Vor einigen Jahren lautete der Werbeslogan eines deutschen Reiseveranstalters: "Man sieht nur, was man weiß." Angeboten wurden damals Gruppenreisen unter der Führung kompetenter Personen. Der Reiz dieser Reisen sollte offenbar darin bestehen, an fremden Orten zu sammelnde Eindrücke durch Informationen über Geschichte, Alltagsleben und Kultur dieser Orte zu erweitern. So sollte den Reisenden das Gefühl eines praktizierten und, wenn auch nur für die Dauer eines Urlaubs, gelebten Bildungsbürgertums vermittelt werden. "Reisen statt gereist werden" versprach zu dieser Zeit ein anderer Slogan. Die kokette Schmeichelei dieser Werbung bestand in dem einverständigen Wissen von Reiseveranstalter und Reisenden, daß jeder, also auch der verachtete Massentourist, immer nur das an fremden und weniger fremden Orten sieht, was er weiß. Ungefähr um 1990 also nach dem erfolgreichen Abschluß der "deutschen Intifada" (1) muß diese Art der Reiseanimation verschwunden sein.
Um diese Zeit setzte sich auch bei Zeitgenossen, die sich sonst viel auf ein kritisches Bewußtsein zugute hielten, eine Art von Wissen und Weltvergewisserung durch, wie man sie vorher oft während Fahrten auf der Transitstrecke zwischen Westberlin und der BRD bei schlichteren Gemütern beobachten konnte. Diese Mitreisenden zeigten sich von seherischen Fähigkeiten begabt, die es ihnen erlaubten, am Zugfenster vorbeifliegende Gebäude, ungeachtet ihrer Größe und ihres baulichen Zustands, eindeutig als Objekte der DDR-Staatssicherheit oder als geheime militärische Vorrichtungen der Roten Armee zu identifizieren. Bei an Bahnübergängen Wartenden oder auf Feldern Arbeitenden konnte es sich oft nur um Agenten handeln, die mit der Observation speziell der Zugreisenden betraut waren. Je unbefangener beispielsweise Spaziergänger einen Feldweg entlangwanderten, desto verdächtiger erschienen sie der im Zug vorüberrauschenden Gegen-Aufklärung.
Zu glauben, solche Art von Scharfsinn sei eine Errungenschaft von gelernten BRD-Bürgern und Westberlinern, ist allerdings ein Irrtum. Im Sommer 1991 schilderten mir ehemalige DDR-Bürger auf anschauliche Weise die Verlaufsform der eigentümlichen Wechselwirkung von Wissen und Sehen. Zurückgekehrt von einer zehntägigen Busreise durch Italien, berichteten sie, in Neapel wäre der Einfluß der Mafia auf das Alltagsleben überall deutlich zu sehen, ja sogar zu "spüren", gewesen. Auf einer Autobahnraststätte noch vor der Stadt hatte ein mobiler Händler versucht, irgendwelchen Kleinkram an sie loszuwerden; "selbstverständlich" hätten sie nichts gekauft. Ihr Busfahrer, der gleichzeitig als Reiseleiter fungierte, hätte ihnen daraufhin erklärt, daß der Händler sich jeden Abend vor einem Mafia-Vorgesetzten über seinen Umsatz rechtfertigen müsse und an diesem Tag wohl Probleme bekommen würde. Von da an hätten sie Bescheid gewußt und "erst recht" nichts bei "Mafia-Händlern" gekauft.
Die deutschen Intellektuellen und Bildungsbürger sehen auch nach dem Ende der speziell für sie ausgerichteten Erbauungsreisen nach wie vor genau das, was sie wissen. Gegenüber der Zeit, als Reiseveranstalter sie gerade wegen ihres besonderen Wissensbedarfs als Zielgruppe ausmachten, sind heute jedoch bestimmte Veränderungen festzustellen. 1.: Die Lust am Wissen und Sehen richtet sich nicht mehr auf vom Mainstream entfernte Objekte, die sich gerade durch ihre praktizierte Abweichung vom landläufigen Weltverständnis auszeichnen. Dennoch schweift sie weiterhin gern in die geographische Ferne. 2.: Aus Sehen ist weitgehend Fernsehen geworden. Daraus folgt 3.: Intellektuelles Wissen ist eine entwickelte Form des Einverständnisses mit dem Lauf der Dinge, das auch von einfachen Seelen gepflegt wird, bei diesen aber der Gefahr der "Verführbarkeit" ausgesetzt ist, weswegen es intellektuelle Wegweiser geben muß.
In der freien Marktwirtschaft will auch eine Wegweiserposition nicht nur verdient, sondern durch ständig neue Beweise der eigenen Leistungsfähigkeit erkämpft sein. In den früheren staatssozialistischen Ländern genügte es, die Aufnahme in den entsprechenden Berufsverband der Wissenschaftler, Autoren, bildender Künstler etc. geschafft zu haben, um die Alimentierung durch Zurverfügungstellen einer jederzeit abrufbaren, konformen Meinung gesichert zu wissen. Letzteres kann in der Demokratie und Marktwirtschaft zu recht von jedem Bürger erwartet werden, ohne daß deshalb ein Alimentierungsanspruch entstehen würde. Den Beweis ihrer Leistungsfähigkeit haben heutige Intellektuelle z.B. dann erbracht, wenn sie von den Massenmedien als "Vor-" bzw. "Querdenker" gefeiert werden. Solche unterbreiten dann wegweisende Vorschläge wie Daniel Cohn-Bendit: "Als erstes wird dann von der Nato Pale bombardiert. [...] Die Bombardierung von Pale würde sicherlich schreckliche Folgen haben. Aber ich glaube nicht, daß die Verblendung in der serbischen Bevölkerung und in der serbischen Armee einer solchen Entschlossenheit standhalten würde." (2) Dem Vorschlag dieses Denkers wurde bekanntlich gefolgt, auch die "schrecklichen Folgen" blieben nicht aus, aber zum Glück für des Denkers Marktpositionierung erwies sich die Verblendung des serbischen Erzfeindes stärker als prognostiziert.
Ein öffentlicher Dauerauftrag für engagierte Intellektuelle entsteht durch die Nachfrage nach möglichst stimmungsvollen und erschreckenden Porträts von Feinden, für deren Bekämpfung Anstrengungen und Opfer lohnen. "Die Serben" stellen ein kollektives Feindgemälde dar, auf dessen Urheberschaft deutscher Gestaltungswille Anspruch erheben kann, zu dessen progressiver Vollendung aber, in Abhängigkeit zum wachsenden deutschen Einfluß in Europa, zunehmend auch ausländische Künstler eingeladen werden. Wer da nicht mitmachen mag, soll den Mund halten. Wer aber widerspricht, wird selbst zum Feind.
Peter Handke hat widersprochen. Die vorhersehbaren Folgen konnten nicht ausbleiben. Für André Glucksmann, den Statthalter deutschen Geistes in Frankreich, ist Handke schlichtweg ein "Terrorist". (3) Ein Prädikat, das in Deutschland verliehen, der Aufforderung gleichgekommen wäre, das Problem seines Trägers entweder auf Bad Kleinensche Art zu lösen oder diesen mehrfach lebenslänglich hinter Stammheimer Mauern verschwinden zu lassen. In Deutschland inszeniert man das Ende von "Terroristen" gern als Selbstmord, was in Stammheim und Bad Kleinen erfolgreich erprobt wurde. Dieser landestypischen Vorliebe folgend bezeichnet Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau Handkes Text "Gerechtigkeit für Serbien" als "Verteidigungsrede, die einem intellektuellen Selbstmord, einem moralischen Desaster und einer Vernichtung des poetischen Anspruchs gleicht". (4) Selbstmord, Desaster, Vernichtung. Als treibende Kraft dahinter entdeckt Peter Schneider jawohl: der geniale Autor, der seinen Roman "Vati" aus einer Fortsetzungsserie in der "Bunten" zusammenklebte einen "beachtlichen Killerinstinkt" (5). Wohlgemerkt bei Handke und nicht etwa beim oben zitierten Cohn-Bendit.
Handkes Verbrechen besteht in dem Beharren auf einem Zusammenhang zwischen Sehen und Wissen. Über seine Motivation, nach Serbien zu reisen schreibt er: "Beinahe alle Bilder und Berichte der letzten vier Jahre kamen ja von der einen Seite der Fronten oder Grenzen, und wenn sie zwischendurch auch einmal von der anderen kamen, erschienen Sie mir, mit der Zeit mehr und mehr, als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber, und jedenfalls nicht als Augenzeugenschaft. Es drängte mich hinter den Spiegel; es drängte mich zur Reise in das mit jedem Artikel, jedem Kommentar, jeder Analyse unbekanntere und erforschungs- oder auch bloß anblickswürdige Land Serbien." (S. 13) (6)
Dies stellt für derzeitige Seh- und Wissensverhältnisse einen Skandal, möglicherweise auch so etwas, was mit dem heutigen Modewort "Tabubruch" einmal gemeint war, dar. Über Serbien und die Serben weiß hierzulande jeder Bescheid: Während die kroatischen und muslimischen Bewohner des ehemaligen Jugoslawien in Dörfern und Städten leben, wohnen die Serben in "Hochburgen", ihre oder ihnen nahestehende Politiker sind "Serbenführer", die der anderen ganz gewöhnliche Präsidenten, Minister etc. Als eine besonders unheimliche, weil mit Serben im Bunde stehend Erscheinung ist die des "abtrünnigen Moslemführers" noch gut in Erinnerung. Politische und staatliche Institutionen der Serben zumindest der bosnischen sind grundsätzlich "selbsternannt", d.h. "wir" erkennen sie höchstens als Ziele friedensstiftender Bombardierungen an. Sind Serben nicht bereit, als gesetzlich definierte Bürger niederer Kategorie in den kroatischen und muslimischen Sezessionsstaaten zu leben und nehmen ihrerseits das den anderen großmütig zugestandene Recht auf Sezession in Anspruch, sind sie "Besatzer" der Gegend, in der sie mehrheitlich leben. Der aus serbischen Waffen kommende Tod ist "Völkermord", der aus den Geschützen der anderen ein Ergebnis legitimer Verteidigungsanstrengungen. Wenn in Sarajewo serbische Unterhändler von Moslems gekidnapt werden, wird das als "Verhaftung von Kriegsverbrechern" gewürdigt, schnappt sich im Gegenzug die serbische Seite einen oder mehrere Moslems, erfolgt selbstverständlich die Verurteilung dieser "willkürlichen Verschleppung". Ziehen Serben es schließlich vor, sich aus dem Staub zu machen, weil "wir" uns mit den bosnischen Muslimen darauf geeinigt haben, daß mindestens jeder vierte Serbe ein "Kriegsverbrecher" ist, der eigentlich verurteilt gehört, doch um des Friedens willen eventuell noch einmal eine Chance bekommen könnte, so geschieht dieser Rückzug aus Heimtücke oder auf "Anordnung" einer allerhöchsten Serbenführerinstanz, die damit den "Friedensprozess" schädigen will.
Die öffentliche Kommunikation über dieses gespensterhafte Serbien ist selbst so gespenstisch wie ihr Gegenstand. SPIEGEL: Herr Botschafter, welche Beweise für Massenmorde an Flüchtlingen aus Srebrenica haben Sie bei Ihrem jüngsten Besuch in Bosnien gefunden? Shattuck: Wir suchten sechs Plätze auf, die mir von Zeugen und Überlebenden bereits im Juli vorigen Jahres beschrieben worden waren, darunter eine Turnhalle und eine Schule sowie eine Grube in Karakaj. Dort wurden Menschen hingerichtet, nachdem sie eineinhalb Tage lang in der Schule und in der Turnhalle eingepfercht und vielfach auch geschlagen worden waren. SPIEGEL: Was stellten sie noch fest? (7). Der Interviewte hat Orte gesehen, von denen er zu wissen meint, daß dort etwas geschehen sein soll.
Peter Handke benutzte anfang der 70er Jahre in seinem Roman "Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter" dieses Aneinander-vorbei-Reden, dieses Kommunizieren ohne einen für die Kommunizierenden als sinnhaft erkennbaren Kommunikationsinhalt, als literarisches Mittel, um ein gesellschaftskritisches Anliegen zu transportieren. Wie der zitierte Ausschnitt aus dem Interview des Journalisten mit dem Spezialisten zeigt, ist das artifizielle Mittel literarischer Kritik inzwischen funktionslos geworden, weil es quasi in der gesellschaftlichen Kommunikation "aufgehoben" ist. Jede Übersteigerung und Verzerrung zum Zweck der Verdeutlichung existierenden Elends ist auf eine Distanz zwischen Faktischem und Gestaltetem angewiesen. Nur weil es (noch) nicht genau so ist, kann solcherart literarische Darstellung Kritik sein. In dem Interview ist jede herkömmliche Bedeutung der Wörter "Beweise", "finden", "feststellen" verschwunden. An die Stelle von Wortbedeutung ist ein diffuser Nebel im Redeschwall von korrekt Gesinnten getreten.
"Denn was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder, wie in den Fernsehnachrichten, ein Kürzel von einem Bild, oder wie in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel?" (S. 30) Besonders spektakulär sind Handkes Fragen eigentlich nicht. Noch vor gar nicht langer Zeit gehörten sie zur irgendwie identitätsstiftenden geistigen Ausrüstung eines jeden halbwegs "kritischen" Zeitgenossen. Vielleicht gehören sie auch heute noch dazu, aber jetzt wohl eher, wenn es um Wissen und Wissensvermittlung außerhalb des sowieso Gewußten geht.
Das sowieso Gewußte sind solche "Fakten" oder "Tatsachen", die Gustav Seibt von der FAZ ins Feld führt. "Die beste Medienkritik", hält er dem unzeitgemäßen Frager entgegen, "ist es auch hier, die Fernsehgeräte abzuschalten und die wesentlichen Fakten in ihrer Folge zu bedenken. Eine dieser Tatsachen ist, daß die Europäer, gedrängt von Deutschland, Kroatien und Slowenien nur ungern und zögernd anerkannt haben und sich zu diesem Schritt erst nach der Belagerung von Dubrovnik, der Zerstörung Vukovars und der Vetreibung der dort ansässigen Bevölkerung durch die Serben durchgerungen haben. Die serbischen Greueltaten in Bosnien sind so vielfältig belegt, daß auch die von Handke vorgetragene Kritik an Kameraeinstellungen und klischeehaften Erzählformen diese Grundtatbestände weder zu erschüttern noch auch nur zu relativieren vermag." (8) Vielleicht ist dies die zeitgemäße Fassung von George Orwells Vision vom unausschaltbaren "Televisor". In den Betrachter selbst implantiert und mit dessen kognitiven Fähigkeiten symbiotisch verbunden, produziert und reproduziert er ununterbrochen "wesentliche Fakten" und bewirkt so die Erkenntnis von "Grundtatbeständen"
Man weiß eben, was man weiß, und dieses Gewußte ist "vielfältig belegt", vor allem durch Film und Foto. Handkes Fragenstellerei macht auch vor den angeblich äußerste Authentizität verbürgenden Bilddokumenten nicht halt. "Aber war es nicht schon vor den Bildern von den Flüchtlingstrecks aus der Krajina diesem und jenem fernen Zuseher auffällig, wie die bis dahin fast verschwindenden serbischen Leidtragenden in der Regel grundanders in Bild, Ton und Schrift kamen als die Hekatomben der anderen? Ja, auf den Fotos usw. von den paar ausnahmsweise nachrichtenwürdigen ersteren erschienen mir diese in der Tat als ,verschwindend, so im alleraugenfälligsten Gegensatz zu ihren Kummer- und Trauergenossen aus den beiden übrigen Kriegsvölkern: Diese, so war es jedenfalls nicht selten zu sehen, ,posierten zwar nicht, doch waren sie, durch den Blick- oder Berichtsblickwinkel, deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend, wurden sie gezeigt in einer Leidenspose. Und im Lauf der Kriegsberichtsjahre, dabei wohl weiterhin wirklich leidend, und wohl mehr und mehr, nahmen sie für die Linsen und Hörknöpfe der internationalen Belichter und Berichter, von diesen inzwischen angeleitet, gelenkt, eingewinkt (,He, Partner!), sichtlich wie gefügig die fremdgewünschten Marterminen und -haltungen ein. Wer sagt mir, daß ich mich irre oder gar böswillig bin, wenn ich so zu der Aufnahme des lauthals weinenden Gesichts einer Frau, Close Up hinter den Gittern eines Gefangenenlagers, das gehorsame Befolgen der Anweisung des Photographen der internationalen Presseagentur außerhalb des Lagerzaunes förmlich mitsehe und selbst an der Art, wie die Frau sich an den Draht klammert, etwas von dem Bilderkaufmann ihr Vorgezeigtes. Mag sein, ja, ich irre mich, [...] doch weshalb habe ich solche gar sorgfältig kadrierten, ausgeklügelten und eben wie gestellten Aufnahmen noch keinmal jedenfalls nicht hier, im ,Westen von einem serbischen Kriegsopfer zu Gesicht bekommen? Weshalb wurden solche Serben kaum je in Großaufnahme gezeigt, und kaum je einzeln, sondern fast immer nur als Grüppchen, und fast immer nur im Mittel- oder fern im Hintergrund, eben verschwindend, und auch kaum je, anders als ihre kroatischen oder muselmanischen Mitleidenden, mit dem Blick voll und leidensvoll in die Kamera, vielmehr seit- oder bodenwärts, wie Schuldbewußte?" (S.40-42)
Gerade durch die Infragestellung angeblich "objektiven" Bildmaterials die, es muß wiederholt werden, eigentlich unter "kritischen" Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit darstellt und sogar Schülern in staatlichen Bildungsanstalten nahegelegt wird hat Handke die hiesigen Serbenfresser bis zum Verlust jeglicher Contenance gereizt. "Zu solch einer Niedertracht darf man sich nicht einmal vom edlen Haß auf die Medien treiben lassen!" schreit es im Kommandoton aus Schneiders SPIEGEL-Artikel. Am gleichen Tag als Gustav Seibts autotelevisorische Beschwörung der "Grundtatbestände" erscheint, sekundiert sein kleiner Bruder Thomas Schmid in der TAZ: "Es sind die Denkmuster einer gigantischen Verschwörungstheorie, die uns gerade linke Blätter wie konkret und junge Welt seit Jahren anbieten, wenn es um das Begreifen der größten Tragödie der europäischen Nachkriegszeit geht." (9) Der Fragesteller ist nun als linker Gesinnungstäter identifiziert so deutlich konnte das nur in einer ehemals selbst "linken" Zeitung ausgesprochen werden ; ob er als Gesinnungswahnsinniger (Verschwörungstheoretiker) womöglich mildernde Umstände bei seiner künftigen öffentlichen Beurteilung in Anspruch nehmen kann, ist derzeit noch ungewiß.
Gewiß ist allerdings: Weil die tatsächlichen Umstände und Verlaufsformen der Gemetzel in früheren Jugoslawien der Mehrheit hierzulande völlig gleichgültig sind, weil man sowieso auf Photographien, bewegten Bildern und im "wirklichen Leben" das und ausschließlich das sieht, was man sowieso schon als loyaler Bürger weiß, sind gewisse Veränderungen im durch Wissen bewirkten Sehen auf (nicht nur) zurückliegende Ereignisse unausweichlich. Wenn Bilder und andere journalistische Artefakte nicht mehr selbstverständlich auf ihren Entstehungsprozess und dessen Ursachen überprüft werden können, sollen oder dürfen, dann ist damit ein geistiges Klima geschaffen, in dem auch die Faktizität des von den Deutschen begangenen Massenmords an den europäischen Juden bald nicht nur von Nazis als ein durch interessierte, weil deutschfeindliche Mächte simuliertes Ereignis in Frage gestellt werden kann. Wenn der Unterschied zwischen historischem Geschehen dieses ist nur durch kritisches Fragen und Analysieren zu ermitteln und den "Grundtatbeständen" der Seibt & Co gleichgültig ist oder sich auf die Alternative von Außenseiter- und Mitläufertum beschränkt, ist jeder Wahrheitsanspruch politischer Opportunität gewichen. Wenn auf die interessierte Frage: "Was geschah wirklich in ...?" die Antwort: "Lies doch die Zeitung ." oder "Schalte doch den Fernseher ein, da wirst dus schon erfahren" folgt, weil die Antwortenden sicher sind, daß dort schon die richtigen, nämlich konformen Informationen vermittelt werden, deren Wahrheitsgehalt ihnen herzlich gleichgültig ist, wird den Auschwitzleugnern eine für sie erfreuliche Zukunftsperspektive eröffnet. Der Schmidsche Verschwörungstheorie-Vorwurf gehört schon seit langem zu ihrem Repertoire.
Apropos Verschwörungstheorie. Es fällt auf, daß bei der erregten Abwehr von Handkes Fragen eine geradezu klassische Projektion eigener Obsessionen auf den Abgewehrten im Spiel ist. Handke hängt dann (neben konkret und junger Welt) einer Verschwörungstheorie an, und nicht diejenigen, die seit Jahren missionarisch die abgrundtiefe Perfidität alles Serbischen predigen. Das erinnert stark an die immer wieder beschworene Schreckensphantasie vom "Großserbien", die nur allzu deutlich die ihr zugrundeliegende Wunschphantasie von einem Großdeutschland offenbart. Handke wird von Seibt in der FAZ zum volkstümelnden, die Armut verklärenden und den Krieg als sinnstiftendes Erlebnis verherrlichenden Autor erklärt. Am Ende ist Handke nicht nur der Nationalist, sondern er, nicht der FAZ-Autor, ist auch noch der Deutschnationale: "Serbien wird Deutschland, aber das alte, ,wirkliche, das kriegerische." Daß Kriegshetzer sich als Friedensengel erleben und Kriegsgegner als die Kriegsschuldigen oder deren Verbündete hingestellt werden, ist gewiß nichts Neues, aber eine solche Vertauschung einzelner Eigenschaften und Präferenzen hat auch für den abgebrühten Beobachter etwas Irritierendes. Will etwa die FAZ in Zukunft auf die Propagierung völkisch-nationalen Bewußtseins zur Überwindung von "Völkergefängnissen" wie des jugoslawischen oder russischen auf die Verklärung von Armut durch die Kritik von "Anspruchsdenken" und "Besitzstandwahrung" der Unterklassen, des Krieges als notwendiges Mittel zur Durchsetzung höherer Ziele wie der "Menschenrechte" verzichten?
Nicht die sich in Gewaltphantasien und Aufrufen zum realen Massenmord vermittels Bombardierungen und anderer "friedensschaffender" Maßnahmen Ergehenden sind "Volksverhetzer", sondern ihre Kritiker! Die freie Marktwirtschaft bietet hier unbekannten, aber risikofreudigen Menschen eine Chance für schnelle, auf anderem Weg vielleicht nie erreichte Publizität. Der schweizer Autor Jürg Laederach verläßt seinen bisherigen Verlag, nachdem er festgestellt hat, daß "schon einfaches Gegenlesen" von Handkes Text ergibt, "daß genau das darin steht, was darin steht." "Handkes Reisebericht aus Serbien erfülle den Tatbestand der Volksverhetzung zwar nur zu achtzig Prozent und nationalsozialistische Inhalte könnten nur durch böswillige Verknüpfungen hergestellt werden, aber zweifelsohne ,fällt der Text in die rechtsextreme Szene." (10) Es folgt der warnende Hinweis nicht nur an professionelle Verfassungsschützer : "Handke unterschätzen: gefährlich in allen Lebenslagen."
Wie man eigentlich mit Kritikern wie Handke, wenn sie dann auch noch die Dreistigkeit besitzen, öffentlich auftreten und diskutieren zu wollen, umgehen möchte, verdeutlicht wiederum in projizierender Umkehrung der eigenen Bedürfnisse ein Robin Detje in der Zeit: "Die ganze Veranstaltung macht den Eindruck, als wachten in den Seitengassen und vor dem Zuschauerraum zahllose Aufpasser darüber, daß jener Streit um Handkes Text nicht entsteht, den das Publikum in seliger Duldungsstarre gar nicht erst aufkommen zu lassen wild entschlossen ist." (11) Offenbar in der Befürchtung eines Erscheinens der hier herbeigewünschten Aufpasser und eines entsprechenden Publikums wurde eine Handke-Lesung in der Deutschenhochburg Berlin abgesagt.
"Die internationale Brigade der Journalisten, die ich in Sarajewo kennenlernte, hat mehr für die Ermittlung der Wahrheit im sogenannten Bürgerkrieg auf dem Balkan getan als alle Schriftsteller zusammengenommen." (Peter Schneider) Als Freund der Deutschen und damit fast schon "organischer" Feind der Serben gibt der Dokumentarfilmer Marcel Ophuls einen Einblick in die Zusammensetzung jenes von Schneider durchaus zutreffend als "Brigade" gekennzeichneten Konglomerats.
Ophuls Filme sind in Deutschland auf reges Interesse und Beifall gestoßen. In einem Streifen über die Kollaboration in Frankreich während der deutschen Besetzung (Stichwort: Demontage des "Résistance-Mythos") vermittelt er einem deutschen Publikum das dankbare Gefühl, als Täter in einer Welt von bereitwilligen Mittätern sich nicht fortwährend die alleinige Verantwortung aufbürden lassen zu müssen. In einem Portät des deutschen Gestapochefs von Lyon, Klaus Barbie, das über weite Strecken Barbies Lebensweg nach 1945 behandelt, arbeitet Ophuls das Interesse amerikanischer Geheimdienste an deutschen Fachleuten wie dem Porträtierten heraus. Auch hier stellt sich bei deutschen Zuschauern ein recht entlastendes Gefühl ein: Wenn doch auch die Siegermacht USA einiges am ehemaligen Gestapo-Chef zu schätzen wußte, dann sollte man uns nicht die alleinige Verantwortung aufbürden. Beliebt sind in Deutschland auch Ophuls Filme über das glückliche Jahr der Wiedervereinigung und die harte Arbeit der Frontberichterstatter in Sarajevo. Seine Loyalität gegenüber dem deutschen Anliegen begründet Ophuls in der TAZ auch genealogisch: "Während meine Großonkels nach Auschwitz verschleppt wurden, stritten sich mein Vater und Fritz Kortner in Hollywood mit Bert Brecht, weil die arischen Eltern meiner Mutter die alliierten Bomben in Braunschweig auf den Deckel bekamen. Kortner und Ophuls fanden das nicht richtig!" (12)
In der TAZ stellt Ophuls einige der Reporter aus der Sarajewo-Brigade vor. So berichtet er, daß sein "guter Freund" Rémy Ourdan "jahrelang für RTL im Verkehrsbeobachtungshubschrauber saß, bevor es im zu blöd wurde und er sich 1992 (als es am gefährlichsten war) freiwillig nach Sarajewo versetzen ließ". Auch die Reporterin Penny Marshall ist Ophuls "eine Freundin geworden". "Sie verdient sehr wenig Geld. Als ich sie traf und sie mir ihre Geschichte erzählte, saß sie in einer kleinen Londoner Küche. Während wir filmten, lag ihr kleines Baby neben der Spülmaschine." Und noch ein Freund: "Kurt Schork ist Bürochef von Reuter in Sarajevo, seit fast vier Jahren." "Wie würde er [Handke] erst lachen, wenn er wüßte, daß Kurt Schork bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr Beamter der New York Port Authority war." Und noch ein letzter: "Handke scheint es zu belustigen, daß Jean Hatzfeld von der Liberation vorher Sportreporter war."
Armut, beengte Wohnverhältnisse, blöde, frustrierende und wahrscheinlich schlechtbezahlte Jobs. Auf in den Krieg, der Frieden ist schon schrecklich genug! Sarajevo erscheint vor dem elenden sozialen Hintergrund der Ophulschen Freunde wie eine Art postmoderne Goldgräberstadt. Die Produktion von stimmungsvollen Kriegsschilderungen und ihr Verkauf an anspruchsvolle, weil bescheidwissende, Abnehmer stellen dort so etwas wie eine virtuelle Goldmine dar, aus der die Mittel für eine bessere Zukunft herausgeholt werden können, vorausgesetzt der Krieg geht weiter. (13) Das Leben postmoderner Goldgräber ist so abenteuerlich und risikoreich wie das ihrer Vorfahren im 19. Jahrhundert. Schneider: "Das Lebensrisiko der Journalisten ist um einige hundert Prozent höher als das der Uno- oder Nato-Soldaten und um einige tausend Prozent höher als das von Schriftstellern, die in Serbien reisen." Auch die dem europäischen Elend Entkommenen hatten auf den Goldfeldern des amerikanischen Westens den Tod durch Pfeile und Kugeln von Indianern, Mexikanern und Banditen zu gewärtigen. Auch diese Bilder kennen wir aus Film und Fernsehen, wie die aus Sarajewo.
Doch auch das Lebensrisiko der daheimgebliebenen "Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und, über die Jahre immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet" (Handke, S. 122/123) ist kein geringes. Es besteht in der Niederlage gegen agilere und wendigere Konkurrenten, mit der Folge des Vergessenwerdens und dem Erleiden solch unerträglicher Situationen, in denen sich Ophuls Freunde vor ihrer Ankunft in Sarajevo befanden. Da heißt es, Vorsorge treffen, rechtzeitig zukunftsträchtige Projekte vorbereiten. Peter Schneider beispielsweise hat nach der Erstürmung eines russischen Krankenhauses durch tschetschenische Separatisten, der Geiselnahme der Kranken und ihrer teilweisen Ermordung schnell gehandelt. Gemeinsam mit André Glucksmann, Daniel Cohn-Bendit und einer Reihe von arbeitslosen Ex-Dissidenten aus Osteuropa hat er einen Aufruf zur Unterstützung der Separatisten veröffentlicht. (14) Andere sind dieser Initiative gefolgt. (15) Der Kampf muß schließlich weitergehen.
Jovan Jovanovic (Bahamas 19 / 1996)
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