Von den späten siebziger Jahren bis zur Studentenbewegung von 1986 spielten soziale Bewegungen in Frankreich eine sehr geringe Rolle. Die Frauenbewegung hatte sich über die Linksregierung von 1981 im Staatsapparat aufgelöst, die Arbeiterbewegung sah sich Anfang der 80er Jahre zunächst durch ihre Parteien an der Macht repräsentiert. Mitterand führte einen linken Diskurs mit dem er die ersten Jahren viele Sympathien gewann. Dies hinderte seine Regierung nicht daran, in Neukaledonien einen traditionellen Kolonialkrieg gegen die dortige Unabhängigkeitsbewegung FLNKS zu führen. Die 68er integrierten sich spätestens in dieser Zeit in die vormals kritisierte Gesellschaft, akzeptierten deren Staat und avancierten zu Wirtschaftsliberalen. Für die französischen Sozialisten galt im Gegensatz zur KPF die Bundesrepublik als Vorbild für wirtschaftspolitischen Erfolg. Starke Währung und kooperative Gewerkschaften sollten die Leitlinie der sozialistischen Politik für die nächsten Jahre werden. Das wirtschaftliche Ideal der Kommunisten verlor angesichts dieser sozialdemokratischen und modernistisch scheinenden Perspektive an Attraktivität. 1981 bemühte sich Mitterands erster Premierminister Pierre Mauroy Frankreichs angeschlagene Wirtschaft durch die Ankurbelung der Kaufkraft wieder flott zu kriegen. Mit der Erhöhung der Mindestlöhne (SMIC), der Einführung der 39 Stunden-Woche und der Verlängerung des Jahresurlaubes auf fünf Wochen für alle Franzosen wollte man die Inlandsproduktion anheizen und die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Die Inlandsproduktion wuchs nur wenig, doch das Außenhandelsdefizit erheblich. 1983 fror die Linksregierung dann die Gehälter ein und hob schrittweise die staatlichen Preisfestsetzungen (vom Baguette bis zum Bezin) auf. Ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung, das sogenannte peuple de gauche (Volk der Linken) ging zunächst davon aus, daß ihre Parteien an der Macht sind und somit ihre Interessen selbstverständlich vertreten wären. Der kommunistische Eisenbahnminister Charles Fiterman war für die sonst sehr kämpferischen Eisenbahner sicher ein Grund, daß sie sich lange nicht gegen die bei der SNCF einsetzenden Rationalisierungen wehrten. Erst 1985 gab es wieder einzelne Streiks. Die Wahlen von 1986 hatten die Rechten wieder an die Macht gebracht. Die Regierung verschärfte schnell die Einwanderungsgesetze und die Repression, vor allem gegen Ausländer. Die Wahl des rechten Hardliners Chirac zum Präsidenten schließlich schien zu beweisen, daß die Bevölkerung sich nicht mehr an 1986 erinnern wollte, als sich die letzte große Studentenbewegung unter Premierminister Chirac formierte. Auch als Pariser Bürgermeister hatte Chirac sich als jemand profiliert, der die Armen aus der Innenstadt in die Vorstädte verdrängt hatte und die polizeiliche Präsenz und Repression in der Hauptstadt verschärfte. Doch die Unzufriedenheit mit der neuen politischen Herrschaft kam schnell und mit ihr die Streiks, Solidarität und jetzt sicher Enttäuschung und Erschöpfung.
Die seit 1968 bedeutendste Streikbewegung in Frankreich verteidigte erkämpfte soziale Rechte gegen den Imperativ der kapitalistischen Effizienz. Die Regierung kündigte Beitragserhöhungen bei der Sécurité Sociale (Kranken-, Renten- und Familienunterstützung) an. Die Regierung selbst hatte erhebliche Schulden bei der Sozialversicherung gemacht, die nicht zurückgezahlt werden sollten. Zusätzlich wurden im Rahmen einer allgemeinen Reform bei den Sécurité Sociale (öffentlicher Dienst) eine Eisenbahn- und Télécomreform und Privatisierungen angekündigt. Die soziale Absicherung der Sécurité Sociale bedeutet nicht nur eine konkrete Errungenschaft, sondern hat eine kollektive Bedeutung und symbolisiert noch eines der letzten lebendigen Produkte einer Geschichte sozialer Auseinandersetzungen. Das Konzept des öffentlichen Dienstes und damit der "Sécu" stammt von Léon Duguit (18591928), der darin die Grundlage und Rechtfertigung des Staates sah. Diese Idee hat nichts mit der bürgerlichen Zivilgesellschaft gemein, sondern mit einer Klassengesellschaft, die die Veränderung der Welt über den Klassenkampf erreicht. Die heutige Beliebtheit des öffentlichen Dienstes stimmt schon lange nicht mehr mit dessen Effektivität überein. Der Konflikt von 95 kümmerte sich gar nicht um das Funktionieren dieser Dienstleistungen, ihre "vernünftige Verwaltung" wird vorausgesetzt. Die Services publics repräsentieren eine symbolische Alternative zur Allmächtigkeit des Marktes, eine kleine Planwirtschaft inmitten des härter werdenden Kapitalismus. Die Streikbewegung vom Dezember 95 war auch deshalb populär geworden, weil die Sécu und die Services publics die letzten kollektiven Werte der Arbeiterbewegung in einer von Individualisierung geprägten Gesellschaft darstellen.
Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die den Streik im wesentlichen getragen haben, stehen als letzte für den Typus des "fordistischen Arbeiters". Sie verfügen über einen festen Arbeitsvertrag und haben Vorteile von sozialen Einrichtungen wie Kindergrippen, Urlaubsdörfern, verbilligten Einkaufsmöglichkeiten, niedrigeren Sozialversicherungsbeiträgen etc. Der öffentliche Dienst entzieht sich der ökonomischen Konkurrenz noch bis zu einem gewissen Grad und bekräftigt das Gefühl, es können Verbesserungen innerhalb des Systems erreicht werden. Der Juppé-Plan wurde auch zurückgewiesen, weil er mit dem öffentlichen Dienst das bestehende System der sozialen Reproduktion in Frage stellte.
Der Streik im Winter 95 war die erste Bewegung in Europa, die sich bewußt gegen die Maastricht-Bedingungen auflehnte. Frankreich maastrichtgerecht zu gestalten, bedeutet den öffentlichen Dienst komplett auf den Kopf zu stellen. Seit Mitte der 70er Jahre versuchte jede neue Regierung Privatisierungen und Erhöhung der Produktivität in diesem Bereich durchzusezten. Jedesmal mußte sie die Pläne wieder in die Schublade stecken, da sie sich immer einer sozialen Macht gegenübersah, gegen die sie nichts ausrichten konnte außer minimalen Veränderungen, die das Grundprinzip der Services nicht in Frage stellten. Dieses Mal blieb es aber kein innerfranzösisches Problem zwischen Staat und Arbeitern, sondern erhielt eine europäische Dimension. Arbeitsbedingungen dieser Art haben im Maastricht-Europa keinen Platz. Die Streikenden wandten sich weniger gegen die Idee von Europa, es fiel häufig der Begriff eines "sozialen Europa", sondern gegen ein "Europa der Märkte", das nur prekäre Arbeitsbedingungen schafft. Der Anti-Maastricht Aspekt des Konfliktes wurde quasi erst von oben hineingetragen, da Juppé seinen Plan damit rechtfertigte, er müsse die Staatsfinanzen für die gemeinsame Euro-Währung in Ordnung bringen. Die Staatsverschuldung soll von 5 % auf 3 % des Bruttosozialproduktes bis 1997 gesenkt werden. Die eigentlichen Ursachen des Defizits liegen in der Politik des franc fort begründet, dem künstlichen Stabilhalten der Währung gegenüber der D-Mark durch hohe Zinsen. Die Reaktion auf Juppés Sparpläne kam prompt: Wenn Europa bedeutet, daß wir ein schlechteres Leben haben sollen, dann sind wir dagegen. Dies reichte allerdings nicht bis zum Generalstreik. Die in der Privatwirtschaft Beschäftigten zogen nur ansatzweise mit, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu gefährden.
Der Streik 95 startete unter anderen Bedingungen als 1986. Die Studenten aus Nanterre solidarisierten sich mit dem erfolgreich streikenden Reinigungspersonal ihrer Universität, das sich für höheren Lohn stark gemacht hatte. Die Ankündigung der Regierung, die Sozialversicherung für Großteile der Bevölkerung kostspieliger zu machen, sorgte dann für die langsame Ausbreitung des Streiks. Die Regierung weigerte sich schlichtweg, ihre Schulden bei der mit 230 Milliarden verschuldeten Sécurité Sociale zu zahlen. Die Ankündigung des Sanierungsplans brachte das Faß dann zum überlaufen. Die Bewegung bestand aus einer großen Anzahl immer neuer Streiks. Die Haltung der Streikenden war überaus defensiv, da der Erhalt des Status quo bei der Sozialversicherung und im weitesten Sinn bei den Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst gefordert wurde. Die Forderungen lauten: Vollständige Rücknahme der geplanten Sozialversicherungsreform, die Erhaltung des Rentenstatus bei den Eisenbahnern und den Beschäftigten der Metro, Erhöhung des Mindestlohnes (SMIC). Force Ouvrière (FO) forderte die sechste Urlaubswoche und einige Lohnerhöhungen. Seit 28 Jahren wird die Sozialversicherung von der Gewerkschaft FO finanz- und verwaltungstechnisch getragen, die Arbeitslosenkasse liegt in der Hand der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT. Dies beruht auf einer 1945 formulierten Forderung nach "sozialer Demokratie", die auch in diesem Streik von einigen Gewerkschaften erhoben wurde. Mit "sozialer Demokratie" ist die Forderung verbunden, in den wichtigsten staatlichen Institutionen und Verwaltungseinheiten eine Mitverwaltung einzuführen.
Die Streikbewegung bündelte die gesellschaftliche Unzufriedenheit und überschritt schnell den von den Gewerkschaftszentralen vorgegebenen Rahmen. 1986 verlangten die Streikenden die Rücknahme eines Gesetzentwurfs, der die Studienbedingungen verschlechtert hätte. Hohe Studiengebühren und der Abbau von Stellen an den Universitäten waren im Gespräch. Der Streik von 95 dagegen fordert nicht nur die Rücknahme eines bestimmten Projektes, sondern war eine Mischung aus vielen Einzelstreiks und einer Haltung von "jetzt reichts" gegen die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen. In Frankreich war die Inflationsrate schon höher als in der BRD vor 89. Es gab keinen deutlichen ökonomischen Einschnitt wie in der Bundesrepublik seit 1989, sondern eine langsame aber stetige Aufweichung des Ende der 60er Jahre erkämpften Lebensstandards. Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen wurden immer erstritten, nie von oben geschenkt.
Ein Streik, der sich allgemein gegen den Abbau sozialer Leistungen richtet und für die Sicherung von Arbeitsplätzen eintritt, erhält schnell eine politische Dimension, was für Frankreich nichts Besonderes darstellt. Die politische Dimension besteht am meisten darin, daß das politische Personal ausgetauscht wird, in den seltensten Fällen in Radikalisierungen wie 1968.
Bei den Eisenbahnern waren die sechziger und siebziger Jahre die Hochzeit der sogenannten "wilden Gewerkschaften" und "wilden Streiks". Seit einem Jahrzehnt bestimmen die Coordinations die Streiks. Sie entstehen während eines Konfliktes und koordinieren die einzelnen Auseinandersetzungen. Die Idee stammt von 1968, bezieht sich auf die Rätedemokratie und begeisterte vor allem die Eisenbahner (1978 und 1986), die Krankenschwestern und die Postler. Meistens werden die Coordinations von Gewerkschaftern an der Basis gegründet, die unter der Fahne der Einheit der Arbeiterbewegung behaupten, sich politisch von keiner Partei an der Macht vereinnahmen lassen zu wollen. Dabei geht es um die Einheit der Aktion, bei der Unorganisierte und Gewerkschafter zusammen agieren sollen und nicht um die Institutionalisierung eines Apparates.
Die Zersplitterung in viele Gewerkschaften beinhaltet verschiedene gewerkschaftliche Konzeptionen. Die beiden Gewerkschaftszentralen CGT (Confédération Générale du Travail) und FO (Force Ouvrière) repräsentieren in ihrer politischen Haltung und teils auch personell die beiden größten linken Parteien, die KPF und die PS. Die CFDT, auch eine sozialdemokratische Gewerkschaft, orientiert sich an der deutschen Sozialdemokratie und ihrer Einheitsgewerkschaft, dem DGB. Die für betriebliche Mitbestimmung eintretenden Organisationen wie die CGC (Confédération Générale des Cadres) und die CFDT (Confédération Francaise Démocratique du Travail) (2) sind bei Verhandlungen die ersten, die eine Einigung unterzeichnen, während die CGT es oft auf militante Auseinandersetzungen außer in der Periode ihrer Regierungsbeteiligung ankommen läßt. In Frankreich wird eine Betriebsvereinbarung rechtskräftig, wenn sie von einer einzigen, auch einer Minderheitsgewerkschaft unterzeichnet worden ist. Auch wenn die französischen Gewerkschaften Mitglieder verlieren, blieb ihre Funktion als Repräsentation der Streikenden und Interessensvertretung erhalten. Es gibt keinen Betriebsrat in französischen Unternehmen, sondern gewerkschaftlich orientierte Obfrauen und -männer.
In diesem Winter waren die Gewerkschaften kaum mehr Transmissionsriemen der politischen Parteien, an denen sie sich orientieren. Der Einfluß den sie ausübten, erklärt sich eher aus der politischen Einflußlosigkeit der Parteien auf die Bewegung. Sie sind die einzigen linken Kräfte, die nach dem Abklingen des linken Aktivismus Ende der 70er Jahre noch existieren. Sie legitimieren und profilieren gewissermaßen traditionelle linke Positionen, wenn sie sich der Bewegung anschließen. Die Rolle der Gewerkschaften ist zwar für die Mobilisierung wichtig gewesen, doch verkörpern sie selbst keine große Macht mehr, nachdem lediglich 9 % gewerkschaftlich organisiert sind, was unter den Industrieländern dem niedrigsten Organisationsgrad entspricht. Die CGT verlor in den letzten 15 Jahren ein Drittel ihrer Mitglieder. Bei den beiden anderen großen Gewerkschaften sah es nicht besser aus. Die CFDT zog die Konsequenz daraus, sich verstärkt als Ansprechpartnerin für Staat und Kapital anzudienen. Die Generalsekretärin Nicole Notat solidarisierte sich schnell mit dem Juppé-Plan und träumt von einer Gewerkschaftsbewegung wie in Deutschland.
Das Industrieland mit dem niedrigsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu sein, war für Frankreich lange Zeit ein Argument für seine Standortstärke. Im öffentlichen Dienst gibt es mehr Gewerkschafter als in der Privatwirtschaft. Er ist ebenfalls die Bastion der politischen Linken. CGT und FO spielten aus unterschiedlichen Gründen neben der Gewerkschaft SUD (3), einer linken trotzkistischen Abspaltung der CFDT, die wichtigste Rolle im letzten Streik in Bezug auf die Mobilisierung und den organisatorischen Hintergrund. FO, die sonst eher gemäßigt auftritt, stellte sich an die Spitze der Bewegung, weil ihr die Verwaltung der Krankenkassen weggenommen werden soll. Die Gesamt-CGT unterließ aber einen allgemeinen Aufruf zum Streik. Sie überließ es ihren Mitgliedern vor Ort. Die CGT sieht in dem Streik keine politische Perspektive, die es der Kommunistischen Partei Frankreichs ermöglichen würde, sich an der Macht zu beteiligen, weswegen sie auch keine Linksregierung gefordert hatte. Zunächst ignorierten die Gewerkschaften 1995 eine hartnäckige Unzufriedenheit an der Basis. Die CGT und FO initiierten dann aber die Streiks bei der SNCF und der RATP (Metro).
Das Fehlen einer starken sozialdemokratischen Tradition trägt dazu bei, daß im Nachbarland bei sozialen Konfliken eine Vermittlung über die Aktion erzwungen wird. In einem Land mit einer kommunistisch geprägten Tradition spielen Konflikte immer eine größere Rolle als in Ländern mit einer die Arbeiterbewegung dominierenden Sozialdemokratie, wie in Deutschland oder Schweden. Die französischen Sozialisten gründeten 1905 die SFIO (Séction Française de lInternationale Ouvrière) und vereinten damit mehrere sozialistische Strömungen und Grüppchen. Die SFIO verstand sich als eine Partei des Klassenkampfes und der Revolution. Sie forderte die sofortige Verwirklichung von Reformen und war gerne bereit, sich in die repräsentative Demokratie Frankreichs einzufügen. Auf dem Kongreß von Tours 1920 spaltete sich die Sozialistische Partei. 3200 Delegierte wollten den Beitritt zur III. Internationale, 1000 blieben bei der SFIO. 1936 hatten die Sozialisten unter Léon Blum die stärkste Parlamentsfraktion aber die eigentliche Nutznießerin der Volksfront und des Antifaschismus blieb die KPF, während die SFIO im antifaschistischen Kampf kaum auftauchte. Die Sozialisten waren nach dem Zweiten Weltkrieg eher eine Partei von Berufspolitikern, die gerne mit den Parteien der Mitte koalierten, als eine militante Arbeiterpartei. 1971 kam es auf dem Kongreß von Epinay zum Führungswechsel. Der alte Name wurde aufgegeben und der bisher nicht als Mann der Linken bekannte Mitterand ihr Generalsekretär. Vor dem Krieg rivalisierten KPF und SFIO um die Führung in der Arbeiterbewegung. In der Nachkriegszeit gewann die KPF, obgleich sie sich genau wie die Sozialisten, als Partei des ganzen französischen Volkes verstand, die politische Hegemonie über die Arbeiter. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in zwei große Parteien, hatte sich in der Nachkriegszeit zugunsten der Kommunisten bereinigt.
In Frankreich gibt es keinen institutionalisierten grünen Tisch. Arbeitende und ihre Vertreter werden zu Entscheidungen nicht hinzugezogen. Eine Reform oder ein Projekt werden der Öffentlichkeit vom Staat oder von der Unternehmerseite vorgestellt. Die Lohnabhängigen beschäften sich demzufolge auch nicht direkt damit, ein "gemeinsames Boot" aus dem Dreck zu ziehen. Erst wenn sie für ihre Interessen aktiv werden und Entscheidungen staatlicher oder unternehmerischer Seite ablehnen, sind diese geneigt zu verhandeln. In welcher Form die Verhandlungen dann stattfinden, hängt von dem jeweiligen Konflikt ab. Ende Dezember 1995 fand ein Sozialgipfel statt, den die Streikenden gefordert hatten, um die "Reform" zu kippen. Juppé empfing einzeln Vertreter von acht verschiedenen Gewerkschaften und besprach mit ihnen alle anderen Forderungen des Streiks außer dem Sanierungsplan der Sozialversicherung. Die Ergebnisse waren für beide Seiten bescheiden, Juppé hatte nichts erreicht und die Bewegung war zu Ende. Manchmal wird auch gar nicht verhandelt. Der Druck eines Konfliktes brachte manche Firmenleitung zur Ankündigung von Lohnerhöhungen oder zur Rücknahme geplanter Maßnahmen. Während in Deutschland der Streik als Drohung mit am Verhandlungstisch sitzt, bedarf es in Frankreich des Streiks, um überhaupt an den Verhandlungstisch oder zu Ergebnissen zu kommen. Der Streik übernimmt im übertragenen Sinne die Rolle eines Schlichters. Gewerkschaften sind als Schaltstelle zur Kanalisierung von Stimmungen nur bedingt einsetzbar. Ihre Rolle gegenüber Unternehmern und Staat sehen sie traditionell nicht am grünen Tisch sondern in der Durchsetzung ihrer Forderungen.
Das erste Diskussionsangebot Juppés am 5.12.95 in der Nationalversammlung war eine erwartete Reaktion auf die immer stärker werdende Streikbewegung. Die Militanz der 4000 Bergleute bei Freyming Merlebach, die Teile der Produktionsstätten besetzten, Barrikaden bauten und sich mit der Polizei prügelten, gehört genauso zum Spiel von Vermittlung durch Konflikt, wie die vor Jahren getroffene Absprache zwischen den Gewerkschaften bei den Elektrizitäts- (EDF) und Gaswerken (Gaz de France), bei Streiks nie gleichzeitig die Energie zu kappen. So wenig es festgeschriebene Regeln der Vermittlung in Frankreich gibt, so wenig standardisiert ist auch der Ausgang eines Konfliktes. Das Kräfteverhältnis zwischen den Konfliktparten allein bestimmt den Ausgang und die neue, darauf folgende Situation. Dies gilt auch für die fast immer am Ende einer durch Konflikt erzwungenen Vermittlung auszuhandelnde Regelung der Streikfolgen. Dabei wird von Unternehmern und den Gewerkschaften ein Papier unterzeichnet, das festlegt, wie mit der ausgefallenen Arbeitszeit zu verfahren sei. Je nach Kräfteverhältnis verlangen Staat oder Kapital unbezahlte Überstunden. Der Staat als Arbeitgeber erstattet den Streikenden manchmal den Verdienstausfall. Darüber hinaus gibt es auch Formen der Selbsthilfe.
Der Angriff auf die Sozialversicherung wurde als ein Vertragsbruch des republikanischen Paktes zwischen Staat und Bürgern angesehen, nach dessen Ideal der Staat ökonomische Pflichten auferlegt und dafür soziale Rechte gewährleisten muß. Durch ihn glauben die Bürger einen Anspruch auf flächendeckende Versorgung (wie z.B. Krankenhäuser) und gleiche Behandlung ableiten zu können, der im Zweifelsfall durch die Wahrnehmung der politischen Rechte erstritten werden soll. Die Verteidigung der Services publics wird deshalb auch nicht nur von den dort Beschäftigten als Selbstverständlichkeit betrachtet.
Es hat Tradition in Frankreich, daß zunächst bestimmte soziale Gruppen 1986 waren es die Studenten, 1995 die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes stellvertretend für den Rest auf die Straße gehen. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes verfügen über weniger prekäre Arbeitsbedingungen als die in der Privatwirtschaft Beschäftigten. Die Beschimpfung der Streikenden als "Privilegierte" legt nahe, daß diejenigen, die solche Begriffe anwenden, prekäre Arbeitsbedingungen ohne soziale Absicherung für die erstrebenswerte Normalität halten. Jedenfalls konnten sich die Diffamierungsversuche nicht durchsetzen. Die Streikbewegung vom November/Dezember 95 wurde durch eine breite Solidaritätswelle Umfragen zufolge 62 % der Bevölkerung getragen.
Da Streikende von den Gewerkschaften keinen Verdienstausfall erhalten, tut Unterstützung jeder Art not. Selbsthilfe, Aneignung und Unterstützung gingen in diesem Konflikt Hand in Hand. Die Minenarbeiter des Nordens erhoben einen Wegzoll von 10 FF auf der Autobahn, der ihnen recht umstandslos gewährt wurde. Die Universitätsklinik von Kremlin Biceêtre gewährte kostenlose medizinische Versorgung, die Elektrizitätswerke von Brest gaben Strom zum niedrigeren Nachttarif ab, in Finistère gab es ihn für 100.000 Anwohner sogar gratis. Die CGT rief dazu auf, daß sich die Haushalte, deren Strom abgestellt worden war, weil sie keine Rechnung bezahlen konnten, bei den Streikposten melden sollen, um sie wieder mit Strom zu versorgen. Diese Aktionen trugen erheblich zur Beliebtheit des Streikes bei. In Marseille solidarisierten sich Handwerker und Geschäftsleute mit den Streikenden. Die Obdachlosen demonstrierten häufig mit den sogenannten "Privilegierten". Der Grund für die erweiterte Basis der Streikenden liegt zum Teil darin, daß die erhobenen Forderungen gegen die allgemeine Verschlechterung der Lage gerichtet waren. Die anrüchig anmutende Solidarität von Kleinunternehmern liegt auf einer anderen Ebene. Sie ist der Einsicht geschuldet, daß wenn alle arm sind, niemand mehr bei ihnen einkauft. In diversen Atomkraftwerken (Blayais u.a.) wurden Sabotageakte begangen. Kochsalz wurde in den Sekundär-Kreislauf gekippt, damit die Stromproduktion gedrosselt werden mußte. Derartige Aktionen stehen dafür, daß in jenen Tagen die Einsicht sehr verbreitet war, es könne nur einen kollektiven Ausweg aus der Krisensituation geben.
Wer sich gar nicht solidarisieren wollte, waren die "Kettenhunde der Bourgeoisie" (4), d.h., die meisten französischen Intellektuellen, die sich beflissen hinter Juppé stellten und in dem Streik nur etwas Überholtes und Archaisches entdecken wollten. Die Sklavensprache von der "sozialen Reform" und den vermeintlichen "Privilegien", die die Streikbewegung sich anschickte zu verteidigen, wurden für bare Münze genommen. André Glucksmann, der sich in den letzten Jahren vor allem durch brachialen Antikommunismus hervortat, bezeichnete den Streik triumphalistisch als den letzten seiner Art. Allein Pierre Bourdieu stimmte nicht in den konformistischen Kanon seiner Kollegen ein, sondern richtete sich aufmunternd nach der großen Demonstration vom 12.12. an streikende Bahnarbeiter und forderte "eine Internationale von kritischen Intellektuellen und sozialen Bewegungen". Allerdings singt er ein Loblied auf die deutschen Gewerkschaften, die er mit der französischen Arbeiterbewegung verknüpfen möchte. Sein Bezug auf den DGB hat weniger mit dessen Inhalten und Selbstverständnis zu tun, als mit dessen, von Bourdieu bewunderter, Organisationskapazität. Aber vorerst ist der Soziologe noch mit der Suche nach kritischen Intellektuellen beschäftigt.
Was in der BRD regelmäßig auf Mißverständnisse stößt, ist der Gegensatz zwischen der Form spontaner, militanter und im Verlauf eines Konfliktes immer unkontrollierter werdender Demonstrationen und ihrem beschränkten Inhalt. Militanz wird hierzulande immer als Radikalität mißverstanden, auch wenn es um die Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen, wie Arbeitserhalt oder Lohnerhöhungen geht. Die in Frankreich fast immer radikale Form der Auseinandersetzungen, korrespondiert nicht unbedingt mit einem radikalen Inhalt. So auch bei den Forderungen im Winter 1995: "Pas touche à la Sécu." "Unité et Grève générale pour le retrait du plan Juppé." "Pour un front syndical unitaire." "Dehors le gouvernement Juppé!" "Juppé, tes foutu, les pétasses sont dans la rue!" "Non à la privatisation. Contre patronat et gouvernement, tous unis nous vaincrons." etc. etc. (5) Eine Verwechslung von Gewalt mit unkontrolliertem Verhalten, die in Frankreich eher von offizieller Seite, d.h. Politikern, Journalisten, Gewerkschaftsbürokraten, zur Denunziation taktisch angewandt wird, wird in der BRD generell vorgenommen. In der Linken wird von der Militanz auf radikale Inhalte geschlossen, die deutsche Presse erinnerte den französischen Staat an sein Gewaltmonopol und forderte ihn auf, die Ordnung wieder herzustellen. Der Streik wird als gemeinschaftsgefährdend entlarvt und entsprechend denunziert. Die Maastricht-Tauglichkeit der französischen Republik stehe auf dem Spiel, schulmeisterte die deutsche Presse und pries in hohen Tönen ihr "Modell Deutschland" für ganz Europa an.
Diskurstheoretiker haben gewiß ihre reinste Freude an diesem Konflikt. Die Plünderung der Sozialversicherung durch den französischen Staat nennt sich "Reform", den Streikenden wird vorgeworfen ihre "Privilegien", nicht ihre Rechte, zu verteidigen. Solche Wortschöpfungen, die in Frankreich erkennbar in der ideologischen Auseinandersetzung eingesetzt werden, nimmt man hier für bare Münze. Die Einschränkung der Sozialversicherung wird von der "Zeit" "Aufbruch in die Zukunft" (8.12.95) genannt. Überhaupt findet die mieseste Berichterstattung nicht wie erwartet in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), sondern in den Wochenblättern "Die Zeit" und "Der Spiegel" statt. "Die Zeit" jubelt die deutsche Verstaatlichung der Arbeiterbewegung als non plus ultra hoch und kommentiert den französischen Streik als "eine konservative Verteidigung von Privilegien und Partikularinteressen." F. Gsteiger rät am 29.12.95 aufmunternd:
"Wenn solche Gipfeltreffen (der Sozialgipfel von Regierung und Gewerkschaftsvertretern) künftig auch in emotional weniger belasteten Zeiten stattfinden und zur Routine werden, wäre dies ein großer Fortschritt für die unterentwickelte französische Dialog- und Verhandlungskultur." "Zeit"-Schreiberlinge haben auch längst begriffen, daß dieser "Aufstand der Privilegierten" (8.12.) hoffnungslos sei, da "Reformen einfach unumgänglich sind".
Der Spiegel freute sich über den pragmatischen Inhalt des Streiks und über das Fehlen einer politischen Alternative im Gegensatz zu 1968: "Doch hinter der Empörung steht dieses Mal keine einigende politische Idee". (5/95, S. 136) Der französische Staatsglaube sei dafür verantwortlich, daß "rationale Streikverhandlungen" überaus schwierig seien. Der "Experte" Cohn-Bendit durfte den Franzosen in der gleichen Zeitschrift wiedereinmal schlechte Ratschläge über Mitverantwortung und sozialen Dialog erteilen. Er bedauert, daß es dort kein Bündnis für Arbeit gebe und beschuldigt den Streik, Frankreich in den Abgrund "zu surfen".
Die Berichterstattung der FAZ blieb im politischen Teil parteiisch und reaktionär, während das Feuilleton sich zu einigen postmodernen euphorischen Äußerungen hinreißen ließ. Witz und Gewaltlosigkeit wurden gewürdigt, auch wenn ein paar Seiten vorher die französischen Medien der "Meinungsmanipulation" beschuldigt wurden. Obgleich die französische Presse zunächst den Juppé-Plan würdigte, berichtete sie von der Solidarität der Franzosen in diesem Konflikt. Die "Frankfurter Rundschau" brachte die Position der bundesdeutschen Presse auf den Punkt: "Vom Ausgang des Streiks gegen die Reform hängt die Teilnahme an der Euro-Währung ab." (5.12.95) In der Tat forderte Brüssel schon vor einem Jahr, daß die französische Eisenbahn einen Strukturplan vorlegen müsse. Balladur stellte ihn zurück, um die Wahl zu gewinnen, was ihm dennoch nicht gelang. Jetzt steht der Strukturplan erneut auf der Tagesordnung. Auch die Privatisierung von France Télécom wird von Brüssel verlangt. Bereits beim Maastricht-Referendum stimmte die Hälfte der Franzosen dagegen. Die KPF führte damals eine Anti-Maastricht-Kampagne und rief auf, mit Nein zu stimmen. Der leicht nationalistische Unterton verlor sich im Zuge des Streiks im Winter 95, der nichts gegen Europa, aber viel gegen die Maastricht Bedingungen einzuwenden hatte. Insgesamt spielte sich die bundesdeutsche Presse aus dem ruhigen Bündnis-für-Arbeit-Deutschland als Lehrmeisterin auf, die den Streik als "korporatistischen Reflex" begriff, weil vom französischen Staat nicht nur das Unterlassen der Deregulation gefordert wurde, sondern auch der Erhalt des Status quo. Die Generalsekretärin der CFDT, die für eine eher korporatistische Lösung, mit Deutschland als Vorbild votierte, wurde dagegen zu ihrer "verantwortungsvollen" Haltung beglückwünscht. Nicole Notat erstrebt betriebliche Mitbestimmung und Mitverantwortung und hofft, die CFDT in so etwas ähnliches wie die IG Metall verwandeln zu können.
Völlig unverständlich blieb den deutschen Kommentatoren die praktische Solidarität der französischen Bevölkerung mit den Streikenden. Daher auch der Verdacht auf "Meinungsmanipulation" in der französischen Presse, die auch bei länger andauerndem Streik weitgehend auf der Solidarität der nicht streikenden Bevölkerung bestand. Die deutsche Presse wiederum konnte die Franzosen in der Regel nur bemitleiden: "(...) die Franzosen litten. (...) Bahnhöfe waren zugesperrt. In Paris rollte keine Metro. Die Linienbusse verstaubten allmählich in den Depots. Es wurde fast nirgendwo Post zugestellt, Gas- und Stromversorgung brachen zusammen. Krankenhäuser arbeiteten mit Notschicht. Viele Banken schlossen ihre Schalter." (Spiegel 50/95). In der FAZ wurden die Obdachlosen bedauert, die es durch den Streik noch schwerer hätten.
Die Bewertung des Streiks in der französischen Presse war von erheblicher Bedeutung für den gesamten Verlauf des Streiks. Wegen der Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung war die positive öffentliche Rezeption um so wichtiger. Die Streiks wandten sich direkt an die Öffentlichkeit. Der Öffentlichkeitsarbeit wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Streikenden bemühten sich in erster Linie um die Medien und dann erst um Gehör bei staatlichen Stellen. Über die Medien wurde auch die Kritik an der Unzulänglichkeit des staatlichen Vorgehens und an dessen Unrechtmäßigkeit breiter zementiert.
Die Solidarität hierzulande hielt sich stark in Grenzen. Der DGB bekundete schüchtern Solidarität, allerdings kritisierte er nur die "Art und Weise der Einschnitte ins soziale Netz", nicht die Einschnitte überhaupt ("Junge Welt" vom 6.12.95). Das Opel-Werk Eisenach rief die französischen Kollegen in einer IGM-Resolution zum Durchhalten und zur Gewaltlosigkeit auf. Die Firmenleitung der Opel AG weigerte sich die als Folge des Streiks im Nachbarland ausgefallenen Arbeitsstunden, zu zahlen. Das Mißfallen richtete sich allerdings gegen die französischen Kollegen, nicht gegen das eigene Management. Viele der Opelarbeiter hatten aufgrund der drohenden Blockierung der LKW-Transporte Angst vor Kurzarbeit. Von den 1900 Beschäftigten sind ca. 50 % in der IGM organisiert, davon waren auf der Mitgliederversammlung, die die oben genannte Resolution verabschiedete nur 34 anwesend. ("Junge Welt" vom 6.12.95)
Der Streik in Frankreich vom November/Dezember 95 bewegte sich zwischen (militanter) Aktion und Forderungen an den Staat im Fahrwasser republikanischer Traditionen. Es ist in Frankreich weit verbreitet, die französische Republik in der Tradition der Französischen Revolution als politische Repräsentantin von Gleichheit und Gerechtigkeit anzusehen. Dieses Verständnis ist politisch aufgeladen im Gegensatz zur patriarchalisch geprägten Konzeption des deutschen Wohlfahrtstaates. Die Tatsache, daß im spätkapitalistischen Frankreich derartige Auseinandersetzungen um soziale Fragen stattfinden und in der BRD der Klassenkampf längst überwunden scheint, hängt mit der Ideologie der Revolution und dem damit verbundenen französischen Selbstverständnis als Citoyen und Bourgeois zusammen. Der jüngste Streik ist auch Ausdruck eines Verständnisses von Volkssouveränität, das über die Teilnahme an Wahlen hinausgeht und als Garant von Gleichheit und Gerechtigkeit angesehen wird. Entscheidende Grundlage dieser Volkssouveränität bleibt, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung trotz aller Unvollkommenheit als gegeben hingenommen wird. Daß die Forderung nach Gleichheit bzw. Gleichbehandlung im Spätkapitalismus einen utopischen Zug besitzt, obwohl sie bereits vor 200 Jahren revolutionär gestellt wurde, ändert daran nichts.
Die Philosophie der Französischen Revolution lehrt, daß die Individuen Rechte besitzen, die ihnen niemand, auch nicht die Gesellschaft, entziehen kann. Rousseaus contrat social verliert seine Gültigkeit, wenn Ungleichheiten entstehen, denn dies verstößt gegen die Grundsätze des Naturrechts. Robespierres ceterum censeo im Nationalkonvent besagte, daß diejenigen, die mit ihren eigenen Interessen zu sehr beschäftigt sind, es nicht verdienen, das Volk zu vertreten, sie müssen im Interesse der Nation abgesetzt werden. Robespierre deklarierte den Dritten Stand zum Gemeinwillen, der Abbé Sieyès identifizierte ihn mit der Nation, Marat setzte Volk und Proletariat, also den Vierten Stand, in eins. In dieser Tradition wurde der Klassenkampf als Beziehung zwischen Büger und Staat zu einem konstruktiven Bestandteil der französischen Nation. Die bürgerliche Gesellschaft als sozialer Zusammenhang von Individuen durch das Kapital schuf den Bürger und definierte ihn durch dessen produktive Arbeit für sich selbst und den Staat. Dem produktiven Bürger wiederum ist der Staat verpflichtet. Die positive Beziehung zur produktiven Arbeit, die die gesamte Arbeiterbewegung kennzeichnete, bleibt die Grundlage des in Frankreich noch lebendigen Klassenbewußtseins.
Während des Streiks realisierte sich die Vermittlung des ökonomischen Bourgeois mit dem politischen Citoyen. Die Arbeitenden besinnen sich auf ihre politischen Rechte und klagen damit soziale Gerechtigkeit ein. Der Staat wiederum erhöht seine Anforderungen an das produktive Individuum in der Krise. In diesem Fall verlangt er die Akzeptanz einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen. Er droht, daß die Bevölkerung wenn sie diesen Anforderungen nicht gewachsen ist, ihre Anpsrüche an den Staat verliere.
Dem defensiven Charakter des Streiks und seiner Verhaftung im französischen Klassenbewußtsein fielen auch die Versuche, ihn weiter auszudehnen, zum Opfer. Die Trotzkisten (LCR, LO, PCI) versuchten die Streiks auf einen Generalstreik hin auszuweiten, was ihnen trotz ihres nicht unerheblichen Einflusses nicht gelang. Autonome und andere Unzufriedene übten sich im Straßenkampf, der von den gewerkschaftlichen Ordnungsdiensten erfolgreich von den großen Demonstrationen abgekoppelt wurde. Unterschiedliche Millieus von Streikenden, öffentliche Treffen in den Wohnvierteln und am Arbeitsplatz erlaubten punktuelle und teilweise unkontrollierte Aktionen. Doch die Bewegung war zu fixiert auf die Weiterführung und Ausdehnung des Streiks auf die Privatbetriebe, als daß sie in der Lage gewesen wäre, daraus weitere Kraft zu schöpfen.
Anfang Januar fanden noch einige lokale Streiks für die Zahlung des Lohnausfalls bei der SNCF und den PTT (Post und Télécom) statt. In Sotteville kam es nach einer strikten Ablehnung von Verwaltungsseite, die verlorenen Arbeitstage zu begleichen, zu einem Streik und einer zweitägigen Betriebsbesetzung. Kleine Zugeständnisse, wie bei der Rentenversicherung der Eisenbahner, wurden erreicht. Die Forderung nach Lohnerhöhung, die sechste Urlaubswoche und die Streichung der Sanierung der Sozialversicherung wurden nicht erstritten.
Die Streikbewegung vom Winter 95 verteidigte den Status quo, die Tendenz des Streiks lief auf die Erhaltung der bestehenden Ordnung hinaus. Es war die Regierung, nicht die Bewegung, die eine Veränderung der sozialen Reproduktion gefordert hatte. Große internationale Aufmerksamkeit sicherte dem Streik sein Zusammenhang mit der EU. In der öffentlichen Diskussion wurde plötzlich deutlich, daß eine weitere Integration neben den währungspolitischen Kriterien, nichterfüllten wirtschafts- und finanzpoltischen Stabilitätskriterien und EG-Referenden auch am Widerstand gegen die Deregulierung scheitern könnte. In Frankreich trafen Standortideologie und eine Haltung à la "bis hierher und nicht weiter" aufeinander. Nicht nur, daß dort das deutsche Modell des institutionalisierten Sozialkompromisses als fortschrittlich rezipiert wurde, sondern auch in Deutschland selbst wurde die Ruhe an der sozialen Front mit breiter Zustimmung als Überlegenheit gewertet. Die französischen Intellektuellen und deutschen Kommentatoren haben dabei einen Vorgeschmack gegeben, wie der Widerstand gegen die Liberalisierung als Aufstand gegen Vernunft und Zivilisation denunziert wird.
Daß gerade in Frankreich ein Streik gegen die Maastricht-Bedingungen stattfand, war weder zu erwarten, noch war es ein Zufall. Die in Deutschland völlig inexistenten Strukturen einer kämpferischen Arbeiterbewegung sind in Frankreich noch nicht völlig aufgelöst. Daß diese Auflösung "à langlaise" eine Perspektive des Maastricht-Europa bildet, ist in Frankreich noch nicht akzeptiert. Die Streikbewegung vom Winter 95 entstand spontan. Niemand rechnete mit ihr. Womit sicherlich gerechnet werden kann, sind weitere Angriffe auf das soziale Netz im allgemeinen und den öffentlichen Dienst im besonderen. Die Pläne sind, wenn überhaupt, nur aufgeschoben. Wenn es zur Währungsunion kommen soll, liegen sie bald wieder auf dem Tisch. Die Zeichen stehen eher so, als sei die Wiederholung einer Bewegung auf denselben beschränkten Grundlagen jederzeit möglich.
Elfriede Müller (Bahamas 19 / 1996)
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