicht: Die Nation.
Niemandem scheint mehr aufzufallen, was Horkheimer 1940 noch in trockenen Worten zu diagnostizieren wußte, daß nämlich "diejenige Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, ... von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich [trug]." (11) Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird klar, daß diese Ordnung durch die Realisierung eines zuvor bereits von ihren Ideologen gepredigten Begriffs vom "Volk" die Notwendigkeit eines Antivolkes in sich trägt: Endgültig abgelöst wird die über alle administrativen Herrschaftsgrenzen und Sprachgebiete hinweg sich ziehende alteuropäische Spaltung des Kontinents in hie Pöbel und da Nobilität. An ihre Stelle tritt eine neue Ordnung von Nationen, deren jeweils marktförmiges Strickmuster durch ihren berühmtesten Propagandisten, den Abbé Sieyes, am Vorabend der Revolution bereits offenherzig enthüllt wird: Die Nation ist identisch mit der Anzahl jener Menschen, die innerhalb der bürgerlichen Marktgesellschaft eine notwendige Funktion nachweisen können (und somit zum "Dritten Stand" gehören); getreu der Vorstellung von einem sich im Gleichgewicht befindenden Organismus. (11a) Die Ursache, warum der quasinatürliche Funktionszusammenhang, der die "vollständige Nation", das "echte Volk" ausmacht, dieses Gleichgewicht nicht findet, liegt in der Existenz des unechten Volkes begründet, das wie ein Schmarotzer unproduktiv und somit nutzlos am Leib der Nation klebt. In dieser Verkoppelung des Rechts auf physische Existenz mit der auf dem Markt nachzuweisenden Nützlichkeit trennt sich bereits in seiner Geburtsstunde das Volk aus der empirischen Bevölkerung heraus, wobei der "nutzlose" Überschuß an Bevölkerung als abzuschaffender Auslöser der im "Volkskörper" auftretenden Dysfunktionen erscheint.
Die heroische Nation als Souveränitätserklärung des Volkes gegenüber der Bevölkerung muß ihr pathisches Moment im selben Maße hervorkehren, wie offensichtlich wird, daß der stumme Zwang des Marktes, nach dessen Bild das Volk gemodelt sein soll, sich keineswegs durch die Guillotinierung der "Schmarotzer" befrieden läßt. (12)
Der Nation genannte Arbeitskörper, der aus der empirischen Bevölkerung herauspräpariert wird, bleibt der Unberechenbarkeit des Warentausches unterworfen. Die innere wie äußere funktional-naturhafte Ausgewogenheit dieses "Organismus", wie sie die buchhalterisch-rationale Organisiertheit des unmittelbaren Arbeitsprozesses suggeriert (und der nicht zuletzt die Arbeiterbewegung aufsaß), wird gleichzeitig stetig gefährdet und über den Haufen geworfen durch das dem Ganzen zugrundeliegende Zugehörigkeitskriterium der Nation: Nützlichkeit bzw. Produktivität: Erst post festum erfährt der Warentauschende Erfolg oder Mißerfolg auf dem Markt, und so seine Nützlichkeit oder Überflüssigkeit.
So wenig den über den Warentausch sich vermittelnden Einzelnen klar ist, woher die von ihnen produzierten Dinge diese Fähigkeit zur Vergesellschaftung erhalten, so wenig klar ist ihnen im nationalen Kollektiv, warum sie zu ihm gehören dürfen, und ob das morgen noch der Fall sein wird. Die gleiche den Beteiligten mysteriös bleibende Abstraktion, die Dinge zu Tauschwerten erhebt, erhebt auch Bevölkerungen zu Nationen: Wer also nicht über den Wert, die Synthesis der bürgerlichen Gesellschaft, reden möchte, sollte von der Nation, einer der Formen, in der diese Synthesis "gespenstige Gegenständlichkeit" (13) gewinnt, nicht allzu vollmundig sprechen.
Die Souveränität des Volkes als Nation löst die Souveränität des absoluten Fürsten nicht zuletzt deswegen ab, weil erstere der konsequente politische Abdruck des gesellschaftlichen Verhältnisses ist, in dem die Tauschenden wirklich zueinander stehen, letztere hingegen nur der Geburtshelfer jenes Verhältnisses war. Die Nation als Geflecht allgemeiner Nützlichkeit der einzelnen Tauschenden füreinander entspricht dem allein vermittels der allgemeinen Ware, dem Geld, gesetzten "Gemeinwesen", welches einerseits über aller privaten Bindung steht und dennoch alle Privatinteressen vermittelt, als unpersönlicher Souverän: "Die Individuen treten sich nur als Eigentümer von Tauschwerten gegenüber, als solche, die sich ein gegenständliches Dasein füreinander durch ihr Produkt, die Ware gegeben haben ... Sie existieren nur sachlich füreinander, was in der Geldbeziehung, wo ihr Gemeinwesen selbst als ein äußerliches und darum zufälliges Ding allen gegenüber erscheint, nur weiterentwickelt ist ... Da sie weder subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch andererseits als bewußt Gemeinschaftliche das Gemeinwesen unter sich subsumieren, muß es Ihnen als den unabhängigen Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußerliches, zufälliges, Sachliches ihnen gegenüber existieren." (14)
Diese Unabhängigkeit steht von Anfang an in einem besonderen Verhältnis zum politischen Souverän. Ohne fürstliche Protektion durch dessen Gewaltmonopol hätte sich das Geldverhältnis nicht ausbreiten können, die Rahmenbedingungen des Tauschverhältnisses nicht gegen seine Wirkungen aufrechterhalten werden können (nicht umsonst trugen die Geldmünzen die Insignien der Macht des Territorialherren). Andererseits aber entwickeln sich beide Souveränitäten nur bis zu einem gewissen Punkt parallel zueinander, denn Motivation und Legitimation des absoluten Fürsten zur Protektion der Ware-Geld-Beziehung entstammten dem diesem Verhältnis fremden privativen Interesse persönlicher Repräsentation, das der Vernunft des bürgerlichen Interesses an der Wertvermehrung hohnsprach und die Freiheit und Gleichheit des Tausches behinderte. Indem sich die bürgerliche Klasse, als Protagonistin des freien und gleichen Tauschs, zur Menschheit erklärte, schien der störend gewordenen staatlichen Rolle das letzte Stündlein zugunsten einer sich selbst überlassenen Gesellschaft geschlagen zu haben.
Doch die soziale Harmonie, die der Äquivalententausch versprochen hatte, blieb aus. Im Gegenteil, die gesellschaftlichen Konflikte nahmen zu. Der sich zum Staat erklärende dritte Stand mußte erschreckt feststellen, daß er, "der klassische Marktrepräsentant" (Enderwitz), doch nur ein partikulares Interesse in der Universalität des "wirklichen Gemeinwesens" vorstellte. Die Souveränität des Tauschwerts, die im Geld eine ihrer Selbstgenügsamkeit, Eigengesetzlichkeit und Autodynamik entsprechende Existenz gefunden hatte, verlangte nach einer ebenso universalen politischen Souveränität nicht nach dem ideellen Gesamtkapitalisten, d.h. der Quersumme der subjektiv-personalen Intentionen der gesellschaftlichen Klasse der Kapitalisten, sondern nach dem ideellen Gesamtkapital, d.h. dem Ausdruck der als objektiver Sachzwang auftretenden Eigengesetzlichkeit der Verwertung des Werts des eigentlichen, nichtpersonalen Subjekts der Gesellschaft.
Die Verbürgerlichung der Gesellschaft, verstanden als Universalisierung der Ware-Geld-Beziehung, zieht so die Wiederauferstehung einer eben erst zu Grabe getragenen Instanz nach sich: Des über den sich bekämpfenden Partikularinteressen stehenden Staates, versehen mit den Eigenschaften des Absoluten, nun aber nicht mehr als notwendiger Fremdkörper, sondern als Inkarnation der Wertvergesellschaftung. Als rechtsetzender Mediator der Konflikte zwischen den jeweiligen als Gruppeninteressen sich artikulierenden Partizipanten des generalisierten Tauschs, die sich zwangsläufig um den An- und Verkauf von Arbeitskraft zentrieren, und als Organisator der zur Warenproduktion auf hoher Stufenleiter benötigten gesellschaftlichen wie natürlichen Resourcen und Rahmenbedingungen, erscheint der Staat nunmehr als Sachwalter der Vernunft in der Geschichte: Einer Vernunft, die über der Partikularität der bürgerlichen Zweckrationalität zu stehen scheint, aber in Wirklichkeit nur die gleiche widersinnige Selbstbewegung des Werts, die den partikularen Rationalitäten zugrunde liegt, von ihren personalen Schranken befreit, und zum allgemeinen objektiven Widersinn aufbläht. Weil "unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden ... (die) eigene gesellschaftliche Bewegung (für sie) die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren," (15) besitzt kann das fetischistische Bewußtsein der Tauschsubjekte den Wert, dem kein Gramm Naturstoff innewohnt, bereits in seiner partikular-persönlichen Repräsentanz als Privatkapital, das ihnen wie eine Anhäufung von nützlichen Dingen vorkommt, nicht mehr dechiffrieren.
Erst recht erscheint der Staat als zum Allgemeinen gewordenes Partikulares in fetischistisch-naturaler Gestalt als Träger des Gegenprinzips zur widersprüchlich, partikular und somit irrational verfaßten Tauschgesellschaft. Als (zumindest potentieller) Garant und Exekutor der organisiert-rationalen Notwendigkeit und Nützlichkeit entspricht seine unpersönliche Sachlichkeit der Herrschaft der Sache viel eher, als es die bürgerliche Charaktermaske tat.
Die fetischistische Wahrnehmung dieses neuen Typus staatlicher Souveränität verhärtet sich im Laufe des 19.Jahrhunderts im selben Maße, in dem sie sich popularisiert: Die Gleichgestaltigkeit von staatlicher Organisation im bürokratischen Apparat und Arbeitsorganisation der Warenproduktion auf großer Stufenleiter, die Formangleichung industrieller Arbeitsteilung an die militärische und administrative Funktionshierarchie, bestärkt den Affekt gegen die zumeist als persönliche Willkür der Eigentümer wahrgenommene "Anarchie" und Krisenhaftigkeit, die sich in der Zirkulationssphäre gegen die warentauschende Gesellschaft geltend macht.
Die Krisenhaftigkeit, die der Zwiespältigkeit der Ware als sinnlichem Ding und übersinnlichem Wertding innewohnt, und die jede stofflich sinnvolle Arbeitsanstrengung zur Nichtigkeit verurteilen kann, wird nicht in der Produktion offenbar, sondern im Austausch: Als Störung, bzw. Entwertung "ehrlicher Arbeit" wird der Austausch empfunden dadurch, ... "daß die unabhängig voneinander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit allseitig von einander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftliches Maß reduziert werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt." (16)
Der Staat als Hort der geplanten Praxis wird, um beim Bild zu bleiben, vom Haus zur Festung ausgebaut: An ihn hält sich der pathische Gemütszustand, der von steter Furcht vor der Wirkung der Schwerkraft gepeinigt ist: Er ist es, an den im Namen des Konkreten der tatsächlich geleisteten Arbeit appelliert wird, um das Abstrakte die Gefahr der Offenbarwerdung der Wertlosigkeit des Arbeitsproduktes im Tausch zu eskamotieren. Er ist es, vor dem die unschuldig sich wähnende Kultur der Produktion die verderbte Zivilisation der Zirkulation anklagt.
Die schon in der Anlage mörderische Einrichtung der Nation als praktizierter Volkssouveränität findet ihre Bestimmung in dieser Beschwörung des Staates. Das bürgerliche Subjekt ist nur noch als strukturell rassistischer und antisemitischer Staatsbürger denkbar. Nur wenn die Selbstverwertung des Individuums gelingt, gehört es der Nation an; die stete Gefahr des Scheiterns dieses Vorhabens im Tauschvorgang hat auch die permanente panische Furcht vor der Exkommunikation aus der Nation zur Folge. Der einzig verbleibende Ausweg aus diesem Dilemma besteht in der Anerkennung wesenhaft natürlicher Zugehörigkeit zur Nation, und damit die apriorische Garantie erfolgreicher Selbstverwertung durch die den verheerenden Folgen des Tausches vermeintlich enthobene Instanz, den Staat. Solange aber das von Marx oben beschriebene "Naturgesetz" des Werts gilt, ist eine solche im Voraus gegebene Garantie, sprich Staatsangehörigkeit, als rationale schlechterdings unmöglich. Das stetig verdrängte Wissen um die Fragilität solcher Garantie, die durch jede Krise, ja jeden Arbeitslosen wachgerufen wird, drängt auf ein naturhaft-kollektives Kriterium für die Staatsbürgerschaft, um so der andauernden, individuellen Beweislast, die eigenene "Nützlichkeit" betreffend, enthoben zu sein.
Mit derselben panischen Konsequenz muß der Staatsbürger aber auch die Naturalisierung des zum "Volk" zugehörigen "Antivolks" betreiben: Der zur Produktivitätsnation unvermeidlich gehörige kurzschlüssige Haß gegen "Unproduktive", d.h. gegen Bettler, Behinderte, "Asoziale" genügt dabei oft nicht. Jene armen Opfer des das bürgerliche Subjekt kennzeichnenden Verdrängungsmechanismus (als Verkörperung der eigenen möglichen Überflüssigkeit) reichen nicht hin, um ihnen die ganze Diabolik, als die die unbegriffene Wertvergesellschaftung dem Subjekt erscheint, aufzubürden, d.h. aus ihnen die Antination sich zu phantasieren. Denn diese muß alle Qualitäten der Wertabstraktion in ihrer "Natur" auf sich vereinen, da sie auch alle paradox scheinenden Auswirkungen dieser Abstraktion zu verantworten haben muß; ihr muß Allgegenwart und Macht angedichtet werden können, Geheimbündelei und Geldgier, Wall Street und Bolschewismus. Das Ergebnis der negativen Dialektik der Nation, die Verkoppelung von Volk und Staat, wird fündig: Fündig in der Sphäre, die dem Produktionsstaat als entgegengesetzte erscheint, dort, wo man den Ursprung der fatalen Abstraktion vermutet, dort wo der Warentauschende sein Schicksal erfährt, beim sogenannten Finanzkapital also. In verhängnisvoller Anknüpfung an frühere Epochen europäischer Sozialgeschichte, an die dort entstandene Figur des Geldverleihers und Hofjuden, lokalisiert das Kollektiv der fetischistischen Verdränger ihr ersehntes Zerrbild im Juden an sich.
So wie der Antisemitismus als mit Notwendigkeit entstehender Kollektivwahn ein originäres Produkt der Wertvergesellschaftung ist, dessen archaisches Erscheinungsbild die Barbarei des Fortschritts selber erst zum Ausdruck bringt, so kurzsichtig ist es, anzunehmen, daß es nationale Vergesellschaftung geben kann, die ohne solche Naturalisierung auskommt; daß man "Volk" statt Bevölkerung ohne völkischen Nationalismus bekommen könne. Das "ius sanguinis" ist im "ius soli" als Konsequenz angelegt; es herrscht nur ein gradueller Unterschied zwischen beiden und kein qualitativer Gegensatz auch wenn er im zweiten Weltkrieg zur Frage auf Leben oder Tod werden konnte. Die repressive Vergleichung der Individuen zu Subjekten der Selbstverwertung, der "Blutrationalisten und Vertragsmystiker" vergleichbar macht, sorgt dafür, "daß die formale Gleichheit aller vor dem Recht stets in Gefahr steht und der Versuchung ausgesetzt ist, in ihre materiale Gleichheit vor Blut und Rasse umzuschlagen." (17)
Geeint im Haß auf die Abstraktion, die das in der Staatsbürgerschaft gegebene Garantieversprechen zur Makulatur zu machen droht, tendiert die organische Verbindung von Produktiv-Volk und Organisations-Staat immer dazu, das Unmögliche dennoch möglich zu machen: Die Staatsbürgerschaft kann sich darum jederzeit enthüllen als schicksalshaftes Blutsband der zwanghaften Verwertungsgemeinschaft, die sich danach sehnt, des als äußerlichen Zwang empfundenen Tauschs sich zu entledigen und das zum Störenfried fetischisierte Antisubjekt auszurotten. Dennoch wird auch der weltgeistlichste deutsche Quietist mit dem Hinweis auf die Allgemeinheit der Wertabstraktion, und somit auf die Allgemeinheit der Pathologie der Nation, sich nicht der Frage entziehen können, warum ausgerechnet ihm solche allgemeine Pathologie der Nation so überaus vertraut vorkommt so vertraut, als ob in Deutschland die Nation auf ihren Begriff gebracht worden wäre.
Daß das Gleiche noch lange nicht das Selbe ist, daß Auschwitz, die Dreyfuß-Affäre und Judenverbote in amerikanischen Golfklubs sich der gleichen Wurzel verdanken und dennoch nicht austauschbar sind, damit plagen sich die Wohlmeinenden wie die Philister gleichermaßen.
Da ringt beispielsweise G. Jakob darum, festzuschreiben, daß Auschwitz nicht hätte durch den dänischen Staat exekutiert werden können. Nun mag es leider auch bitter nötig sein, solche Tatsachen zu betonen daß er aber meint, daraus (kurz)-schlußfolgern zu müssen, daß eine Identität von Kritik "des" Antisemitismus und Kritik der Wertform zu einem scheinbar antikapitalistich motivierte(n) Verschwindenlassen von Auschwitz im Kapitalismusbegriff (18) führe, führt selber wiederum einzig und allein zurück in die allzu seichten Gewässer der Sonderwegsdebatte.
Verschwindenlassen nämlich kann Auschwitz in der Wertkategorie nur derjenige, der darauf hoffen darf, daß niemand bemerkt, wie er stillschweigend die Begriffe Wert und Kapital gleichsetzt mit Normalität, Rationalität und dem sibirischen Sommer der Nachkriegsordnung von Jalta! Solange die Antideutschen bereitwillig diese Kröte schlucken, werden sie den Roßtäuschern von MG bis L.U.P.U.S. immer aufs neue den Pappkameraden abgeben, durch dessen Abohrfeigung diese ihr (vermutlich vergebliches) Streben nach nationaler Integration kaschieren. Erst die Destruktion der Vorstellung einer biedermännischen, nationalstaatlichen "imperialistischen Normalität" kann den nationalen Konformismus dieser auf die Banalität des Bösen setzenden Positionen ans Tageslicht zerren: Keineswegs läßt die Wertkategorie als eine Art diskursiver Trick Auschwitz verschwinden, wie der Popstrukturalist Jacob in guter Absicht ausruft, sondern es bringen erst die rauchenden Krematorien die barbarische Potentialität der Wertvergesellschaftung sans phrase zum Vorschein.
Die Frage nach der deutschen Besonderheit muß also nicht die nach der speziellen Abartigkeit eines wie auch immer historisierten "Volkscharakters" sein, sondern danach, wie und warum die der Charaktermaske des Staatsbürgers stets inhärente Tendenz zur verbrecherischen Blutsbrüderschaft zwischen Volk und Staat speziell in Deutschland sich als "Volksgemeinschaft" quasi-modellhaft verwirklichte.
Was normaler-, sprich liberalerweise als faschismusträchtiges Defizit einer "verspäteten" deutschen Nationsbildung angesehen wird daß sie nämlich nicht, wie es dem demokratischen Mythos geziemt, von einem heroischen Bürgertum, sondern von einer absolutistischen Staatsbürokratie in Szene gesetzt wurde entpuppt sich dann als "Vorsprung": Als Vorsprung aber in der katastrophischen Transformation des bürgerlichen Tauschsubjekts kraft der fetischistischen Eigendynamik des Tausches selber zum ethnifizierten Staatsbürger. Setzte in England oder Frankreich, auf je verschiedene Art, die Vertragsbürgerschaft des Marktes die vorindustriell legitimierte politische Souveränität des Absolutismus vorübergehend außer Kraft, so fungierte in Preußen-Deutschland die "wohl-ordinierte" absolute Staatsbürokratie (wenn auch häufig widerwillig) als Leihmutter des sich-selbstverwertenden Subjekts. Dieses erfuhr sich mehr als Kreatur des Staates wovon auch der deutsche Idealismus Zeugnis ablegt denn als dessen durch Markterfolg legitimiertes produktives Widerspiel.
Die Nation Preußen-Deutschland überspringt die Phase der Nation des dritten Standes, wie sie die westlichen Gesellschaften kennzeichnet. Zwar gilt hier wie dort, daß die Gesellschaftlichkeit nur durch die Allgemeinheit der Wertform gegeben ist, d.h., daß "die Personen ... nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer" existieren. Aber die "Charaktermasken der Personen", die sie als "Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten", (19) unterscheiden sich voneinander: Sind in England oder Frankreich die Charaktermasken, die die Warenbesitzer einander zukehren, durch die speziellen Warengestalten geprägt, die der Wert im Verlauf seiner Verwertung annimmt, definiert sich der Bürger also vornehmlich als Kapitaleigner oder Ware Arbeitskraft, so entsteht das bürgerliche Subjekt in Deutschland von vorneherein als Charaktermaske der Allgemeinheit der Wertabstraktion, deren Ausdruck ja die moderne staatliche Souveränität ist. (20) In den westlichen Gesellschaften stieß und stößt in Ausläufern noch bis heute die mediatisierende Rolle einer dem gesellschaftlichen Interessenkonflikt übergeordneten staatlichen Souveränität auf Mißtrauen und Widerstand seitens der an ihrer Partikularität festhaltenden binnengesellschaftlichen Charaktermasken. Mit solchen Hindernissen mußte in Deutschland nie gerechnet werden, da die in der Subjektform angelegte Staatsunmittelbarkeit nicht erst durch die Krisenhaftigkeit des Warentauschs hindurch sich entfaltet, sondern diese Staatsunmittelbarkeit des Subjekts in Deutschland sein Geburtsmerkmal darstellt.
Der verhängnisvolle Fetischismus der Nation, die im Staat den Sachwalter der Wertabstraktion anruft, um die Subjekte vor den Folgen ebenderselben qua Staatsbürgerschaft zu schützen, entfaltet seinen Bann in Deutschland deswegen in sozusagen idealtypischer Form. Aufgrund der Tatsache, daß eben der Staat die industriekapitalistische Gesellschaft scheinbar eigenmächtig ins Leben rief, erklingt der staatsvölkische Appell an den Volksstaat, daß er dem Chaos des Marktes eine Grenze setzen solle, hier wie nirgends sonst als gesellschaftliches Unisono.
Nicht umsonst weist Postone darauf hin, daß die Antwort auf die Frage, wieso ausgerechnet in Preußen-Deutschland der Antisemitismus hegemonial wurde, in der "Doppelherrschaft" von Ware und Staatsbürokratie gesucht werden müsse (21), weil nämlich das (nie gebrochene) Ausmaß der konkreten, personalen Herrschaft frühkapitalistischer Prägung die abstrakte Herrschaft des Kapitals als besonders mysteriös und fremdartig erscheinen lasse: Der Zusammenhang zwischen beiden, daß nämlich sich auch in der konkreten Despotie der Polizei und der Armee, und später der der Fabrik nunmehr nur die Abstraktion ausdrückt, entgeht dem Bewußtsein der staatsunmittelbaren Subjekte, die ihr Heil bei der Despotie suchen, egal ob sie Funktionäre der Staatsbürokratie oder nur Staatsbürger sind.
Wie tief und konstitutiv dieser Fetisch ins kollektive Bewußtsein der Charaktermaske hineinragt, wie fest er es in den Bann wirft, läßt sich gerade bei denen am besten ablesen, die für gemeinhin als Antipoden dieser Staatsmaschine gelten: Bei der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die hierzulande ihre strahlendsten Erfolge feierte. Nicht ohne Grund ist sie eine recht deutsche Spezialität, denn ihre Ideologie bis auf wenige Ausnahmen am linken Rand spiegelt den preußisch-deutschen Staatsfetischismus wohl mit am deutlichsten. Die gängige (nicht nur lasalleanische) Rede vom "freien Volksstaat" oder "sozialdemokratischen Zukunftsstaat" enthält bereits das Strickmuster, nach dem die diversen "deutschen Revolutionen" bis zum heutigen Tage gestrickt werden. (22) In fast schon quälender Dichte hat Willy Huhns bahnbrechender Aufsatz über den "Nationalsozialismus in der Literatur der deutschen Sozialdemokratie" (23) die stetig sich wiederholenden Motive des ausgeprägten Staatsbürgerfetischismus, in denen Sozialdemokratie, Nationalliberalismus und Staatsbürokratie konvergieren, gesammelt: Der spektakuläre Ruf Lasalles nach dem "wahrhaft sozialen Volkskaisertum" ist mitnichten eine individuelle Entgleisung, sondern zwangsläufiges Resultat der preußisch-deutschen Staatsunmittelbarkeit: In einem Quidproquo wird als Gegenleistung für die erbrachte pseudomilitärische Disziplin der deutschen Arbeiter der kasernenbetreibende Organisationsstaat in die Pflicht genommen, die soziale Frage durchaus nach seinem eigenen Bilde zu lösen indem der Staat nämlich die unproduktive Beutelschneiderei der bürgerlichen Klasse zugunsten straffer Diktatur, in Form einer gesamtgesellschaftlichen Fabrik-Kaserne, abschaffe.
Die erstrebte gesellschaftliche Gesamtfabrik, der Volksstaat der Arbeit, stellt die Vollendung der Nation als Arbeitskörper dar, so wie sich die deutsche Arbeiterbewegung in einem anderen Sinne als dem ihrer zivilisatorischen Selbsteinschätzung zur wahrhaften Vollenderin der bürgerlichen Revolution berufen fühlte. Der Kultus der scheinbar konkreten, naturhaft schaffenden und fabrikmäßig organisierten Arbeit impliziert stets den Affekt gegen die gesellschaftliche "Anarchie" so charakterisierte auch der späte Engels den Hauptwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, in deren "Anarchie" ja nur der fetischisierte Wertcharakter eben jener Arbeit zum Vorschein kommt. Unschwer zu erkennen, wie strukturell nahe bereits der faschistische Topos vom Widerspruch zwischem schaffendem und raffendem Kapital gerückt ist, wie seelenverwandt der Jüngersche "Arbeiter" dem sozialdemokratischen Produktionsstaatswahn ist. Die an anderer Stelle überzeugend beschriebene Kontinuität eines fast schon ekelerregenden Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung enthüllt sich als letztlich konsequentes Staatsbürgertum.
Selbstverständlich war es nicht die deutsche Sozialdemokratie, die die Vernichtungslager errichtete. Ihre Geschichte aber enthüllt vieles von der spezifischen Staatsunmittelbarkeit des preußisch-deutschen Modells, die erst die Konstruktion des Führerstaates (als Exekutor der Volksgemeinschaft) ermöglichte, in dessen Zwieschlächtigkeit allein die "Endlösung" als Versuch einer radikalen Verwirklichung der Nation der Staatsbürger reifen konnte: "In der Figur des Führers, dem zur souveränen Person, zur lebendigen Maske ebensosehr irrationalisierten wie individualisierten, selbsttätigen Staatsapparat ist in unauflöslicher coincidentia oppositorum [Zusammenfallen der Gegensätze, U.K.] beides verkörpert: die soziale Funktion und die kapitale Bestimmung, die formale Repräsentanz der völkischen Gemeinschaftsbildung und die materiale Intendanz des kapitalen Verwertungsprozesses." (24) Im unauflöslichen Widerspruch des in der nationalen Pseudosynthese von Wert und Reproduktion der Ware Arbeitskraft verstrickten Volksgemeinschaftsstaates drängt die den Volksgenossen völlig unverständlich werdende fortbestehende Krisenhaftigkeit zur finalen Abrechnung mit der nach fetischistischem Muster personalisierten konfundierenden Abstraktion, die als jüdische Weltverschwörung erscheint: "Auschwitz ... war die wirkliche Deutsche Revolution die wirkliche Schein-Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsformation." (25)
Mitnichten wurden die Fundamente dieser "Deutschen Revolution" 1945 geschleift. Die Lager wurden befreit, aber die Lager(bewachungs)gemeinschaft verpuppte sich zur Wertegemeinschaft der Demokraten, der Volksgemeinschaft auf Abruf. Der sogenannte deutsche Sonderweg modernisierte sich zum "Modell Deutschland". Die Staatsunmittelbarkeit der deutschen Charaktermaske blieb, und damit auch jener zweifelhafte Vorsprung in der nationalen Vergesellschaftung; das, was in anderen Nationen auf den Weg kommt, ist in Deutschland stillschweigende Voraussetzung: Die naturalisiert-ethnifizierte Identität des Inländers blieb, wie seine Selbstdefinition als Angehöriger des mit seinem Staat verwobenen und dessen Zielen verpflichteten Produktivitätskörpers.
Zu erklären wäre mit dieser in steter Latenz sich haltenden Volksgemeinschaftsbarbarei das immer wieder, wie ein Reflex, unvermittelt und ad hoc das zivilgesellschaftliche Mäntelchen abwerfende, Auftreten des nationalen Mordkollektivs, sei es im "Deutschen Herbst", in den flächendeckenden Pogromen der Jahre 91 und 92, im "Antiziganismus" als Gemeinschaftsideologie. Die Struktur ist ungebrochen, ja effektiviert: Im nationalen Bündnis für Arbeit, der pathologischen Krisenreaktion unverbrüchlicher Sozialpartnerschaft, entpuppt sich von neuem als modernisierte Standortvariante die um den Staat gruppierten Arbeitsfront.
Zu untersuchen wäre am "Modell Deutschland" auch, ob der häufig bemühte Widerspruch der "neuen Subjektivität" zur nationalen Verwertungsgemeinschaft vielleicht ebenso oberflächlich ist, wie der der Sozialdemokratie zum Staat der Volksgemeinschaft; ob nicht auch dort im Appell an den Mediator Staat, daß jener sich ihrer Interessen im Sinne des bei ihm vermuteten Gemeinwohls annehme, das fetischistische Potential in bunteren Gewändern fortwest. Ein Fingerzeig in diese Richtung wäre meines Erachtens die notorische Identitätssuche dieser selbsternannten Subjekte im als naturhaft halluzinierten.
Nur mit einer Bestimmung des gesellschaftlichen Binnenpotentials an zivilisierter Archaik läßt sich die leidige Streiterei um die Zulässigkeit der zweifelsohne ziehbaren historischen Analogieschlüsse über deutsche Kontinuitäten zu einer sinnvollen Auseinandersetzung machen. Solange der Bann des Fetischs Nation nicht aufgeklärt wird, bleibt auch unverständlich, wieso es der Nation ein ums andere Mal gelingt, die soziale Frage zu kassieren, und die heilige Dreieinigkeit der Widerspruchsinterventionisten somit (un)freiwillig zum fellow-traveller des strukturell antisemitischen Rufs des Volkes nach der ordnenden Hand des Staates degeneriert.
Trotz aller Kritik am antiquierten Denkmodell eines deutschen Sonderweges bietet nur das Festhalten an der Besonderheit der Nation Deutschland die Chance, sich vor einer noch viel schlimmeren Verharmlosung zu schützen: Denn die in Deutschland sich am klarsten offenbarende mörderische Dialektik der Wertvergesellschaftung könnte immunisieren gegen die Versuchung, sich kontrafaktisch in Vorstellungen von "imperialistischer Normalität" oder eines vor der historischen Tür stehenden Happy-Ends zu verbeißen, die beide letzten Endes immer nur dem sozialen Pazifismus dienen können.
Uli Krug (Bahamas 18 / 1995)
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