Titelbild des Hefts Nummer 21
Wahn der Wirklichkeit
Heft 21 / Herbst 1996
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Von den sauberen Händen zur keltischen Sonne

Padanien – die Lega und die Linke

Sichtlich aufgebracht rief am Abend des 15. September 1996 der ehemalige Parteisekretär des PDS, Achille Occhetto, vor versammelter Presse aus: "Jetzt hat sich die Lega in ein Monster verwandelt!" Kurz zuvor war in Venedig das Politspektakel der Unabhängigkeitserklärung der "Republik Padanien" mit einer Art Bücherverbrennung zu Ende gegangen. Die in Phantasieuniformen gehüllten Aktivisten der Lega Nord, auch "Grünhemden" genannt, hatten ihre erste Aufgabe als "Padanische Nationalgarde", die ihnen der soeben selbsternannte Premierminister Padaniens, Senator Umberto Bossi, gestellt hatte, erledigt: Nicht nur hatten sie während der Verlesung der "Rechte des freien Padaniers" die italienische Trikolore eingeholt und statt ihrer die Flagge Padaniens gehißt (die auf weißem Hintergrund ein grünes keltisches Sonnensymbol trägt, das entfernte Ähnlichkeit mit einer hybriden Hanfpflanze aufweist), sondern auch einen großen Scheiterhaufen aufgehäuft und entzündet, der aus Insignien und Dokumenten des verhaßten römischen Diebesstaates bestand. D.h. hauptsächlich aus Quittungsheften (zum Nachweis bezahlter Rundfunkgebühren) des staatlichen Fernsehens RAI und Bescheiden des Landwirtschaftsministeriums, die den Erzeugern die zulässigen Produktionsquoten mitteilen.

Angesichts dessen mußte Occhetto, der immerhin als "Erfinder der Eiche" (1) gilt, einräumen: "Zuvor", d.h. vor der proklamierten Sezession Padaniens von Italien, "wurde die Lega gepriesen als prinzipieller Verbündeter gegen Berlusconi. Hier liegt eine offensichtliche Fehleinschätzung vor: Wir haben Bossi nicht bekämpft für das, was er repräsentiert." (Corriere della Sera, 16.09.96). War es möglich angesichts Umberto Bossis und seiner Lega Nord je zu einer Fehleinschätzung zu kommen?

Die drei padanischen Tage, das Wochenende vom 13. bis 15.9.96, an dem die theatralische Inszenierung einer Fahrt Bossis entlang des von ihm so bezeichneten Gottes Po der Republik Padanien zur Geburt verhelfen sollte, markieren mitnichten die plötzliche Verwandlung eines Dr. Jekyll in einen Mr. Hyde. Zweifellos zwar trägt die ganze Aktion in ihrem Versuch, eine neue Staatsmythologie zu etablieren einen hochgradig paranoiden Charakter, angefangen vom proklamierten ethnischen Gegensatz zwischen Kelten und Lateinern, sprich Nord- und Süditalienern bis zur Quellwasserentnahme auf dem "Plan Del Re" (der Hochebene, auf der der Po entspringt), um damit in Venedig die padanische Flagge zu weihen. Dieser Charakterzug aber kennzeichnete die Ligenbewegung von Anfang an. Die Lega Lombarda, die 1982 gegründete Urkeimzelle der heutigen Lega Nord, versuchte den lombardischen Dialekt zu einer eigenen Sprache hochzustilisieren, womit, nach der klassischen Definition der Nation als Sprachgemeinschaft, der Status einer autonomen Region à la Alto Adige (Südtirol) angestrebt wurde. Wie bei ihrem Vorbild sollten Steuerautonomie (2) und ethnisch-sprachliche Quotierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen bis zu Kneipenlizenzen gelten. Bei der Lega Veneto (Venetien), die sich 1991 mit der Lega Lombarda (und kleineren Regionalbewegungen Norditaliens) zur Lega Nord vereinigte, wurde die eigentlich unrühmliche Rolle, die der nicht umsonst so genannte "Weiße Nordosten" bei den Vereinigungungskriegen Italiens spielte, zu einer Art nationaler Leidensgeschichte umgedeutet. Diese Leidensgeschichte sei angeblich dem an sich habsburgischen Venetien unter römischer Knute widerfahren. Der Populist Bossi bedient sich zentraler historischer Schlagworte des progressiven Lagers, wie etwa des "vento dal nord" (Nordwind), der ursprünglich eine Umschreibung des Partisanenkampfgeistes war. Bossi hingegen propagierte unter diesem Stichwort die Zerlegung Italiens in drei autonome Großregionen (Nord, Zentrum, Süd), entsprechend den herbeidelirierten drei italienischen Völkern, oder die seit 1995 stattdessen favorisierte Zweiteilung in Padanien und die Appeninhalbinsel (wie er Restitalien im italienischen Spiegel-Pendant "L'Espresso" am 12.09.96 bezeichnete) zu propagieren. Dies alles könnte kaum einen Zweifel am "razzismo diffuso" der Lega begründen, zumal ihr ehemaliger Chefideologe Gianfranco Miglio auch nie einen Hehl daraus machte, wie ernst es die Lega mit ihrem Wohlstandschauvinismus meinte. Sein bereits 1993 erschienenes vieldiskutiertes Buch (3), das das Ende Italiens für 1996 prophezeite, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Der PDS im Kampf gegen die Lega?

Ochetto steht mit seiner Aufforderung, die Lega zumindest in Zukunft bekämpfen zu wollen, mittlerweile im PDS allein auf weiter Flur. Die Lega scheint dem PDS und der "Olive" so ans Herz gewachsen zu sein, daß man sogar der "Alleanza Nazionale", wie sich der MSI nach der Trennung von seinem Mussolini huldigenden nationalrevolutionären Flügel seit 1994 nennt, den Propagandaerfolg, sich als einzige antilegistische Kraft zu profilieren, überließ. Diese Gelegenheit nutzte Gianfranco Fini, Chef der AN, und Prototyp eines nationalliberalen Nadelstreifenfaschisten weidlich, um sich von 150.000 Demonstranten unter Absingen der Nationalhymne (und des alten faschistischen Kampfliedes "Boia, chi molla", zu deutsch ungefähr "Zum Henker, wer zurückweicht") in Mailand als Beschützer des Vaterlandes feiern zu lassen. Flau blieb nach diesem Auftritt die Ausrede des PDS-Innenministers Napolitano: "Auch wir hätten die Plätze füllen können, wollten aber Spannungen vermeiden." Eilfertig das Statement von Prodi, dem Regierungschef der Mitte-Links-Koalition L‘ulivo : "Der Wirbel ist vorbei, jetzt beginnt der Dialog." (La repubblica, 16.09.96). Damit blieb er seiner Linie des prolegistischen Werbens treu. Süffisant gab die am Sezessionstag unter den Legisten verteilte Propagandazeitung Il Nord, Quotidiano della Padania (Tageszeitung Padaniens) Einblicke in Prodis Buhlen um der Lega Gunst: "Die Lega ist eine äußerst interessante und wichtige Bewegung, die uns (d.h. dem PDS) sehr viel näher steht als die Rifondazione!" (4)

Was hat eine sozialdemokratische Regierungspartei, wie der PDS, gemein mit einem ethno-esoterisch sich gebärdenden Haufen von Stammtischsteuerrebellen? Massimo D'Alema, Parteisekretär des PDS, gibt eine auf den ersten Blick, nicht nur wegen der biblischen Metapher, überraschend anmutende Auskunft: "Die Lega ist eine unserer Rippen, sie ist die größte Arbeiterpartei des Nordens. Sie hat sehr viel mit der Linken gemein, sie und wir haben eine ähnliche gesellschaftliche Basis." (L'unita, 8.5.95)

Die Basis des PDS, früher des PCI, von der D'Alema spricht, ist regional so klar eingrenzbar, wie es auch in den Ursprungszeiten der Lega die Lombardei war. Der sogenannte "rote Gürtel", bestehend aus den Provinzen Emilia-Romagna, Toskana und Umbria; Gegenden, in denen seit Kriegsende der PCI immer die politische "Hegemonie" (Gramsci) besaß, und deren Regionalregierungen – nachdem in den 70er Jahren im Rahmen des Niedergangs der Staatspartei "Democrazia Cristiana" und des Strebens des PCI nach dem "historischen Kompromiß" auf Druck des letztgenannten die Regionen mit selbstgewählten Regierungen ausgestattet wurden – immer der PCI stellte. Zwar war und ist bis heute der institutionelle Rahmen des regionalen "autogoverno" (Selbstregierung) eng gesteckt – die Regionen verfügen über keinen eigenen Haushalt, sondern bekommen ihre Mittel von Rom zugeteilt, und alle regionalen Verordnungen treten erst nach dem Placet des Regionalbeauftragten der Zentralregierung in Kraft –, aber um des lieben Friedens willen ließ man in Rom die roten Regionen zumeist gewähren – und übernahm ihre Schulden als Staatsschuld.

Die Regionalisierung des Zentralstaates Italien war also ein Anliegen des PCI: Getreu der vom legendären Parteiführer der Nachkriegszeit, Palmiro Togliatti, ausgegebenen Parole, daß die Partei eine des Kampfes und eine der Regierung gleichzeitig sei (6), versuchte man, zumal der mythische "sorpasso" – das Überholen der DC – nicht gelingen wollte, zumindest auf regionaler Ebene das, was auf nationaler Ebene nicht möglich schien: Die klassische Arbeiterbewegungs-Zwangsvorstellung eines Staates der Arbeit in die Praxis umzusetzen. Dieser Staat sollte im Gegenzug für effektiv verausgabte Arbeitskraft die Anarchie des Marktes suspendieren, und den im Staat, i.e. der Partei, verkörperten Willen zum integrationistischen Welfare garantieren. Mit diesem Konzept der Musterregion, in der ein fleißiges Völkchen mit einer maßhaltenden, sauberen Regierung vorexerziert, daß puritanischer Kapitalismus und Sozialismus identisch sind, hatte der PCI also stets schon dem Wahn Vorschub geleistet, daß es allein an der Ineffektivität des römischen Zentralstaats läge, daß die Früchte der ehrlichen Arbeit nicht von denen verzehrt würden, die diese Arbeit geleistet zu haben sich einbilden.

Nach dem Zusammenbrechen der ersten italienischen Republik, vollendet durch den Aufstand der – von der Mailänder Staatsanwaltschaft angeführten – Saubermänner, zeigt sich zwischen Lega und PDS aber mehr als nur eine formale Vergleichbarkeit von auf Regionalismus setzenden Parteien: Der Legismus ist das folgerichtige, wenn auch illegitim scheinende Produkt der "antimonoplistischen Demokratie".

"Italien ist eine auf der Arbeit gegründete demokratische Republik"

Kaum irgendwo in Westeuropa hatte es dieses Konzept eines Bündnisses zwischen der organisierten Arbeiterklasse und den anderen produktiven Schichten des Volkes gegen die räuberisch-parasitären Monopolkapitalisten, das der Marxismus-Leninismus zur friedlichen Eroberung der Macht in den sogenannten hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften vorsah, so weit gebracht wie in Italien (6). Der Fetischismus der Arbeiterbewegung erblickte zwar überall in Europa im zweckrational organisierten Staat den Gegenpol zum irrationalen Markt. Dabei wurde dessen Irrationalität als Irrationalität persönlicher Art seitens der Kapitalistenklasse und ihrer egoistischen Interessen angesehen, die angeblich verhindern, daß die Produktivitätssteigerung der Arbeit den Arbeitern zugute käme. Der an sich neutrale, demokratische Staat müsse deshalb den Klauen der Zweckentfremder entrissen und in den Dienst des arbeitenden Volkes gestellt werden, das so auf demokratischem Wege mit Hilfe der Verstaatlichung die Übel des desorganisierten Kapitalismus beseitigen könne. In Italien aber, im Gegensatz zum restlichen Westeuropa, floß diese Auffassung in Staatsräson und Verfassung ein, deren Artikel 1 lautete: "Italien ist eine auf der Arbeit gegründete demokratische Republik."

In der Realität bedeutete das, daß die im Faschismus gegründete Staatsholding "Istituto per la Ricostruzione Industriale" (IRI) über den Zusammenbruch der Regimes hinaus Bestand behielt. Ihm gehörten die sechs größten Banken Italiens (bis 1994) ebenso an, wie (bis heute) die größten Teile der Stahl- und Werftindustrie, die Telefongesellschaft, die Ölgesellschaft AGIP, große Teile der Nahrungsmittelindustrie, die Elektrizitätsindustrie, Allitalia, die Rüstungsindustrie, RAI, Anteile an Chemie- und Textilindustrie etc.; alles in allem gehören ca. 35.000 Betriebe zum Bereich der Staatswirtschaft. (7)

Die Führungsebene dieser Staatsholding wurde vom politischen Beamtenapparat gestellt. Die DC unter De Gasperi, der ursprünglich gegen die Beibehaltung der Staatswirtschaft Vorbehalte anmeldete, versuchte sich durch die Postenvergabe eine Hausmacht gegen die eingebildete "kommunistische Bedrohung" zu schaffen. Allerdings wurde der Sektor der staatlichen Industrie in den 60er Jahren zum Motor des Infrastrukturprogramms für den Süden (und damit Haupteinzahler in die "cassa di mezzogiorno") und zum Modell für den Ausbau eines "Sozialstaates" nach nord-europäischem Vorbild. Im gleichen Maße spielte sich eine Form der institutionalisierten Interessenvermittlung ein, die bei der Postenaufteilung den gesellschaftlichen Proporz minutiös wiedergab, dementsprechend in den 70er Jahren auch den PCI und seine Gewerkschaften einbezog. Die schier unauflösliche Fusion aus Industrie und in Parteienform gegossenen gesellschaftlichen Kompromiß, die Italien zu einem Musterbeispiel für die sogenannte fordistisch-etatistische Nachkriegsära machte, nährte ihrerseits stets die fetischistische Fiktion, daß die gesellschaftliche Reproduktion eine von staatlicher Planung und politischem Willen abhängige Variable sei.

Die römische Partitokratie

Daß genau das Gegenteil der Fall ist, mußte auch der "keynesianische Leviathan Italien" (Bossi) (8) ab Mitte der 70er Jahre erfahren. Allerdings nicht in Gestalt eines Privatisierungsschocks wie in Großbritannien, sondern in Form gallopierender Staatsverschuldung. Da die politische Legitimation des Staates untrennbar verwoben war mit seiner die Fährnisse des Marktes ausgleichenden Rolle als Großunternehmer, andererseits der politische Apparat der Republik, allen voran die Parteien, unmittelbar sich aus der Staatswirtschaft finanzierte, bestand keine andere Option als die, immer einige eigentlich konkurrenzunfähige Industriekonglomerate aus dem Staatshaushalt zu subventionieren, um Konkurse und Massenentlassungen zu vermeiden. Die Staatsschuld wuchs von 1981 70,5 % des Bruttosozialprodukts auf über 120 % im Jahre 1994. (9)

In der Form der Staatsschuld aber erscheint die Krise auch als vom Staat verursachte. Figurierte der Staat anfangs als Mittel, um in politischer Form die Anarchie des Marktes aufzuheben , so verkehrt sich die Rolle des Zentralstaates nun zu der eines vampirartigen Parasiten, in dessen immer raffgierigeren Steuerklauen der aus der fleißigen Produktivität erwachsene Wohlstand verschwindet. Das Bewußtsein aber, das einst den Staat als Unternehmer forderte und heute als Räuberbande verdammt, blieb sich treu; treu in der pathischen Projektion, die den unpersönlichen Tatbestand, daß die konkret geleistete Arbeit durch das Nadelöhr des Tausches als abstrakt-allgemeine mit ungewissem Ergebnis hindurch muß, irgendeinem Personenkreis anlastet. Waren das zu Togliattis Zeiten die unproduktiven, beutelschneidenden Großkapitalisten, so ist es heute die "römische Partitokratie".

Der ursprünglich auf dem Mist des PCI gewachsene Regionalismus enthüllt so durch den legistischen Amoklauf seine wahre Bedeutung. Was mit gramscianischen Untertönen als Regionalhegemonie gegen die christdemokratische Dominanz im Zentralstaat begann, war in Wahrheit die Geburtsstunde des "postfordistischen homo oeconomicus" (10). In den infrastrukturell höher entwickelten Regionen nördlich des Tiber entwickelte sich unter den Auspizien der Stagnation der Staatsindustrie und des Rationalisierungsdrucks in der Großindustrie eine Sozialstruktur, die als "fabbrica diffusa" (zerstreute Fabrik) bekannt wurde. Unter Rückgriff auf traditionelle Formen der Familiarökonomie (11) erblühte in der Lombardei wie in der Toskana das Kleinunternehmertum der Schwitzbuden, in denen der "padrone" an der Seite seines Sohnes und zweier oder dreier Arbeiter zehn Stunden am Tag schuftet; das ganze ermöglicht durch zinsgünstige Kredite per Dekret der Regionalregierungen, für die letzten Endes der Staatshaushalt geradestand. Die Wiederauferstehung frühkapitalistischer Mythen des Erfolges aus eigenem Fleiß vermischt sich mit den Residuen parteikommunistischer Arbeitsmetaphysik und Regionalstolz zu einem Gebräu, das als Feind der eigenen "lavorositá" (Arbeitsamkeit) die unproduktiven Schmarotzer des Zentralstaates und der südlichen Regionen identifiziert. Nicht zuletzt blieb dieser Saintsimonismus von der "eurokommunistischen" Euphorie der späten siebziger Jahre übrig. Berlinguers Vorstellung einer "revolutionären Austerität" (12) verband bereits die kleinbürgerlich-puritanische Sparmentalität mit der Vorstellung von "Strukturreformen", die zuungunsten der Ausgaben des Zentralstaates gerechten Lohn für gerechtes Tagwerk in einer regionalisierten "revolutionären Volksdemokratie Italien" versprach.

"Die Legisten sind wahrhaftige Vulgärmarxisten"

Fremd bleibt der lokalistischen Borniertheit, komme sie nun "weiß" oder "rot" daher, folgerichtig alles, was über den Horizont der regionalen "fabbrica diffusa" hinausgeht: Steuern für den Zentralstaat werden ihr zu Raub, die institutionelle Interessenvermittlung zwischen den Parteien, Gewerkschaften und dem Unternehmerverband gilt schlicht als Korruption. Die 1991/92 anlaufende Kampagne der "mani pulite" (saubere Hände) war die Revolte der postfordistischen Kleinkrämerei gegen die Ruine des zentralisierten Sozialstaates. Eine Kleinkrämerei, die der legitime Nachfolger eines Bewußtseins ist, das immer noch das Staatspersonal mit dem Wirken des Äquivalententausches verwechselt. Die gerade auch am linken Flügel des PCI geschürte Mafia-Hysterie, die Richter zu Volkshelden machte, vollstreckte die Transformation des Fetischismus in Italien, die den Staat vom Allheilmittel zum Gift umdeklarierte – und immer im Namen der ehrlichen Arbeit agiert. Treffend charakterisierte die Leitartiklerin Manuela Cartosio, die sich unter die Legisten am Poufer gemischt hatte, diesen Bewußtseinszustand: "Um die Gaben des ,auserwählten‘ Bossi zu beschreiben, sagte einer, daß ,er es war, der uns zeigte, wo unser Geld verschwindet‘. In diesem Sinne sind die Legisten wahrhaftige Vulgärmarxisten." (il manifesto, 15.09.96)

Die Hände in Rom gehören momentan vermutlich zu den saubersten Europas – allein von der Erfüllung der Maastricht-Kriterien ist man genausoweit entfernt wie vor der autoritären Revolte, trotz gigantischer Einschnitte bei der Grundversorgung der Bevölkerung. Beim Anteil, den alle Formen von Arbeitslosenunterstützung am Staatshaushalt ausmachen, ist Italien mittlerweile mit lächerlichen 0,5 % sogar die Nummer 1 unter Europas Sozialsparern (La Nazione, 24.09.96).

Da die Regionalisierung der Politik, und damit ihre Ethnoföderalisierung, in Italien mittlerweile kaum mehr bestrittenene Geschäftsgrundlage gerade auch des PDS und der Olive geworden ist, haben sie dem sogenannten Bossi-Plan (13) zur Überwindung der Krise nichts substanziell anderes entgegenzusetzen. Bossi, der die Wirtschaftskrise Italiens darin begründet sieht, daß die die Innovationskraft des Nordens unterminierende Alimentierung des Südens nicht mehr in Form von Nachfrage indirekt auch dem Norden zugute kommt, sondern in den fernen Osten abfließt, schlägt die Einführung zweier Währungen vor. Die padanische Lira, die mit dem Kurs 500:1 zur DM in den europäischen Währungsverbund zurückgeführt werden soll, und die meridoniale Lira, die durch die Möglichkeit ihrer steten Abwertung geeignet sei, aus dem Süden eine Exportregion für Agrarprodukte und einfache Industriegüter zu machen.

Er grölt damit nur unverblümt heraus, worauf auch alle mit betulichem Klimbim vorgebrachten "Reformvorschläge" des PDS und der Olive hinauslaufen: Windet sich zum Beispiel Massimo Cacciari, ehemals Galionsfigur des militanten Operaismus in Deutschland und Italien, heute Bürgermeister Venedigs, mit seinen Vorschlägen eines postmodern gewandeten – um kulturelle Differenzen besorgten – Föderalismus, um Fragen seines Verhältnisses zur Lega herum (14), so werden seine wie Prodis Vorschläge zur Finanzreform auf Umwegen auch den Zielen der Lega gerecht. Sie sehen vor, daß jede Provinz Italiens einen annähernd mit Südtirol vergleichbaren Status erhält; 70 % der Einnahmen sollen der Provinz verbleiben, wichtige staatliche Sozialmaßnahmen, wie die Rentenversorgung, sollen in die Hände der Provinzen gelegt werden (15). Der Effekt ist klar: Ohne finanziellen Ausgleich durch den entmachteten Zentralstaat werden die Lebensverhältnisse in Italien krass auseinanderklaffen. Die jetzt schon weiterentwickelten Regionen werden zumindest informell an "Kerneuropa" angeschlossen, der Süden mag sehen, wo er bleibt.

Dessen Antwort läßt nicht auf sich warten: In manchen Wahlkreisen beträgt der Stimmanteil der AN bereits über 30 %. AN-Chef Fini plädiert für einen rigorosen "Presidenzialismo" – eine Entmachtung des Parlaments – um dem ganzen Land eine zentral-autoritär gelenkte neoliberale Roßkur zu verabreichen. Manch einer, der inspiriert von Brigantenromantik, auf eine Anti-Maastricht-Revolte des Südens hofft, wird dort dem immer länger werdenden Schatten Mussolinis begegnen.

Einzig die "centri sociali", besetzte Häuser und Kulturzentren in einem – in den Städten des Nordens und des Zentrums quicklebendigen Erbe aus den Zeiten der "Stadtindianer" – demonstrierten am padanischen Wochenende gegen Region und Nation. "Das Proletariat hat kein Vaterland" stand auf einem Spruchband, das der Demonstration in Mailand vorangetragen wurde, was ebenso verdienstvoll wie im historischen Sinn richtig ist. Daß hingegen die Gemeinschaft der Fetischisten und Arbeitsmetaphysiker zu fast jeder Untat im Interesse des "Standorts" in der Lage ist, muß man leider noch hinzufügen.

Uli Krug (Bahamas 21 / 1996)

Anmerkungen:

  1. "l'inventore della quercia", d.h. der Umwandlung des PCI in den PDS (Demokratische Partei der Linken), deren neues Symbol eine Eiche ist, deren Wurzel aus dem ehemaligen Hammer und Sichel-Emblem des PCI besteht.
  2. Steuerautonomie bedeutet, daß der autonomen Provinz gemäß ihrem prozentualen Steueraufkommen am Gesamtsteueraufkommen Italiens der entsprechende Prozentsatz an staatlichen Transferleistungen zugute kommen muß; außer Südtirol erfreut sich noch der benachbarte "Trentino" dieses Privilegs.
  3. Gianfranco Miglio: Italia 1996. Cosi è andata a finire, Mailand 1993.
  4. Aus einem Interview am 02.05.95. Die "Rifondazione Comunista" ist das kleinere Spaltprodukt des PCI. Ursprünglich das Sammelbecken notorischer "tradizionalisti" des ehemaligen Parteiapparates, wie Cossuta; seit der linke Gewerkschafter Fausto Bertinotti die Leitung übernommen hat, versucht die Rifondazione sich stärker an die Traditionen der verblichenen parteifeindlichen "proletarischen Autonomie"-Bewegung anzulehnen.
  5. Die offizielle Version wurde zuletzt von G. Cervetti niedergelegt: Partito di Governo e di Lotta, Rom 1977.
  6. Auszug aus einer Rede Togliattis vor der verfassunggebenden Versammlung 1946: "Meine Herren, wenn Sie dieses Zusammenfließen zweier verschiedener Auffassungen (Gewerkschaften und Partei einerseits, die katholische Sozialbewegung andererseits, U.K.) als Kompromiß ansehen, so tun Sie es getrost ... für mich ... handelt es sich ... um die Ausarbeitung der Verfassung nicht der einen oder anderen Partei, sondern (um) die Ausarbeitung der Verfassung aller italienischen Arbeiter und also der ganzen Nation." Zitiert aus: L.Colletti/L.Libertini/L.Maitan: Staat und Revolution – heute, Berlin 1970. Noch die ganze Staatssymbolik ist von dieser Arbeitsmetaphysik geprägt, und erinnert an den Realsozialismus: Zahnräder prangen überall, vom Emblem der Bahnhofspolizei bis zum 200-Lire-Stück.
  7. nach: Ferraris/Trautmann/Ulrich(Hg.): Italien auf dem Weg zur zweiten Republik?, Frankfurt 1995, S. 61ff.
  8. Manifesto Bossi, L'Espresso 12.09.96
  9. nach Ferraris a. a., S.72
  10. So bezeichnet E.Günther den Sozialtypus, der hinter der legistischen Ideologie steht in seinem sehr lesenswerten Beitrag "Farçe con Forza" in der "Jungen Welt" vom 10.09.96.
  11. Vgl. dazu die Thesen von Primo Moroni zur Entstehung der Lega Nord, deutsch in: Die Beute 2/94. Heute kommen nach statistischen Erhebungen auf 1000 Lombarden 70 (!) Unternehmer (La repubblica, 16.9..
  12. Besonders prägnant faßte dieses Konzept L.Soriente zusammen: L'Austeritá inanzitutto una politica di cambiamento (Austerity ist trotz allem eine Politik der Veränderung), in: Rinascita 6/78
  13. Manifesto Bossi, L'Espresso 12.09.96
  14. Vgl. das Interview mit M. Cacciari in: Zibaldone Nr.18, Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, 11/94. Cacciari ist in den letzten Jahren mit ethnopluralistischen Werken wie einer "Geophilosophie Europas" unangenehm aufgefallen.
  15. Vgl. Ferraris/Trautmann/Ulrich, a.a.O., S. 379ff.

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