Die antideutsche Position ist so antiquiert wie der politisch-theoretische Kontext, in dem sie entstanden ist. Was jedoch nicht bedeutet, daß sie genau so obsolet ist. Das linksradikale Milieu findet im Deutschland nach der in vielfacher Hinsicht mit Recht als Katastrophe zu bezeichnenden Wende keinen Platz mehr. Den verbliebenen Rest-Linken sind die sie kennzeichnenden Politikformen aus den Händen geglitten. Diese sind allerdings nicht auf irgendeinem „Müllhaufen der Geschichte“ gelandet, sondern in kompetentere Hände übergegangen. Mobilisierungen von nicht unbeträchtlichen Menschenmassen, wie sie seit den 70er Jahren in Form der Anti-AKW-, der Hausbesetzer- und Friedensbewegung von der aktivistischen Linken betrieben wurden, laufen heute scheinbar selbsttätig. Angefangen beim nationalen Massentaumel 89/90 bis zum heutigen, keine Parteigrenzen mehr kennenden Engagement gegen britische Ölplattformen und französische Atomtests: die deutsche Bevölkerung scheint weitgehend in der Lage, das zu tun, was ihr Linksradikale seit langem anempfohlen haben: Die eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen. Auch die früher vielbeschworene Internationale Solidarität kommt dabei nicht zu kurz. Zwar werden keine nationalen Befreiungsbewegungen mit sozialistischen Zielen unterstützt, dafür engagiert man sich aber für die moslemischen und kroatischen Banden im ehemaligen Jugoslawien. Auch dort ist nichts anderes als Selbstbestimmung und Eigenverantwortung auf dem Vormarsch (außer natürlich bei den Serben).
Wer heute noch der Meinung ist, die „gründliche Zivilisierung“ der BRD, die prominente Grüne den Bewegungen ihrer Vergangenheit zuguteschreiben, sei etwas völlig anderes als die von ihm/ihr ehemals intendierten „emanzipatorischen“ Vorsätze, gerät in Verlegenheit. Er/sie müßte sich eigentlich fragen, was mit den überlieferten linken Politikformen geschehen ist, daß sie nun problemlos für die Zwecke der Nation eingesetzt werden können, und welche Rolle diese Politikformen und die sie tragenden theoretischen Konzepte selbst bei diesem Wechsel spielten.
Solche und ähnliche Fragen werden inzwischen im restlinken Milieu durchaus gestellt. Zumindest besteht weitgehend Konsens darüber, daß die bisherigen Ansätze zu einer Massenpolitik gescheitert sind. Wenig Übereinstimmung besteht allerdings über die Gründe dieses Scheiterns. Weithin besteht die Ansicht, der derzeitige nationale Massenkonsens, der weitgehende Verzicht auf die Anmeldung von Partikularinteressen, die Nichtexistenz von „sozialen Kämpfen“, obwohl sich selbst die augenscheinlichsten Gründe dafür häufen, sei Ausdruck einer „ideologischen Täuschung“ bei Fortbestand angeblicher „objektiver Widersprüche“.
Beim den Begriffen Ideologie und Widerspruch zeigen sich m.E. die zentralen Verständnisfehler verbliebener Linksradikaler. Ideologie wird nicht als ein durch den gesellschaftlichen Warentausch hervorgebrachtes „notwendig falsches Bewußtsein“ (Marx) begriffen, sondern als eine bewußt in die Welt gesetzte Unwahrheit, an deren Ursprung subjektive Interessen auszumachen sind, ähnlich der Propaganda von Staaten oder Firmen. Die Ideologie, die bürgerliche Subjekte zum tätigen Engagement für bestehende Ordnungen motiviert, ist aber die Bewußtseinsform, die für jede warentauschende Gesellschaft fundamental ist. Verkürzt besteht ihr Inhalt in den folgenden Essentials: Die Natureigenschaft aller Dinge besteht darin, Werte darzustellen, ihre konkrete Nützlichkeit ist dem untergeordnet, ihre Bestimmung ist der Tausch; die Bestimmung der Menschen besteht insofern darin, im Warentausch erfolgreich oder erfolglos zu sein, auf jeden Fall ihre Existenz als eine ausschließlich durch Warentausch vermittelte zu definieren. Die Existenz von Warentausch und Produktion bedingt notwendig die Herrschaft eines staatlichen Souveräns. Diese Instanz ist der Garant der Wertförmigkeit aller Dinge und die Voraussetzung für jeden Warentausch. Ein die – von Marx als „Fetisch“ bezeichnete – Wertform fraglos akzeptierender Mensch muß ebenso den Staat als notwendige Garantie- und Vermittlungsinstanz seiner eigenen Wertförmigkeit anerkennen und wollen.
Weil die staatliche Organisierung von Warentausch in Form von Nationalstaaten geschieht, ist der des Staates bedürfende Warentauschende fraglos Nationalist. Was immer er auf dem Markt der Waren zu verkaufen haben mag – bei den meisten ist es bekanntlich nicht mehr als Arbeitskraft oder andere Fähigkeiten – sein staatlicher Souverän ist Garant seiner Existenz als Verkäufer und Käufer, was nichts über den Zustand oder gar eine Garantie seiner physischen Existenz aussagt.
Versöhnliche Antagonisten
Die Nachteile dieser polit-ökonomischen Veranstaltung namens Marktwirtschaft waren bekanntlich die Geburtshelfer einer Reihe von sozialen Bewegungen, deren prominenteste – vor allem was ihren Ruf bei Linken angeht – die Arbeiterbewegung war. Die offenkundigen materiellen Nachteile kapitalistischer Produktion und Verteilung wurden als systemimmanente aber antagonistische Widersprüche begriffen, als deren wiederum prominentester der zwischen „Lohnarbeit und Kapital“ galt.
Lohnarbeit und Kapital sind inzwischen als Tarifpartner gemeinschaftliche Stützen der kapitalistischen Wertverwertung. Die Unfähigkeit der traditionellen Linken, die offenkundigen Nachteile der Lohnarbeit zum Kipphebel für den Kapitalismus zu machen, lag vor allem in ihrem positiven Bezug auf Basiskategorien der Warenproduktion begründet. Dichotomien wie konkrete Arbeit versus abstrakte Arbeit (beide letztlich durch das Kapital gesetzt und organisiert), Gebrauchswert versus Tauschwert (beide notwendige Erscheinungsformen der gleichen Ware), Lohnarbeit versus Kapital (beide notwendig komplementäre Seiten des gleichen gesellschaftlichen Verhältnisses) bestimmten Theorie und Praxis der traditionellen Arbeiterbewegung. Der Horizont des durch den Warentausch selbst konstituierten Bewußtseins wurde nicht verlassen. Hinzu kam eine unkritische Festlegung auf scheinbar die aktuellen Verhältnisse überschreitende Kategorien wie „unmittelbares Interesse“ oder „Bedürfnis“. Durch das gedankliche Festkleben an der Empirie des Alltags mit all ihren Nachteilen wurde nicht realisiert, daß das unmittelbare Interesse der Arbeiter nach mehr Lohn und anderen Dingen vor allem ihrem Bewußtsein als Warentauschende entsprach und ihr Bedürfnis nach mehr Partizipation an der gesellschaftlichen Warenansammlung ausdrückte.
Erfahrung von Armut und Erniedrigung im Kapitalismus führt bürgerliche Subjekte nicht automatisch zur Revolution, sondern zum Anmelden von Ansprüchen an den von ihnen anerkannten staatlichen Souverän. Im besten Falle führt dies zu einer Bewegung, die staatliche Gerechtigkeit und Wohlstand für die Arbeitenden als Staatsbürger einfordert und damit auch ihre Loyalitätserklärung abgibt, im vielleicht noch besseren Fall führt(e) so etwas zur Errichtung von Arbeiterstaaten. Doch das ist ein anderes Thema.
Widersprüche in einer durch einen „Fetisch“ gestifteten und zusammengehaltenen Gesellschaft, also ihre von allen anerkannte aber nicht verstandene Wertkonstitution, führen nicht zur Infragestellung dieses „Fetischs“. Die Austragung dieser Widersprüche in Form von Konflikten bestätigt diese Fetischherrschaft durch den Appell an die das „Gemeinwohl“ – und damit ist der problemlos funktionierende Warentausch gemeint – garantierende staatliche Instanz.
Auf systemimmanente Widersprüche als Ansatz zu einer revolutionären Aufhebung des Systems zu setzen, war – und scheint es noch zu sein – der Kardinalfehler der Linken. Ein Fehler, der aber offenkundig ein unvermeidbarer war, da diese Linke durch die Art der Verarbeitung ihrer Niederlagen ihr Verhaftetsein an die Denkkategorien der Wertvergesellschaftung immer wieder bewies. Für die Niederlagen wurden entweder subjektiver Verrat (durch Sozialdemokraten oder Revisionisten) oder eigenes Versagen wegen mangelnder Verbindung mit den „Massen“ verantwortlich gemacht. Den Widerspruch gegen den Kapitalismus und seine arbeitende Gefolgschaft und nicht in ihm mit seinen Staatsbürgern anzumelden, wäre ihnen utopisch, abenteuerlich, sektiererisch usw. vorgekommen. Daß eine nichtkapitalistische Gesellschaft – und das heißt: eine ohne jegliche Lohnarbeit und Staat – nur durch die fundamentale Kritik von Kapital und Arbeit, von Staat und Staatsbürger herbeigeführt werden kann, ist auch heutigen radikalen Linken nicht unbedingt geläufig.
Zwangsweise geläufig ist ihnen allerdings, daß den früher vergötterten „Massen“ derzeit mit „Widersprüchen“ – zumindest argumentativ – nicht zu kommen ist. In einer Kritik an den antideutschen Linken schreibt die „autonome l.u.p.u.s. gruppe“: „Das Verdienst der antideutsch auftretenden Gruppen ist es, in kaum zu überbietender Penetranz das Resultat der nationalen Vergesellschaftung, nämlich die deutsche Bevölkerung als jeglicher linken Befreiungsidee im Weg stehend, gekennzeichnet zu haben.“ (Die Beute 3/95, S. 85) Die Wortwahl macht deutlich, daß dieses Lob ein abgerungenes ist und nur in relativer Form verstanden werden soll. Durch das Insistieren der Antideutschen auf dem Volksgemeinschaftscharakter des deutschen Staatsbürgerkollektivs werde dieses – von l.u.p.u.s. als Produkt von Ideologie im von mir oben kritisierten Sinne verstanden – „objektiviert“ (S. 86). Verwiesen wird wieder auf vielfältige Widersprüche in der Volksgeminschaft und festgestellt: „‚Volksgemeinschaft‘ ist insofern ein Kampfbegriff, der auf gesellschaftlicher Ebene schlechterdings unmögliches entwirft: eine perfekt formierte Gesellschaft.“ (S. 86) Volksgemeinschaft als „Kampfbegriff“ wird hier im doppelten Sinne verstanden; einmal als Propagandavokabel der Nationalsozialisten und als Denunziationsmittel der Antideutschen, das sie blind mache für die Entdeckung von – ja was wohl? – Widersprüchen im Volk.
In der Tat lag in der Aktualisierung des Nazi-Begriffs „Volksgemeinschaft“ gerade in Bezug auf die Deutschen ein durchaus gewichtiger theoretischer Zugewinn für die radikal-linke Debatte. Grundsätzlich tendiert jede durch einen Nationalstaat vergesellschaftete Warentauschökonomie zur Proklamierung einer durch Biologie, Landschaft und entsprechender „originärer“ Charaktereigenschaften begründeten unverwechselbaren, durch die Metaphysik der Geschichte selbst gestifteten, „Gemeinschaft“. In der Regel tritt dieser völkische Nationalismus erst dann auf, wenn seine politischen Vorläufer – die Ideen, die zur Definition des modernen bürgerlichen Nationalstaates führten –, wie Demokratie, Sozialismus oder andere voluntaristische Konzepte, ihren Glanz verloren haben, der Geschäftsbetrieb aber unbedingt weitergehen muß. Dann wird eine wasserdichte Erklärung fürs Mitmachen gesucht, der sich niemand durch das Feststellen eines Nachteils entziehen kann. Der plebejische Ursprung vieler völkischer Bewegungen belegt das schon beschriebene Verhältnis aller Gesellschaftsklassen zum staatlichen Souverän und der von diesem garantierten Ökonomie als ein grundsätzlich affirmatives.
In Deutschland stand jedoch – und das macht seine bis heute fortwirkende Besonderheit aus – die völkische Idee schon am Anfang der Konzeptuierung einer nationalstaatlichen Entwicklung. Die Vorstellung, ein deutscher Staat müsse Produkt von als naturhaft phantasierten Eigenschaften seiner Bürger wie Sprache, Tradition und Gemütsverfassung sein, und nicht Ausdruck eines politisch vermittelten Willens, unterschied deutsche Staatskonzepte bereits vom bürgerlichen Idealismus im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Herrschaft hatte sich nicht primär als zweckrational zu präsentieren, sondern als Ausdruck einer Harmonie von Mensch und vorgestellter Natur. Der in jeder kapitalistischen Gesellschaft angelegte Erklärungsbedarf – warum gerade diese Form von (national)staatlicher Herrschaft und nicht eine andere – war in Deutschland schon früh entschieden. Sprache und ein imaginiertes deutsches Wesen sollten die Grundlage sein.
Der demokratische Nationalismus, der sich in Deutschland heute auch für viele seiner Kritiker nicht von dem der konkurrierenden Staaten unterscheidet, hat sich von seinen völkischen Grundformen nicht nur niemals verabschiedet, sondern hat sie erfolgreich in seine aktuelle Konzeption eingebaut. Es ist nicht nur das inzwischen zu modernisierender Kritik herausfordernde ius sanguinis, das deutsche Blut- und Abstammungsrecht, das den heutigen deutschen Staat von seinen Konkurrenten unterscheidet. Es sind vor allem seine selbstgesetzten Spielregeln in Form einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und einer a priori behaupteten fundamentalen „demokratischen Werteordnung“, die hierzulande jeder formalen Gesetzgebung und -interpretation vorausgehen, deren Akzeptanz noch jedes partikulare Interesse auf das Wohl das staatlichen Ganzen verpflichtet.
Die Hoffnung linker Kritiker auf eine den systemimmanenten Widersprüchen innewohnende Dynamik, die in Richtung revolutionärer Aufhebung der bestehenden Verhältnisse dränge, erwies sich in der BRD als zweifach trügerisch. Einmal führt – wie schon gezeigt – die Austragung von Widersprüchen in einer warentauschenden Gesellschaft nicht zu deren Aufhebung, sondern zur verstärkten Anmeldung von Ansprüchen an eben die Gesellschaft, in der sich bürgerliche Subjekte ungerecht behandelt fühlen. Zum anderen fühlte sich im nachfaschistischen Deutschland so gut wie jede Protestbewegung „höheren Zielen“ als der profanen Durchsetzung ihres Anliegens verpflichtet. Schon der Protest gegen die Notstandsgesetze in den 60er Jahren beanspruchte für sich das gleiche wie der legislativ aufrüstende Staat: die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu Deutschlands Nutzen gezogen zu haben. Kurzfristig sah es so aus, als könnten sich aus der außerparlamentarischen Bewegung der 60er Jahre Ansätze zu einer radikalen Infragestellung der BRD entwickeln. Doch während der radikalere Teil der Linken sich auf die Suche nach „revolutionären Vaterländern“ erging, entdeckten die weniger Radikalen einheimische Werte. Die Kampagnen gegen die Berufsverbote in den 70ern wollten einvernehmlich mit den staatlichen Gesinnungsschnüfflern – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln – das in den Rang eines Offenbarungstextes erhobene Grundgesetz verteidigen. Die Anti-AKW-Bewegung machte sich in nicht unbedeutenden Anteilen Gedanken über die Volksgesundheit und die nationale Energieversorgung und verteidigte idealisierte demokratische und wirtschaftliche Gepflogenheiten gegen „volksfremde Schädlinge“ wie die „Atommafia“. Schließlich brachte die Friedensbewegung zu Beginn der 80er Jahre deutschen Protest in schlichter Eindeutigkeit auf den Punkt: Deutschland ist gefährdet durch das unverantwortliche Treiben externer Mächte. Mit der Halluzination eines den Deutschen angeblich zugedachten „atomaren Holocaust“ wurde die heute zur Blüte gelangte Methode eingeführt, mit der die realen Verbrechen aus der deutschen Geschichte „exterritorialisiert“ werden. Seitdem werden, in einem direkten Verhältnis zum Wachsen des deutschen Einflusses in der Welt, in Gegenden unter mißliebiger Herrschaft beständig Relikte der deutschen Vergangenheit entdeckt. Ein Russenhitler, serbischer Faschismus, Völkermord und ein Auschwitz der Seelen – um nur einige Beispiele zu nennen – sehen sich der gerechten Abstrafung durch deutsches Verantwortungsbewußtsein ausgesetzt. Komplementär dazu unterzieht sich die deutsche Intelligenz einem permanenten selbstorganisierten Gesinnungstest: Wer ist der demokratischte und verantwortungsbewußteste im Land, wer hat möglicherweise, ohne daß er/sie es selbst bemerkte, dem „Totalitarismus“ Vorschub geleistet, war möglicherweise „Kollaborateur“ der als nationale Schmach empfundenen Vor-89-Ordnung.
Wenn heute diese Entwicklung von Linken gelegentlich als subjektiver Verrat, begangen von Leuten, die es eigentlich besser wissen müßten, interpretiert wird, ist das nichts als Augenwischerei. Eine radikale Abrechnung mit den Werten bürgerlicher Staatlichkeit hatte nie stattgefunden – im Gegenteil. Oppositionelle Bewegungen stritten sich um deren wahre Interpretation mit der etablierten Macht. Der Skandal einer deutschen Staatlichkeit nach Auschwitz wurde nicht thematisiert. Insofern ist es nur konsequent, wenn der Streit um die ideelle Ausgestaltung der Staatsmacht einige der ehemals oppositionellen Führer in deren Sessel führte und das Fußvolk die übliche Gefolgschaftsrolle einnimmt.
Was die BRD von ihren westlichen Konkurrenten in den letzten Jahrzehnten nicht nur für außenstehende Beobachter gravierend unterschied, war auch die fast völlige Abwesenheit des traditionellen Klassenkampfes. Nirgendwo anders hat man derart in die staatliche Zwecksetzung integrierte Gewerkschaften gefunden wie hierzulande. Für das demokratische Gemeinwohl instrumentalisiert, erreichte der traditionelle Klassenkampf nicht einmal seine international übliche Ausprägung als Konkurrenz der Arbeiter mit dem Kapital um einen möglichst hohen Anteil am produzierten Mehrwert. Deutsche Arbeiter und ihre Gewerkschaften waren seit Gründung der BRD nicht nur jedem Gedanken an eine effektive Durchsetzung ihrer materiellen Interessen abhold, sie erwiesen sich gegenüber den durchaus systemkompatiblen Radikalisierungsvorschlägen agitierender Linker so immun wie nirgendwo anders.
Hatte der Nationalsozialismus seine Erfolge bei der Homogenisierung des deutschen Staatsbürgerkollektivs durch seine Kriegsniederlage vergeigt, gelang es der BRD auf den Fundamenten ihres Vorgängers ein Erfolgsmodell zu errichten. Kapitulation vor und Integration in den NS-Staat führten Arbeiter und Intellektuelle in Deutschland zur unmittelbaren Komplizenschaft mit den Eliten bei der Judenvernichtung. Durch diese wurde die Volksgemeinschaft von einem „ideologischen Konstrukt“ zur Realität. Daß dieser Realität bis heute nicht die Gefolgschaft aufgekündigt wurde, macht das historische und aktuelle Versagen der hiesigen Linken aus.
Dem Nachfolger des NS-Staates gelang es, problemlos an die substanzialistischen Werte seines Vorgängers anzuknüpfen. Der Nationalsozialismus vollzog einen Bruch mit bürgerlich-liberalen Staatsauffassungen, die den gesellschaftlichen Nutzen durch die Realisierung des Eigennutzes der Konkurrierenden gewährleistet sahen. Der NS übersetzte die in Deutschland besonders virulenten völkisch-romantischen Vorstellungen in Kriterien für den permanent praktizierten staatlichen Ausnahmezustand. Die BRD integrierte sowohl den Ausnahmezustand als Latenz wie auch das Staatsbürgerbewußtsein, daß Interessengegensätze nur als Differenzen über die erfolgreiche Ausgestaltung des nationalen Gesamtprojekts begreifen kann. Was der Nationalsozialismus mit dem wahnhaften Zugriff auf vorgeblich biologische und deshalb im bürgerlichen Verständnis als sogenannte Natur und damit als unhintergehbar definierte Kategorien wie „Volk“ und „Rasse“ leistete, die unauflösbare Bindung der Konkurrierenden an den staatlichen Souverän, schaffte die BRD durch die Aufladung von politischen Allgemeinplätzen wie Demokratie und Freiheit mit einem ominösen durch Werte vermittelten Wesen.
Indem die konkurrierenden Bürger ihre Parteien als staatliche Verfassungsorgane, als „Volksparteien“ nach dem – demokratisch gewendeten – Vorbild der NSDAP organisieren, betreiben sie die negative Aufhebung aller Interessengegensätze in einem geschlossenen Staatsbürgerkollektiv. In Deutschland relativieren die Gewerkschaften ihre Ansprüche nicht – wie auch anderswo im Kapitalismus üblich – an den Profitbedürfnissen des die Arbeiter als „variables Kapital“ (Marx) konstituierenden Kapitals, sondern an den Erfordernissen nationaler Gesamtplanung – bis zur aktuellen Selbstabschaffung.
Unter solchen Bedingungen ist auch die Ausgestaltung des Ausnahmezustandes Gegenstand der Debatte aller verantwortungsbewußten Staatsbürger. Hierzulande wird in den öffentlichen Medien diskutiert, wem die fürsorgliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz – zum Beispiel – gelten soll. Benötigte noch die als „totalitär“ geschmähte DDR einen riesigen Stasi-Apparat, um unzufriedenen Bürger zu kontrollieren, genügt in der BRD ein unmißverständlicher Fingerzeig von Staatsorganen und Medien, um eventuell Abweichende zur Räson zu bringen. Die Peinlichkeit, die eine „Kommunistische Plattform“ derzeit für die PDS darstellt, verdeutlicht wie das geht.
Angesichts solcher substanzialistischer Selbstverständlichkeit im deutschen Staatsbürgerbewußtsein scheint es solcher Relikte wie des ius sanguinis nicht mehr zu bedürfen. Wenn formale Normen als wesenshafte kollektiv verinnerlicht sind, warum dann noch Ein- und Ausschließungen vermittels biologistischen Plunders? Die staatsbürgerlichen Kritiker des Blutsrechts verweisen zu Recht auf die nüchternen Kategorien von ökonomischer Verwertbartkeit und politischer Zuverlässigkeit. In der Tat: Wenn alle ihre Bereitschaft zum Mitmachen unter Beweis stellen, warum sollen Bewerber dann noch nach ihrer „Abstammung“ beurteilt werden? Warum soll sich die deutsche Besonderheit noch heute gerade durch ihre international am schlechtsten beleumdete Repräsentationsform darstellen?
Diese Kritik übersieht allerdings, daß nur ein gradueller Unterschied zwischen der Definition des Staatsvolkes vermittels einer angeblichen Biologie und der durch substanzialistische Politikvorstellungen besteht. In beiden Fällen werden die gesellschaftlichen Individuen durch eine jenseits der sie kunstituierenden ökonomischen Konkurrenz angesiedelte Ontologie bestimmt. Der Gegensatz „Politik versus Biologie“ ist nur ein temporärer, nämlich solange das Primat der Politik unangefochten den größten Erfolg der Nation garantiert. Letztendlich gilt aber auch hier: „Blut ist dicker als Wasser“. Der bisher größte außenpolitische Coup der BRD – die Annexion der DDR – wurde mit dem Blutsargument auf den Weg gebracht. Die Zerstückelung Osteuropas wird von Deutschland mit der Durchsetzung des völkischen „Selbstbestimmungsrechts“ vorangetrieben.
Die modellhafte Installierung deutscher Verfassung und deutschen Staatsbürgerrechts in Osteuropa – beispielsweise in Kroatien, wodurch die „ethnischen Säuberungen“ im Jugoslawienkrieg eingeleitet wurden –, erweisen die deutsche Staatsauffassung, mit allem, was dazugehört, als einen Exportartikel von strategischer Bedeutung.
Gerade für Staaten mit zusammengebrochener Ökonomie wie derzeit in Osteuropa oder in der 3.Welt sind neben einem hochgerüsteten Gewaltapparat substanzialistische Polit-Ideologien äußerst nützlich. Wo kein materieller Vorteil irgendeiner Art langfristig in Sicht ist, leistet das Prinzip der durch Abstammung oder fraglose Loyalität gestifteten Gefolgschaft wichtige Dienste. In dieser Situation, die, aktuell aber nicht auf Dauer, noch geographisch begrenzt ist, hat die BRD gerade durch die in diesem Vortrag beschriebenen Besonderheiten einen „Standortvorteil“, der sie gegenüber ihren internationalen Konkurrenten begünstigt.
Der „deutsche Sonderweg“ bezeichnet also nicht ein veraltetes, historisch zu spät kommendes Entwicklungsmodell, er steht auch nicht für linksradikale Analysen, die den Sprung auf die Höhe der Zeit nicht geschafft haben (wg. internationaler Kapitalverflechtung, Krise des Nationalstaates und überhaupt des politischen Subjekts und so). Die deutsche Form von Herrschaft und Einverständnis mit dieser Herrschaft könnte zum Modell der Sicherung politischer Stabilität krisenhafter Wertökonomien werden. Angesichts einer drohenden Internationalisierung des „Modell Deutschland“ wird eine antideutsche Position zur Grundvoraussetzung jeder emanzipatorischen Aktivität.
Horst Pankow (Bahamas 18 / 1995)
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