Titelbild des Hefts Nummer 19
Was kommt nach dem Klassenkampf?
Heft 19 / Frühjahr 1996
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Ordem e progresso

Vom Fortschrittsglauben zur negativen Utopie: Politik und Verbrechen in Rio de Janeiro

Ordem e progresso, Ordnung und Fortschritt, steht auf der Fahne Brasiliens. Lange Zeit war vom Fortschritt nicht viel zu hören. Hierzulande konnte man zumeist nur trübe Nachrichten aus Brasilien, dem einstigen Wirtschaftswunderland, erfahren. Spätenstens seit Ende November letzten Jahres sieht dies nun anders aus. Deutsche Industrielle und Politiker zeigten sich auf der Auslandsmesse "Febral 95" in São Paulo begeistert von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Nach der Depression in den 80er Jahren läßt die heutige neoliberale Politik auf dem Kontinent ihre Hoffnung auf ein neues Wachstumspotential blühen. Brasilien käme bei dem Aufbau des Blocks der südamerikanischen Staaten, dem Mercosur, eine ähnliche Bedeutung zu wie der BRD bei der Gestaltung der EU – schließlich wachse in ökonomischer Hinsicht "das fünfgrößte Land der Erde wesentlich schneller als andere Länder", so Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie. (1) Wovon nicht die Rede war: die neue Integration in den Weltmarkt bedeutet eine sozialdarwinistische Ordnung für die Mehrheit der Bevölkerung.

Die neuen Subversiven

Ein Überfall auf ein Einkaufszentrumbeschäftigte im letzten Jahr wie kein anderes Verbrechen die Öffentlichkeit in Rio de Janeiro. Im Shopping Center Rio Sul nahm die Militärpolizei nach einer Schießerei zwei mutmaßliche Diebe fest. Die Beamten zogen den bereits gefesselten Cristino Mesquita hinter ihren Einsatzwagen, wo der 20jährige kaltblütig erschossen wurde – vor den Augen Hunderter von Schaulustigen und den laufenden Kameras des TV Globo, dem größten Sender Brasiliens. In den nächsten Tagen wurden die Medien mit Anrufen und Zuschriften bombardiert, die den Mord unterstützten.

Die Polizisten wurden im September 1995 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das weltweite Medienecho war zu groß, um eine Tat, die in Rio zum Alltag gehört, gänzlich ungestraft zu lassen. Doch werfen der Mord und die Reaktionen darauf ein bezeichnendes Licht auf die Diskussion über die "öffentliche Sicherheit" in Brasilien: Nach offiziellen Statistiken ist die Kriminalität in den letzten Jahren gesunken. Zugenommen hat dagegen die Propaganda eines Bedrohungsszenarios um "Organisierte Kriminalität" und "Drogenhandel". War es früher die "kommunistische Bedrohung", die die "nationale Sicherheit" gefährdete, so ist seit Ende der 80er Jahre das neue Feindbild der "sozialen Gefahr" aufgetaucht. Allein der Anblick von Verarmten dient als Auslöser für den Griff zum Revolver. Die (Drogen-)Kriminalität wurde bei den privilegierten Schichten zum Feindbild schlechthin. Die Bekämpfung der Armut und der "Verbrecher" durch Vertreibung und Ausgrenzung, bis hin zu "sozialen Säuberungen", prägen heute die Medien- und Politikerphantasien.

So wurden 1993 allein in der Stadt São Paulo nach offiziellen Angaben über 1500 Personen von der Militärpolizei erschossen. Die Mehrzahl ihrer Opfer war arm, dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. (2) Einzelne Beamte rühmen sich, bereits mehr als 60 Personen im Einsatz getötet zu haben. (3) Neben den offiziellen Repressionsorganen existieren die sogenannten esquadroes da morte. Die Todesschwadrone setzen die Arbeit der Polizei nach Feierabend fort. Ein Mitglied der Killerkommandos, die im ersten Halbjahr 1994 in Rio über 1200 Menschen exekutierten, beschrieb ihr Selbstverständnis in der in Rio erscheinenden Tageszeitung O Dia folgendermaßen: "Die Gruppen werden von Personen aus dem Stadtteil aufgebaut, von Militärpolizisten, Geschäftsleuten und Opfern der Verbrechen, die der steigenden Kriminalität ein Ende machen wollen. Die Polizei kann nicht jedes Viertel, jede Straße überwachen. In der Zwischenzeit wächst das Verbrechen und die Anzahl der Verelendeten vervielfacht sich (...) Wir stellen die Ordnung wieder her." (4)

Territorialisierung der Städte

Der Krieg gegen die sozial Deklassierten spiegelt sich in der Geographie der Städte wieder. Dort verschmelzen Verarmung, Stadtentwicklung und Sicherheitswahn miteinander. (5) Es ist kein Zufall, daß sich der Mord an Cristino Mesquita vor einem Shopping Center ereignete. Die riesigen Einkaufszentren sind die Zuspitzung einer urbanen Dichotomie. Sind die Straßen unsicher geworden, so ist die alte Sicherheit in den geschützten Tempeln des Konsums nicht gefährdet. Hier können Mittel- und Oberschicht ungestört von den "neuen Subversiven", den Dealern, Straßenkindern, Bettlern und Dieben einkaufen. Rigide Wachen halten alle, die "marginal" aussehen, aus den Shoppings heraus. Notfalls auch mit brachialen Methoden, die in der Öffentlichkeit und den Medien Zuspruch finden: "Ein Raub im Shopping ist kein normaler Raub: Er ist ein Einbruch in einen sakralen Raum des Konsums. Daher die brutale Reaktion der Polizisten, daher der Applaus." (6)

Das künstliche Paradies der Shoppings ist das Pendant zum produzierten Inferno der favelas, den Armutsvierteln der Großstädte. Sie dienen bei dem Bedrohungsszenario als Projektion für das soziale Chaos, als Sinnbild für die Bedrohung durch Armut und Verbrechen. Ausdruck findet dies in der Schaffung "reiner" und voneinander abgeschotteter Territorien: des öffentlichen Raums in den Innenstädten mit seinen luxuriösen Geschäftsstraßen, der gutbewachten Wohnburgen der Reichen – und der favelas in der Peripherie.

Diese Spaltung der Stadt eskalierte, als im Januar letzten Jahres die Regierung auf die Rufe nach der "öffentlichen Sicherheit" reagierte: Ganze Stadtteile von Rio seien außer Kontrolle geraten, die favelasauf den morros, den Hügeln der Stadt, seien die Quelle der "ausufernden Gewalt". Unter dem Beifall der Mittel- und Oberschicht und der Medien schickte die Regierung einige tausend Soldaten mit Panzern und Helikoptern in die Slums. Die Eroberung der von "Kriminellen" und "Drogenhändlern" kontrollierten Gebiete wurde in den Zeitungen in Form einer Kriegsberichterstattung angekündigt, die "Streitkräfte" von Regierung und "Verbrechern" generalstabsmäßig aufgelistet. Am Ende der Operation im März präsentierte die Armee einige verrostete Gewehre und kehrte in die Kasernen zurück. Geändert hatte sich einzig das Leben der Bevölkerung der favelas: Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes entzog man ihnen monatelang grundlegende Bürgerrechte, wurden Armut und Kriminalität gleichgesetzt. "Gewonnen" wurde die Invasion von den Militärs letztlich in den Zeitungen und TV-Berichten. Schon einige Zeit zuvor wurde in einem medialen Krieg um die Köpfe die soziale Situation auf ein Feindbild reduziert: Die Bewaffneten auf den Hügeln. Bereits 1992 fuhren während des Weltklimagipfels vor der größten favela Rios (der Rocinha) Panzer auf und richteten ihre Rohre auf die Hütten. Begründet wurde der Einsatz schon damals nicht mit dem Schutz der favela-Bewohner vor der Gewalt des Drogenhandels, sondern mit der Abschirmung der Stadt vor den favelados. (7) Damit wurden aber auch die Armutsviertel zum feindlichen Gebiet erklärt und die gesamte soziale Frage territorialisiert. In einer Studie der Höheren Kriegsakademie ESG (Escola Superior da Guerra) von 1990 wurde ein Szenario unter dem Tiel "Das Jahr 2001" ausgemalt. Die Streitkräfte müßten, so das Fazit, auf der Straße eingesetzt werden, "um sich dieser Horde von Banditen entgegenzustellen, um sie zu neutralisieren und sie systematisch zu zerstören." (8)

Informelle Ökonomie, Politik und "Verbrechen"

Der Staat hat sich schon längst aus den "verlorenen Gebieten" zurückgezogen und die Bewohner ihrem Schicksal überlassen. Mehr als 50 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Brasiliens arbeiten im informellen Sektor, 30 Prozent des Sozialprodukts werden hier erwirtschaftet. (9) Die Übergänge zwischen Armut, Kleinkriminalität, prekären Gelegenheitsarbeiten und (Drogen-)Handel sind fließend. Die örtlichen Parallelstrukturen der illegalen Drogenökonomie bestimmen ganze Stadtteile, sorgen für Beschäftigung, Sozialleistungen und "Ordnung". Ähnlich wie in anderen Staaten Lateinamerikas stellen die Geschäfte mit Drogen einen florierenden Wirtschaftszweig dar. Besonders seit die USA ihren ideologischen Kampf gegen die Drogen in Kolumbien verschärfte, wurde im internationalen Handel auch auf Brasilien ausgewichen. Ein großer Teil des Absatzes wird jedoch in dem größten Land Südamerikas selbst getätigt. Der "Binnenmarkt" ist groß genug, um hier für ein glänzendes Geschäft zu sorgen.

Der illegale Handel beschäftigt dabei allein in Rio schätzungsweise über zweihunderttausend Personen. Für marginalisierte Jugendliche bedeutet er zumeist die einzige Möglichkeit, an Warentausch und Geldzirkulation teilzunehmen: Die Drogenökonomie basiert vor allem auf der Billiglohnarbeit. Die arbeitslosen und mobilen Jugendlichen stellen das wichtigste Rekrutierungsfeld für diese Art von Unternehmen dar.

Der Handel ist betriebswirtschaftlich organisiert, die Drogengelder sind ein wesentlicher Beitrag zu den Finanzmärkten des Landes. In Rio streiten sich regelrechte "Konzerne" um die Kontrolle und Aufteilung der Branche. Das Commando Vermelho, einer der größten Drogenringe, verdankt dabei seinen Erfolg der Kombination von Waffengewalt und lokaler Sozialpolitik. Der Erfolg des "roten Kommandos" erzählt jedoch auch eine andere Geschichte. Glaubt man den Berichten von einigen lokalen Journalisten, bekamen in den 70er und 80er Jahren die "sozialen Kriminellen" im Knast Kontakt zu den politischen Gefangenen aus der damaligen Stadt-Guerilla. (10) Die zumeist aus den favelas stammenden Gefängnisinsassen übernahmen die Organisationsformen und Teile des politischen Konzepts der verurteilten Kader, die häufig Mitglieder maoistischer Gruppen waren. Die "Verankerung im Volk" wurde später zum wichtigen Bestandteil der Geschäftspolitik: Ein Teil der Gewinne wurde an die Bewohner der Armenviertel gegeben, die Schwächsten wurden bei Krankheit und sozialer Not finanziert. Damit konnten sie Sympathie und Unterstützung bei der favela-Bevölkerung erreichen – bei der Erschließung und Verteidigung des Marktes gegen rivalisierende Gruppen und gegen die Polizei ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Einen weiteren großen Wirtschaftsbereich stellt in Rio das Glückspiel jogo de bicho dar. Offiziell verboten, beteiligt sich fast jeder daran. Die Lotterie basiert auf Tiersymbolen, so daß man des Lesens nicht kundig sein muß. Außerdem ist eine Beteiligung auch mit geringen Einsätzen möglich, was die Beliebtheit des Spiels in den armen Bevölkerungsschichten erklärt. Neben dem Drogenhandel ist das jogo der zweite große illegale Arbeitsmarkt und setzt mehrere hundert Millionen Dollar im Jahr um.

Aller gegenteiligen Rhethorik zum Trotz werden die Parallelstrukturen kaum ernsthaft von staatlicher Seite gefährdet. Schließlich geht es bei den gesetzwidrigen Branchen auch für die staatlichen Repräsentanten letztlich um einträgliche Geschäfte, bei denen bis in die höchsten Regierungsämter gut mitverdient wird. Gerade die law-and-order-Politiker stützen sich gerne auf Kräfte, die mit dem Komplex aus Drogenhandel und Glücksspiel verbunden sind. Politik und "Verbrechen" gehen ineinander über: "Der Bürgermeister von Rio, der im Wahlkampf den Einsatz des Heeres versprach, stand auf der Zuwendungsliste des illegalen Glücksspiels." (11) Ebenso werden viele Polizeibeamte auf den Gehaltslisten von Drogen- und Glücksspielbossen geführt. Ein Großteil des Polizeiapparates ist außer direkter staatlicher Kontrolle geraten. (12) Die geringe staatliche Besoldung prädestiniert die Beamten geradezu für "Nebentätigkeiten" in privaten Sicherheitsdiensten, die die Funktion der Polizei übernehmen – in Rio werden dafür jährlich mehrere Milliarden Dollar ausgegeben.(13)

Helio Tavares Luiz, Chef der Kriminalpolizei in Rio, nannte in der Veja, dem größten brasilianischen Nachrichtenmagazin, die Gründe, wieso die Polizei kein Mittel gegen "das Verbrechen" findet. Seiner Ansicht nach hat die Elite Brasiliens kein Interesse an "einer ernsthaften Polizei", die mit modernen Mitteln ausgerüstet ist. Die Oberschicht sei selbst zu tief in die illegalen Geschäfte verwickelt. "Die Polizei ist gewalttätig, schlägt und foltert, weil die Elite der Gesellschaft es so will. Sie will eine Polizei, die gegen die Armen vorgeht, aber keine, die sich gegen sie selbst wenden könnte." (14)

Neoliberale Funktionalität

Die Aufteilung der Stadt ist damit durchaus funktional. In den Armutszonen sorgen Drogenhandel und Glücksspiel noch für eine funktionierende Kapitalakkumulation, die in die nationale und internationale Geldzirkulation integriert ist. Für die marginalisierte Jugend stellt sie eine gefährliche Einnahmequelle dar, zu der kaum Alternativen bestehen. Für die Mittel- und Oberschicht ist sie hingegen Hort des Bösen. Die Ausdehnung der sozialen Verelendung wird als Bedrohung durch die außer Kontrolle geratene Armutsökonomie wahrgenommen. Solange die Armut und die Gewalt auf den "Hügeln" blieb, konnte man sie leicht ignorieren. Seit der Besetzung der favelas durch die Armee baute "das Verbrechen" aber neue Geschäftszweige auf: Zwar ging nach Angaben der Militärs der Drogenhandel um 50 Prozent zurück, zugleich nahmen jedoch die Banküberfälle um 200 Prozent zu und die Entführungen verdreifachten sich. (15)

Unter dem Motto "Reage Rio" (Tu etwas, Rio) zogen daher Ende November letzten Jahres etwa 100 000 Einwohner von Rio durch das Zentrum der Stadt, um gegen die Gewalt zu protestieren – zur gleichen Zeit, als die "Febral 95" in São Paulo stattfand. (16) Symbolträchtig begann der Zug vor der Candelaria Kirche. Acht Straßenkinder waren an diesem Ort 1993 von einem Todesschwadron ermordet worden. Nach dem Massaker wurde die Bürgerbewegung "Viva Rio" (Rio soll leben) gegründet, die nun zu der Demonstration aufrief. Doch weniger das Schicksal der Straßenkinder hatte diese Reaktion ausgelöst. Als im Oktober an einem Tag gleich drei Angehörige von reichen Familien verschleppt wurden, erhielt die Bürgerbewegung, die bisher wenig Resonanz hatte, schlagartig Verstärkung durch Unternehmerverband und Massenmedien. Was die vermögende Klasse weit mehr bedrückt als Todesschwadrone und Elend: Allein 1995 wurden fast hundert prominente Familienangehörige entführt. Damit wurde deutlich, daß den Privilegierten die Abschottung in ihren Vierteln keinen hinreichenden Schutz mehr gewährt.

Die Eliten werden zunehmend mit den Folgen ihrer eigenen Politik konfrontiert, die einige Inseln des Wohlstands und ein Meer der Verwüstung und des sozialen Elends schafft. Seit Ende der 80er Jahre schließen sich die ökonomische und politische Führungsschicht in Brasilien den neoliberalen Glaubenssätzen des Weltmarktes an, setzt sich der Ruf nach Privatisierung und Deregulierung des Staates durch. Bleibt die Armut aber nicht in den ihr vorgegebenen Grenzen, taucht der Drogenhandel nicht nur in Form gewaschener Gelder auf den Finanzmärkten und den Bankkonten korrupter Politiker auf, wird Anlaß zum Handeln gesehen. Ist der Staat nicht mehr in der Lage, die Grenzen der abgesteckten Territorien aufrechtzuerhalten, so wird auch dieser Zweig der öffentlichen Sicherheit privatisiert: durch Todesschwadrone und private Killerkommandos. Diese Art von Neoliberalismus ist vielleicht in den Lehrbüchern seiner Theoretiker nicht vorgesehen, widerspricht ihnen jedoch auch nicht. In einer postmodernen Realität werden soziale Unterschiede auf abgesteckten Territorien festgeschrieben, existieren der soziale Bürgerkrieg mit Todesschwadronen und Ausnahmezustand in den Armensiedlungen neben der formalen Demokratie und den konsumfreudigen Mittelschichten. Diese Ordnung der Gesellschaft folgt dabei fast naturwüchsig der liberalen Modernisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Der diskrete Charme des Weltmarkts

Wie kein anderer steht der heutige Präsident Fernando Henrique Cardoso für die Modernisierung des brasilianischen Kapitalismus. In den sechziger Jahren wurde er bekannt als ein führender Vertreter der Dependenztheorie. Aufgrund der ungleichen Handelsbeziehungen, der "Terms of trade", so die These, befänden sich die Länder der Dritten Welt in einer permanenten ökonomischen Abhängigkeit von den kapitalistischen Zentren. Cardoso variierte dieses Paradigma. Cresimento e pobreza (17) hieß eine seiner ersten Schriften. Die Idee, die dem Buch zugrundeliegt, ist folgende: Brasilien wachse wie kaum ein anderes Land auf der Welt, und an der Seite des Reichtums wachse die Armut. Als Lösung sollten die Länder Lateinamerikas eine Entwicklungsstrategie einschlagen, die im wesentlichen auf eine Kopie des fordistischen Modells in den Metropolen hinauslief. Unter den Bedingungen einer nachholenden Entwicklung und der einseitigen Abhängigkeit bedurfte es jedoch staatlicher Schutzmaßnahmen, um den Aufbau einer einheimischen Industrie zu organisieren. Mit Hilfe von protektionistischen Maßnahmen sollten einheimische Produkte die hochwertigen Importe substituieren, die agrarischen Exporte durch industrielle Produkte ersetzt und ein funktionierender Binnenmarkt geschaffen werden. Die Realisierung fand zwar unter der Regie einer autoritären Militärdiktatur statt, die grundlegenden wirtschaftlichen Prämissen waren jedoch auch den Ansichten der linken Abhängigkeitstheoretiker ähnlich. Diese forderten insbesondere eine Demokratisierung der Gesellschaft, um eine gerechte Verteilung des Reichtums zu ermöglichen.

Die Finanzierung erfolgte in der Aufbauphase durch umfangreiche Kredite aus den Metropolen – in den 60er und 70er Jahre waren diese reichlich und billig zu haben. Als Anfang der 80er Jahre die Reagan-Administration eine neokonservative und monetaristische Wende in der Wirtschaftspolitik einleitete, kollabierte die ganze Strategie des "Wachstums durch Verschuldung". Die weltweite Zinserhöhung und der starke Anstieg des Dollarkurses machte bei den hochverschuldeten Ländern die Zins- und Kredittilgung nahezu unmöglich. Auf diese Weise schlug die Krise des Fordismus, die in den siebziger Jahren in Europa und den USA eingesetzt hatte, mit zeitlicher Verzögerung, dann allerdings mit noch gravierenderen Folgen, auf Lateinamerika durch.

In den 80er Jahren, dem "verlorenen Jahrzehnt", setzte eine Deindustrialisierung gigantischen Ausmaßes ein: Der Versuch, eine gegenüber dem Weltmarkt relativ autonome Entwicklung durchzuführen, hatte ein ökonomisches und soziales Desaster zur Konsequenz. Zumindest wurde damit deutlich, wie ungenügend der Begriff Abhängigkeit war, um die Strukturen des globalen Kapitalismus zu beschreiben. Die Perspektiven einer nationalen Entwicklung in der kapitalistischen Peripherie erwiesen sich durch die offenkundig fehlenden Möglichkeiten eines halbwegs autonomen, auf relativer Abkopplung vom Weltmarkt gestützten Industrialisierungsprozesses als nicht realisierbar.

Als Folge dieser Entwicklung wurden die nationalen Modernisierungspläne aufgegeben. Nicht mehr die Abkehr, sondern die bedingungslose Integration in den Weltmarkt wurde nun zur Grundlage der Wirtschaftspolitik erhoben. Am besten brachte Cardoso diese Umkehrung auf den Punkt: "Wir sehen heute in dem System der internationalen Integration und Partizipation nicht mehr die Ursache unserer Probleme, sondern deren Lösung." (18) Dieser Satz ist das Ergebnis wechselvoller Anpassung an die Verhältnisse, denn nur deren Akzeptanz ermöglicht scheinbar einen Fortschritt. Mit der Abkehr von der staatlich zentrierten Form von Akkumulation und politischer Organisation verliert das Kapital seinen scheinbar "nationalen" Charakter. Die entscheidende Dimension gewinnt diese Akkumulationsstrategie durch die Rationalisierung und die Globalisierung der Produktion, die letztlich die Zerschlagung der staatsreformistischen Steuerung des Fordismus zur Konsequenz hat.

In Brasilien besorgt Cardoso sehr erfolgreich das Geschäft, sein Land an die Bedingungen des Weltmarkts anzupassen. Zentrale Punkte seines Programms sind die Privatisierung der Staatsindustrie und die Öffnung der einheimischen Industrie für den internationalen Wettbewerb. Als Exempel diente sein Vorgehen bei dem Streik der Petrobras-Arbeiter. Dieser größte und wichtigste Betrieb im Energiebereich nahm in den ehemaligen Entwicklungsplänen eine zentrale Rolle ein und galt als "strategischer Sektor", der unter strikter staatlicher Kontrolle zu bleiben hatte. Im Mai letzten Jahres wurde die Petrobras im Rahmen der neuen Wirtschaftspolitik privatisiert. Der Streik der Belegschaft, die um ihre relativen Privilegien fürchtete, wurde unter dem Einsatz der Armee zerschlagen. Dies bedeutet daher nicht nur eine Zäsur der staatlichen Wirtschaftspolitk, sondern auch eine fundamentale Niederlage der organisierten Arbeiterschaft Brasiliens.

Als Folge der Weltmarktöffnung und der staatlichen Deregulierungsmaßnahmen beschleunigte sich das Auseinanderklaffen der brasilianischen Gesellschaft. Im Rahmen der nachholenden Entwicklung konnte mit großem Aufwand in einigen Bereichen eine hochwertige Industrieproduktion, zum Beispiel in der Automobilindustrie, aufgebaut werden. Diese Sektoren können sich auch erfolgreich in den Weltmarkt integrieren. Für den Rest bleibt allerdings nicht einmal mehr die Hoffnung auf Integration. Denn der moderne Teil der Gesellschaft koppelt sich in wachsendem Maße vom Rest des Landes ab. Das Schlagwort von "Belindia" verdeutlich dies: Ein Teil der brasilianischen Gesellschaft weist eine Sozialstruktur und eine Wirtschaftsleistung auf, die mit den westlichen Industrienationen (z.B. Belgien) verglichen werden kann. Der Rest exisitiert auf einem Entwicklungsniveau von Indien (oder darunter).

Angesichts des globalen Kapitalismus gibt es kein Land mehr, das von der Dynamik des weltumspannenden kapitalistischen Akkumulationsprozesses auch nur relativ unabhängig wäre. Die Alternative besteht nicht zwischen Abhängigkeit oder Autonomie, sondern zwischen der passiven Unterwerfung unter die Dynamik des globalen Akkumulationsprozesses oder der Bewahrung von Spielräumen, die es ermöglichen, die Art und Weise der Eingliederung in den Weltmarkt noch zu beeinflussen. Glückt der Anschluß, können damit die sozialen Folgen vielleicht irgendwann etwas abgemildert werden. Nein, nicht neoliberal sei sein Programm, sondern neosozial, erklärt Cardoso bei jeder Gelegenheit. Besser kann man mit einem Wort das ganze Projekt nicht beschreiben.

Brasilien beginnt in New York

Die Spaltung der Peripherie in erfolgreiche Schwellenländer, die zum Teil mit hochtechnologischen Produkten in den Weltmarkt eingebunden sind und in Regionen, die bestenfalls noch als Rohstofflieferant oder zur Mülldeponie tauglich sind, vertieft sich. Brasilien verbindet beide Entwicklungen. Gleichzeitig bilden sich innerhalb der kapitalistischen Zentren im Zuge dieser Umbrüche ebenfalls "Drittwelt"-Zonen mit entsprechenden Arbeits- und Lebensverhältnissen heraus. Die Unterschiede zwischen Metropolen und Peripherie verschieben sich. "Der Graben zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. Es ist (...) die Walze der amerikanischen Rechten, die (...) über das Land geht und daraus ein anderes Brasilien macht: ein Häuflein unermeßlich reicher Leute in bewachten Arealen, umgeben von einem Meer der Armen." beschreibt Paul Auster die Entwicklung der USA exemplarisch am Zustand seiner Heimatstadt New York. Auch dort werden im öffentlichen Bewußtsein Ursache und Folgen vertauscht. Nicht mehr die Armut, sondern die Armen werden zum eigentlichen Problem erklärt: Panisch erleben die Priviligierten den Rest der Welt nur noch als Bedrohung – als Ungeziefer und Parias, als Sozialschmarotzer und Kriminelle, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.

Armut und soziale Marginalisierung breiten sich quer zu den traditionellen Klassengrenzen aus. Ökonomische, soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten sind immer weniger gesellschaftsübergreifend. In dem Maße, wie die Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung ihre Destruktivität entfaltet, wird es schwierig, noch ein Subjekt der Emanzipation zu finden. Noch vor ein, zwei Jahrzehnten konnte sich beispielsweise die internationale Solidaritätsbewegung auf die verschiedenen Organisationen der revolutionären Linken stützen. Sie hatten, wie fehlerhaft auch immer, ähnliche Vorstellungen über die Ursachen des gesellschaftlichen Elends, waren gut organisiert und sprachen mit den gleichen Begriffen. Wer aber kannte vor seinem "TV-Auftritt" schon Cristion Mesquita? Die "neuen Subversiven" sind weder organisiert noch verfügen sie über die Möglichkeiten der modernen Kommunikation – und sind damit weder auf poltische Diskurse noch auf Agitation aller Art besonders gut zu sprechen. Für sie kommt ein "Linker" in der Regel aus der selben anderen Welt wie die Nachrichtensprecher in TV Globo.

In "künftigen Formen der Unterdrückung", schreibt Horkheimer, "könnte das Kapitalverhältnis periodisch verfallen, um sich immer wieder daraus zu erheben. Das abwechselnde Bestehen dieser Formen der Produktion gliche in seinen Metamorphosen dem mystischen Vogel Phönix, der, nachdem er sich selbst verbrannt hat, aus der eigenen Asche wieder verjüngt aufersteht." Aus den Ruinen einer "nachholenden Entwicklung" steigt ein neuer Kapitalismus – barbarischer als seine Vorgänger, aber effizient funktionierend. Die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft von einer "höheren Zivilisation" wandeln sich zur negativen Utopie.

Exemplarisch kann dies an den eingangs geschilderten Repressionen gegen die soziale Armut gezeigt werden. Folgt man den Berichten verschiedener brasilianischer Zeitungen (19), so sind die Todesschwadrone in Rio straff betriebswirtschaftlich organisert. Sie funktionieren als eine Art Dienstleistungsunternehmen für Auftragsmorde. Recherchen ergaben, daß die Gewinne aus dieser "Branche" reinvestiert werden und bei der Finanzierung von geplanten Shopping Centers wieder auftauchen. Die Sektoren, die aus den modernen Produktionssektoren herausfallen, werden wieder neu in die Wertschöpfung integriert. In dieser Hinsicht ist der brasilianische Kapitalismus hochmodern und birgt noch ungeahnte "Wachstumspotentiale": Die Beseitigung des massenhaft erzeugten Elends wird selbst wieder kapitalistisch organisiert.

Anton Landgraf (Bahamas 19 / 1996)

Anmerkungen:

  1. Tagesspiegel, 30.11.1995
  2. Interview mit Elói Pieta, in: FDCL (Hg.): Cararandiru – das Gefängnismassaker in São Paulo, 1995, Berlin.
  3. Angaben nach: Karam, Maria: Violenêcia punitiva: un genocídio silencioso e cotidiano, in: Proposta, Nr. 60, S. 41ff.,1994, Rio de Janeiro.
  4. Zitiert nach: O Dia, 8.7.1993 (Rio de Janeiro)
  5. Mike Davis: City of Quarz, 1994, Berlin
  6. Fatheur, Thomas: Krieg in den favelas – Fest auf dem Asphalt, in: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 250, April 1995, S. 46ff., Berlin.
  7. Gilberto Dimenstein schreibt in der "Folha de São Paulo" vom 16.11.1992: "Für die SAE (Secretaria de Assuntos Estratégicos) bedroht der soziale Krieg die Sicherheit. Die SAE, Nachfolgerin des aufgelösten Geheimdienstes der Diktatur, ist der Auffassung, daß die Sicherheit Brasiliens ,ernsthaft bedroht‘ sei – aber nicht mehr von potentiellen Grenzkonflikten oder politschen Subversiven, sondern von dem sozialen Krieg, der es möglicherweise erfordern wird, daß die Streitkräfte wieder ihre Kasernen verlassen und auf der Straße die Ordnung wiederherstellen."
  8. Zit. nach The Guardian 7.9.1990.
  9. Zaluar Guimaraes, Alba: A máquina e a revolta. As organicaciones populares e o significado da pobreza, 1992, São Paulo.
  10. Nachzulesen in: Pessos Guimaraes, Alberto: As classes perigosas. Banditismo rural e urbano, 1986, Rio de Janeiro und Fota Neto, Antonio: Os novos subversivos. Marginalidade e Poder, Estado e Sociedade, 1985, Brasilia.
  11. Fatheur, Thomas: Gewalt in Rio de Janeiro, in: Lateinamerika. Analyse und Berichte, Nr. 16, S. 31ff, 1995, Bad Honnef.
  12. "Das eigentliche Problem ist also nicht das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols in Rio, sondern dessen Umwandlung in eine weitere Räuberbande." Zit. nach: Fatheur, Thomas: In Rio greift das Militär ein, in: Lateinamerika Nachrichten, Dez. 1994, Nr. 246.
  13. "Heute hat fast jeder Polizist einen zweiten Job – der Nebenjob ist die Haupteinnahmequelle und die reguläre Arbeit eine Nebenbeschäftigung. (...) Die ganze Struktur der normalen Polizeiarbeit ist zerfallen, denn die Polizisten sind davon abhängig, in den privaten Sicherheitsdiensten zu arbeiten." Zitiert nach: Interview mit Tania Moreira, in: Lateinamerika-Nachrichten Nr. 250, April 1995, Berlin.
  14. Veja vom 15.11.95
  15. Interview mit Volmer do Nascimento, in :Lateinamerika-Nachrichten Nr. 250, April 1995, Berlin.
  16. FR, 30.11.1995
  17. Cardoso, Fernando Henrique: Cresimento e Pobreza, São Paulo, 1975 (deut.: Wachstum und Armut).
  18. FR, 14.10.1995
  19. Z.B.: O Dia, 8.7.1993

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