"Safvan Eid hat die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Er hält sie sehr ruhig, nur die Daumen spielen miteinander. Ab und zu blickt er kurz zu seinen Anwältinnen, fängt ein flüchtiges Lächeln ein, fragt bei der Dolmetscherin einige Worte nach. Er strahlt Ruhe aus, als er leise, aber mit fester Stimme dem Lübecker Landgericht am Mittwoch fast drei Stunden lang seine Erlebnisse in der Brandnacht am 18.1. schilderte." Diese Prosa stammt nicht vom zuständigen Konsistorialrat für Kirchenasyl, auch nicht von Heribert Prantl, Deutschlands mutigstem und ethisch gereiftesten Journalisten, und Heinrich Böll kann es nicht mehr gewesen sein. Der hier Opfer eines berufstypischen Arbeitsunfalls geworden ist, hat monatelang die mit Abstand beste journalistische Aufklärungsarbeit zum Fall Safvan Eid geleistet. Wolf Dieter Vogels Kapitulation vor Sprache und Wahrheit (in der jW am 19.9.96) markiert die verlogene Konsequenz eines Unterfangens, das den Justizskandal suchte, wo gesellschaftliche Normalität zu analysieren gewesen wäre.
Die sprachlichen Versatzstücke des Kolportageromans, mit denen die bürgerliche Presse die Vermenschlichung unmenschlicher Verhältnisse betreibt und sie damit stets aufs neue zementiert, finden in den linken Journalismus immer dann Eingang, wenn Entlarvung angesagt ist. Diese Methode unterstellt eine gezielt irregeleitete Öffentlichkeit, die Opfer böswilliger und pflichtvergessener Agenten von Staatsmacht oder Kapital zu werden drohe. Bei richtiger Information, so unterstellt der Enthüllungsjournalismus, werde der Schleier aus Lüge und Irreleitung abfallen und die Wahrheit ans Licht treten. Wahrheit sucht er mit Vorliebe im Recht, weshalb die Aufdeckung von Justizskandalen eine traditionelle Domäne des Enthüllungsjournalismus ist. Ob nur die Machenschaften einzelner rassistischer Justizbediensteter aufgedeckt werden, oder der Skandal als beredtes Beispiel für die rassistische Verfaßtheit des ganzen Systems herhalten muß, unterstellt wird das Vorhandensein einer wirklichen Gerechtigkeit, die sich angeblich vom nur formalen Recht der Mächtigen unterscheide. Im Kampf um wirkliche Gerechtigkeit kommt dann verblüffenderweise das ganze Arsenal der Strafprozessordnung zum Einsatz, die gegen ihre Mißbraucher anklägerisch ins linke Analyseinstrumentarium übernommen wird. Wo für wirkliches Recht gegen seine angebliche Verdrehung durch die bürgerliche Herrschaft gestritten wird, löst sich der verhandelte Konflikt in menschliche Schicksale auf. Es bedarf der Täter und der Opfer: Die einen mit den Utensilien der Staatsmacht ausgestattet, die anderen ganz nackt und nur Mensch, aber erfüllt von der Würde des Redlichen, einem unheimlichen Getriebe konfrontiert. Und wo die Not am größten ist die Rettung nah. Sie präsentiert sich in Gestalt nimmermüder Aufklärer, die als Rechtsanwältin oder Journalist das unschuldige Opfer gerade noch dem Verhängnis entreißen.
Bis Anfang Juli schien fast jede Bemühung, Safvan Eids baldige Freilassung durchzusetzen und die ihm drohende Verurteilung abzuwenden, richtig. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Wolf Dieter Vogels Recherchen und die Bemühungen des "Lübecker Bündnisses gegen Rassismus" unterstützenswert. Jeder neue Zweifel an Eids Schuld, der in die Öffentlichkeit getragen werden konnte, jeder Bündnispartner, ob Pfaffe oder Sozialdemokrat, der zur Erreichung dieses Ziels gewonnen werden konnte, war ein kleiner Sieg nicht für die antirassistische oder sonst eine "Sache", sondern für den Angeklagten.
Durch seine Freilassung mit der Begründung, daß ein dringender Tatverdacht nicht mehr vorliege, hat sich die Situation geändert. Zwar geht es weiterhin darum, nicht nur den wahrscheinlichen Freispruch wegen Mangels an Beweisen zu erwirken, sondern einen, der ausdrücklich Eids Unschuld bestätigt. Die Lübecker Gerichtsveranstaltung ist allerdings seither nicht mehr der Ort sinnvoller antirassistischer Agitation. Nun geht es dem Enthüllungsjournalismus wieder allein um die Lübecker Inszenierung als Beispiel für die Zustände in diesem Land. Die jetzt lancierte Dikussion über das Versagen von Justiz und Öffentlichkeit nach dem Lübecker Brandanschlag, dient einzig der Selbstberuhigung liberaler Demokraten, die im einzelnen Asylbewerber einen netten Kerl zu entdecken vermögen, im Falle des massenhaften Auftretens jedoch seine humanitäre Entsorgung für angezeigt halten. Deren durchaus glaubwürdige Abscheu vor Selbsthelfertum nach Rostocker oder Lübecker Art ändert nichts daran, daß Liberale in der Abschiebungsfrage nicht über die Forderung nach humanitärem Vollzug und sorgfältiger Einzelfallprüfung hinauskommen. Ihre ideologische Nähe zu den Selbsthelfern findet Ausdruck im Abscheu vor dem einzelnen Schurken bei gleichzeitigem Einverständnis mit dem schurkischen Kollektiv. Dieses braucht sich von seinen Januar-Thesen, wonach sich der Asylbewerber selber anzünde, weil er nicht mit seinesgleichen im multiethnischen Heim friedlich zusammenleben könne, gar nicht groß zu distanzieren. Schließlich beweist ja der Prozeßverlauf, daß die Überlebenden einander wirklich nicht so freundlich gesinnt sind, wie Deutsche (auch jene paternalistischen Antirassisten, denen Streit unter Flüchtlingen das Weltbild beschädigt) es von ihren ausländischen Gästen erwarten dürfen. Es genügt die Selbstermahnung, den richtigen Befund nicht allzu schablonenhaft anzuwenden und ab und an auch einen irregeleitetn Deutschen als denkbaren Einzeltäter für möglich zu halten.
Das Ehrenbürgerrecht der Stadt Lübeck, mit dem Safvan Eid für den Fall seiner Freisprechung bedroht wird, verbunden mit einem Daueraufenthaltsrecht gnadenhalber, die zerknirschte Betroffenheit der Weizsäckerdeutschen über ihre Voreiligkeit und einige Ermahnungen an Toleranz und Mitmenschlichkeit, sind alles, was der Lübecker Prozeß bei günstigem Ausgang nach sich ziehen wird.
Ein kleiner Kreis von Leuten aus der antirassistischen und antifaschistischen Szene hat nach Eids Freilassung Konsequenzen gezogen. Sie sagten kurzerhand eine Demonstration zur Prozeßeröffnung in Lübeck ab und wählten als neuen Demonstrationsort das nahegelegene Grevesmühlen. Was sie von der allein prozeßorientierten Mehrheit der Szene unterschied, erläuterten sie in einem Diskussionbeitrag für die junge Welt (22.8.): "Gegen den Staat und seine rassistischen Ermittlungsbehörden soll man/frau demonstrieren, was nicht falsch ist. Wer aber den Staat und seine Apparate losgelöst von der Bevölkerung wahrnimmt, verkennt die Realitäten in diesem Land. Die Pogrome der letzten Jahre bedurften keiner staatlichen Anordnung: die Massen demonstrierten ,selbstbestimmt, wie sie sich ,Politik der Straße vorstellen."
Als uns kurz vor Drucklegung der BAHAMAS Nr. 20 der Demoaufruf nach Grevesmühlen erreichte, haben wir zugegriffen, den Aufruf neu formuliert und zur Teilnahme aufgefordert. Daß dieses Unternehmen die guten Deutschen, die je nach politischer Vorliebe die FAZ oder die Arranca lesen, veranlassen würde, einmal mehr die Frage, "wie halte ich es mit meinem Volk" bekennerhaft zu beantworten, schien uns evident. Spannender noch war, daß sich das Demo-Bündnis außer den notorischen Provokateuren von "Cafe Morgenland" nicht aus der antideutschen Szene rekrutierte und gleichwohl sehenden Auges in die antideutsche Falle getappt ist. Sie haben daraufhin ihr Fett von jener antirassistischen und antifaschistischen Szene abbekommen, der sie selber angehören. Auf sie schlägt nun zurück, die Solidarität mit dem Angeklagten so ernst genommen zu haben, daß sie sich mit den Hintergründen der Lübecker Inszenierung zu beschäftigen begannen. Dabei kamen sie vom Weg der bereichspolitischen Beschränktheit ab. Statt ihre Kritik auf die Lübecker Staatsanwaltschaft, die bürgerliche Presse und Politik zu beschränken, wie es der gewöhnliche Antirassismus tut, um zwischen der redlichen Bevölkerungsmehrheit und ihren böswilligen Verführern zu differenzieren, stellten sie den rassistischen Konsens der ganzen deutschen Bevölkerung ins Zentrum ihres Aufrufs. Das brachte ihnen den Bannfluch der Szene ein, die mit ihnen so verfuhr, wie vorher schon mit den klassischen Antideutschen. Die aus den Interim-Artikeln gegen den 8. Mai-Aufruf des antideutschen Lagers bekannten Textbausteine (siehe dazu BAHAMAS 17) mußten gegen die Vorbereitungsgruppe der Grevesmühlen-Demo nur noch abgerufen werden. Die folgenden Beispiele, die alle aus einer Erklärung des "Lübecker Bündnisses gegen Rassismus" vom 22.8.96 stammen, verdeutlichen das: "unpolitisch und sektenhaft", "zu einer differenzierten Analyse und damit zu wirksamem Auftreten gegen den Rassismus nicht mehr fähig", "mit linker emanzipativer Politik schlicht unvereinbar", "nur das eigene Rechthaben nach außen tragen", "kontraproduktiv".
Schon kurz nach dem Lübecker Brandanschlag fand eine markante Spaltung statt. Leute um das "Cafe Morgenland" erdreisteten sich, den Fetisch der Neutralität bei der Wahrheitssuche antirassistischer Hilfsstaatsanwälte in Frage zu stellen. Sie behaupteten stattdessen Safvan Eids Unschuld, ohne irgendeine Recherchearbeit vorweisen zu können und unterstellten, die wahren Täter würden geschützt, um der deutschen Volksgemeinschaft einen Persilschein auszustellen. Dieser Verstoß gegen die Seriösität stützte sich allein auf ein Argument: Die Aussagen der überlebenden Bewohner des Hauses in der Lübecker Hafenstraße, wonach es weder Eid noch sonst ein Hausbewohner gewesen sei. Ohne die Qualität dieser Aussagen juristisch zu überprüfen, war für "Cafe Morgenland" und andere klar, daß es sich um ein deutsches Verbrechen gehandelt haben mußte. Bemerkenswert an diesem Schluß war keineswegs seine Originalität, sondern daß sich ihm sonst niemand anschließen wollte. Zwar hat es die antirassistische und antifaschistische Linke nicht mit den öffentlichen Solibekundungen für die angeblich zu Unrecht verunglimpfte Gemeinde Grevesmühlen gehalten, daß sie sich aber zur kritischen Begleitung der öffentlichen Tätersuche hergegeben hat, obwohl sie wissen müßte, daß die Täter nebenan wohnen, Artikel für Tageszeitungen schreiben und von Staats wegen die Ausländerfrage bearbeiten, hat sie nachhaltig diskreditiert. Mit mehrmonatiger Verspätung kam der Rest der Szene zwar auch auf den Trichter, aber praktisch erst dann, als die juristische Beweiskette für Eids Unschuld keinen anderen Schluß mehr zuließ. Nicht auszudenken, was die Bewegung heute von sich gäbe, wenn nicht so bemerkenswert viele Ungereimtheiten bei den Ermittlungen aufgekommen wären.
Den ursprünglichen Aufruftext für den Tag des Prozeßbeginns, der mit kernigen Parolen wie "Scheiß-Deutschland" gespickt war, wurde nur unwesentlich umgeschrieben. Immer noch stand die Solidarität mit Eid ganz im Vordergrund. Allerdings gewannen Losungen wie "die Täter sind überall ..." und "diese Ordnung gilt es zu stören" wegen des neuen Veranstaltungsorts und dem Aufruf "den TäterInnen auf die Pelle rücken" eine höchst konkrete Bedeutung. Verbunden mit der Feststellung, "es hätte auch jedes andere Dorf, jede andere Stadt in Deutschland sein können." haben die Aufrufer sich, vermutlich ohne es zu ahnen, mit Leuten gemein gemacht, die auf den Bahamas und anderswo ihr selbstgerechtes Inseldasein fristen.
Das Grevesmühlen-Projekt stand völlig zurecht von Anfang an unter dem Verdikt, ein antideutsches zu sein. Außer der BAHAMAS haben das die Lübecker Nachrichten, die FAZ und die interessierte antifaschistische und antirassistische Szene erkannt.
Bereits am 6.8. widmete die FAZ dem Demovorhaben einen ausführlichen Artikel, in dem auf zu erwartende Ausschreitungen hingewiesen wurde. Diesem deutlichen Fingerzeig an die zuständigen Behörden in Grevesmühlen und Schwerin, die Demo zu verbieten, folgten am 13.8. die Lübecker Nachrichten, die als berufensten Zeugen den Sprecher des "Lübecker antirassistischen Bündnisses" präsentierte: "Nicht unterstützt wird die Demonstration vom Lübecker Bündnis gegen Rassismus. Sprecher Christoph Kleine: "Eine umstandslose Identifikation des Ortes Grevesmühlen mit den möglichen Brandstiftern halten wir für fatal. Ein solches Verhalten hilft der antirassistischen Bewegung nicht aus ihrer Isolation." Da es, soweit bekannt, keine Zusammenarbeit mit Gruppen vor Ort gebe, könne eine solche Demonstration von den Menschen in Grevesmühlen nur als Einfall der "Besserwessis" verstanden werden. Die Parolen auf dem Handzettel seien offensichtlich unpolitisch und sektenhaft." Das alles unter der Überschrift "Gewalt-Demonstration geplant Berliner Gruppe ruft mit Hetzparolen zur Kundgebung auf."
Die zuständigen Ordnungsbehörden sind der Aufforderung zum Verbot nachgekommen und die Verbotsbestätigung des Schweriner Landgerichts nimmt Kleines Hinweis mit den Besserwessis auf. Gefahr für die öffentliche Sicherheit gehe von der Demonstration schon deshalb aus, weil zu befürchten stünde, daß sich rechts- und linksextreme Gewalttäter Auseinadersetzungen liefern würden.
In einer Erklärung des ak kassiber, die die BAHAMAS gerne mitunterschrieben hat, wird dem Lübecker Bündnis unterstellt, seiner Erklärung hätte nur noch der Zusatz gefehlt: "Außerdem unterstützen wir die Staatsschutzmaßnahmen für ein Verbot der Demo".
Das ging den Autoren eines der größten Szeneblätter, der in Berlin erscheinenden Arranca, die sich ganz auf die kritische Begleitung des Lübecker Protesses eingeschworen haben, ganz entschieden gegen den Strich. Diese radikale Zeitschrift formuliert trefflich, wo der linke Mainstream sich einrichtet, wenn Antira und Antifa und linke Organisationsdebatte unter einen Hut sollen. "Wie aber kann sich antirassistischer Widerstand verbreitern" fragt dieses Blatt und liefert eine Antwort, die zwar ein bißchen analphabetisch dafür aber zackig ist: "Vermittlung und Legitimierung der eigenen Praxis bleiben für uns zentral. Nicht weil wir uns scheuen genau hinzugucken, sondern weil wir sehr wohl genau hingucken." Arranca-Leser wissen eben mehr. "Eine Linke, die auf die Möglichkeit von Vermittlung verzichtet, ist kein Faktor. Denn zu Ende gedacht bedeutet das: entweder die Kriegserklärung gegenüber (!) der deutschen Bevölkerung oder die Emigration. Und noch immer gilt: Die Zukunft ist noch nicht geschrieben das Lied vom Ende der Geschichte ist eine alte Leier. Und Zähne zeigen wers Maul aufmacht." Wo man landet, wenn man als Linke keinen Faktor darstellt, weiß, wer die nationale Wende im KB 1990 mitverfolgt hat: Auf den Bahamas. Die schneidige Kriegserklärung, die vorsichtshalber grammatikalisch falsch, aber inhaltlich richtig nicht an die sondern gegenüber der deutschen Bevölkerung erfolgen müsse, also niemanden meint, ist ein Zugeständnis an den Verbalradikalismus, den man sich als Autonomer einfach schuldig ist. Gemeint ist freilich nicht der Kampf gegen die deutschen Verhältnisse, sondern das Bündnis mit der Bevölkerungsmehrheit, das "Vermittlung" genannt wird, weil es gescheiter klingt als Anbiederung. Wie Vermittlung geht, hat das "Lübecker Bündnis gegen Rassismus" am 22.8. in der jungen Welt erklärt: Man gehe in ein erwiesenermaßen rechtsradikales Nest, wo sich alle bis hin zur PDS über das Demo-Verbot gefreut haben und suche sich Bündnispartner gegen den Rassismus. "Voraussetzung für ein sinnvolles politisches Auftreten in Grevesmühlen wäre eine Kooperation mit antirassistischen Kräften vor Ort gewesen. Der massenhafte Einfall von ,Besserwessis in die mecklenburgische Kleinstadt wird jedenfalls keine positive Wirkung haben. Im Gegenteil, die Identifikation der EinwohnerInnen mit den möglichen Tätern aus ihrer Mitte wird reproduziert (!) werden." Diese grandiose Mischung aus Lügen, Kitsch und Analphabetismus bringt die von Arranca eingeforderten Vermittlungsleistungen auf den Punkt. Von "mecklenburgischen Kleinstädten" wie Grevesmühlen gingen im gleichen Sommer Wochenende für Wochenende Volksbelustigungen aus, die nur deshalb keine Todesopfer gefordert haben, weil auf ostdeutsche Campingplätze schon lange keine Ausländer mehr fahren, sondern nur "Besserwessis".
Die Identifikation der übergroßen Mehrheit mit jeglicher rassistischen, heimattümelnden oder sonstwie rechtsradikalen Betätigung ihres männlichen Nachwuchses ist erwiesen. Doch das schert Lübecker Antirassisten wenig. Sie sind der Mecklenburger Heimatkultur nicht nur geographisch nahe. Sie wissen wie jene, daß das Böse von außen kommt. Nie haben sie dem "Cafe Morgenland" eine kleine Demo am 23.3.96 in Lübeck verziehen, zu der sie dummerweise selber mit aufgerufen hatten. "Die Demonstration [in Grevesmühlen] wird mithelfen, genau das am Leben zu halten, was sie eigentlich kritisieren und angreifen soll. In dieser Einschätzung bestärkt uns das eigene Erleben der von auswärtiger Beteiligung geprägten Demonstration in Lübeck, auf der nicht einmal im Ansatz eine Vermittlung unserer politischen Inhalte an die Umstehenden gelang."
Arranca formuliert schließlich für das Lübecker Bündnis und alle anderen Antirassisten stellvertretend, warum jede Sorte schäbiger Vermittlung einem klaren Standpunkt vorzuziehen sei. Man wisse schließlich selber nicht, was man eigentlich tue. "Denn Klarheiten im Antirassismus gibt es so wenig wie antirassistische AktivistInnen... Noch so sehr kann mensch sich bemühen: Eine Klarheit ist in dieser Frage nicht so einfach zu haben, wie es von antinationaler Seite eingefordert wird."
Das Elend des Antirassismus wie des Antifaschismus besteht darin, daß beide sich ihre bereichsspezifische Beschränktheit zum Programm gemacht haben. Es kann durchaus sinnvoll sein, auch in der radikalen Linken arbeitsteilig vorzugehen und sich die Kritik bestimmter Ausschnitte des gesellschaftlichen Unheils zum Schwerpunkt zu machen. Doch wenn die Ausschnitte den einzelnen Sachbereichsarbeiter das Ganze vergessen lassen, ist es um ihn geschehen. Wenn er der gesellschaftlichen Totalität, die sich unter anderem rassistisch äußert, ausweicht und in der liebevollen Hinwendung zur partikularen Barabarei für die totale sich nicht mehr zuständig erklärt, wird er zum Fachidioten. Zugleich hilft er, die gesellschaftlichen Zusammenhänge für undurchschaubar zu erklären und verfällt auf die ordinäre Vorgehensweise des Ausdifferenzierens. So kehrt in eine Linke, die sich zurecht von stumpfsinnigen Ansätzen der ML-Bewegung abgewendet hat, zurück, was unsere Lehrer immer schon gesagt haben: "Hüte dich vor monokausalen Schlüssen". Noch aus den krudesten Versuchen des traditionellen ML, alles in seine Schablonen einzupassen um so alles erklären zu können, spricht mehr Bemühung um Wahrheit als aus dem Denkbrei jener, die sich nicht damit bescheiden können, daß ihnen nie ein Licht aufgehen wird, sondern ihre Denkfaulheit zu der Erkenntnis verdichten müssen, daß es keinen Lichtschalter gebe.
Am schlimmsten ist jene tiefe Verkommenheit, die mit der Einsicht kokettiert, daß man als Angehöriger der richtigen Nation, mit den von ihr behaupteten Rassemerkmalen, qua eigener Existenz an der Aufrechterhaltung der rassistischen Verhältnisse beteiligt sei. Die Selbststilisierung als von eigener Schuld gebeugtem Privilegierten, der zu lebenslanger Selbstreflexion verdammt, zu keiner Klarheit kommen könne, ist die schwer betroffene Erklärung, die Gründe für Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln und Lübeck nicht verstehen zu wollen, mithin für wirkliche Abhilfe nicht zur Verfügung zu stehen.
Der deutsche Konsens, den die zünftigen Antirassisten aufrecht zu erhalten helfen, hat die 200 Leute, die am 31.8. doch nach Grevesmühlen gegangen sind, der Polizei und dem Spott der faschistischen Jugend ausgesetzt. Gerade die Linken, die diese Demo ausdrücklich öffentlich in Verruf gebracht haben, tragen die Mitverantwortung für die Unterbringung dieser Leute in genau jenen Turnhallen, wo sonst Samstag nachts die betrunkene Jugend eingeliefert wird, nachdem sie wieder ein paar katholische Pfadfinder aus Celle auf dem nahegelegenen Campingplatz zusammengeschlagen hat. Sie haben die Reduzierung antirassistischer Kritik auf die periodischen Glaubensbekenntnisse der Prantls und Willemsens mit ermöglicht. Denn wie sagte schon das "Lübecker Bündnis": "So, wie die Aktion angelegt ist, halten wir sie für kontraproduktiv. Wir haben uns daher entschlossen, dafür weder zu mobilisieren noch selbst dorthin zu fahren."
Der alte Vorwurf gegen Antideutsche, sie seien praxisfeindlich, hat sich im Fall Grevesmühlen auf seltsame Weise bestätigt. Eine Demonstration, also das was sich ein Bewegungslinker als höchste Form politischer Praxis vorstellt, wurde von den opportunistischen Volksfreunden, die sich die linke Szene nennen, einfach zur Anti-Praxis erklärt, weil der faschistische Mob daran Anstoß nehmen könnte. Solange diese Leute das Sagen haben, wird politische Praxis sein, was sie seit bald 30 Jahren ist: Die feierliche Erklärung, bei allen deutschen Angelegenheiten unbedingt mitmachen zu wollen.
Bleibt nachzutragen, daß der jungen Welt ein ähnliches Schicksal nur durch eine Feuerlöschaktion Jürgen Elsässers in der letzten Woche vor dem 31.8. erspart blieb. Hätte Elsässer nicht im Alleingang Artikel und Interviews und schließlich einen Kommentar produziert, wäre sein Blatt so antirassistisch dagestanden wie das Lübecker Bündnis es ist. Der zuständige Redakteur Vogel hat sich selbst in der ersten Ausgabe nach der Demo vom 3.9. mit keinem Wort zur Sache geäußert und wärmte stattdessen eine alte Geschichte aus dem Spiegel in Sachen Safvan Eid auf.
Justus Wertmüller (Bahamas 21 / 1996)
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