Für die "Aufarbeitung" seiner Geschichte, die auch nach der Wiedervereinigung weitergeht, erntet Deutschland viel Lob. Ob von Daniel J. Goldhagen, der "kein anderes Land" kennt, das "so offen und konsequent" mit der eigenen Geschichte umgehe oder von Jan Philipp Reemtsma, der anläßlich der Eröffnung der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 19411944" in München bemerkte: "Die Rede von den ,furchtbaren Juristen ist akzeptiert. Die Deutsche Bank (...) öffnet ihre Archive." Für Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung spiegelt sich, wie er im Februar in New York vor Journalisten vortrug, in der Goldhagen-Debatte der Erfolg der deutschen Westbindung insofern, "als heute ein großer Teil der deutschen Bevölkerung die Norm und das Prinzip individueller Verantwortung bzw. Haftung akzeptiert." (1)
Das Prinzip individueller Verantwortung ermöglicht recht forsch klingende Töne. Am 17.11.1995 hielt Verteidigungsminister Rühe auf der Kommandeurstagung in München eine Rede zum Traditionsverständnis der Bundeswehr. Rühe führte aus: "Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front. Wir können diejenigen, die tapfer, aufopferungsvoll und persönlich ehrenhaft gekämpft haben, aus heutiger Sicht nicht pauschal verurteilen. Entscheidend sind Gesamtpersönlichkeit und Gesamtverhalten."
Fit for out of area dafür muß auch das Verhältnis zur Wehrmacht und zum verlorenen Krieg geklärt werden. So sprach auch Stoiber bei einem Empfang für Soldaten, die am IFOR-Einsatz der Bundeswehr in Bosnien teilgenommen hatten, über deren Tradition: "Daß sie von einem verbrecherischen Regime mißbraucht wurden, ist die persöhnliche Tragik jedes einzelnen unserer Väter und Großväter." "Schuld ist immer nur die Schuld des einzelnen." (Bayernkurier 8.3.97)
Über die deutschen Soldaten der SFOR-"Mission", die in Tirana landeten, um "deutsche und andere Staatsbürger" zu "retten", wie es hieß, und dabei im Kampfeinsatz 250 Schüsse auf Zivilisten abfeuerten, welche ebenfalls gerettet werden wollten, und dafür als "Helden von Tirana" gefeiert wurden, schrieb die FAZ (18.3.97): "Die deutschen Soldaten, die in Tirana schossen, sind nur biologisch die Urenkel und Enkel derer, die vor Verdun im Schlamm und vor Moskau im Schnee lagen."
Am gleichen Tag, als der Artikel der FAZ in Druck ging, zeigten die Enkel und Urenkel, daß sie auch ideologisch ihren Opas und Uropas bis ins Detail ähneln. Am 17.3. machte in Detmold eine Horde Grundwehrdienstleistender der örtlichen Rommel-Kaserne, die gerade für den SFOR-Einsatz in Bosnien ausgebildet wurden, mit Baseballschlägern, Messern und Klappspaten Jagd auf türkische und italienische Jugendliche. Rühe erklärte eilig, daß die Organisation Bundeswehr dafür nicht die Schuld übernehmen könne und daß die Bürger in Uniform bereits rechtsradikal geprägt in die Rommel-Kaserne gekommen sein müßten. Es leuchtet ja auch nicht ein, wenn Parteikollegen und Gewerkschaften in Ausländer-Raus-Stimmung machen, die bewaffneten Organe für diesen Zustand verantwortlich zu machen. Dennoch wurden die Angreifer, die nach eigenen Angaben "Rache" nehmen wollten und damit Sinn für Ehre bewiesen, in die prägende Gesellschaft entlassen. Es blieb bei der "Schuld des Einzelnen".
Im Gegensatz zur Bundeswehr ist die Wehrmacht wegen der "Verstrickung" ihrer Führung als Organisation angreifbar; aber auch hier gilt offiziell: Die Schuld ist im Einzelfall zu belegen. Da passiert es dann schon mal, daß mancher Wehrmachtsoberst als Namensgeber einer Bundeswehrkaserne für nicht mehr geeignet befunden wird: Als die Dietl-Kaserne in Füssen nach über 10jährigem Streit umbenannt wurde, begründete das Militärgeschichtliche Forschungsamt die Umbenennung damit, daß der Generaloberst Dietl, der "Held von Narvik" (fast so schön wie "Wüstenfuchs"), nicht nur für Unmenschlichkeiten in Wehrmachtsstraflagern verantwortlich war, sondern auch als Schinder entlarvt wurde, der seine Soldaten bei Murmansk in den Tod hetzte. Der Generalfeldmarschall kann deshalb kein Vorbild sein, weil er deutsche Soldaten "opferte".
Als Rühe seinen Spruch zur Tradition der Bundeswehr aufsagte, wurde die Ausstellung, die im März 95 in Hamburg eröffnet worden war, gerade in Wien gezeigt. Schon vor der Eröffnung zeterte das auflagenstärkste Blatt Österreichs, die Kronen-Zeitung (2): "Wir waren keine Mörder, sondern Menschen, die durch ein unentrinnbares Schicksal dazu bestimmt wurden, Soldaten zu sein." Drei Wochen vor der Eröffnung rief die Kronen-Zeitung zu Protestaktionen auf: "Ausstellung verleumdet ehemalige Soldaten! Veteranen empört Proteste erwartet." (3) Jörg Haider durfte da nicht beiseite stehen: "Wir werden es verhindern, daß die Gräber unserer Väter und Großväter (...) ,in Verbrecherfriedhöfe umbenannt werden." (4) Der Herausgeber des Wochenmagazins Profil resümierte dagegen: "Es ist unsere Vergangenheit. Das läßt sich auch nicht durch eine kollektive Amnesie des offiziellen Österreich vertuschen." Auch im konservativ-liberalen Kurier urteilte der Chefredakteur: "Das ganze Gefasel von ,pauschaler Besudelung unserer Soldaten nutzt nichts. Die Wahrheit ist zumutbar. Und sie macht frei." Wenige Tage nach der Eröffnung hatte die Ausstellung eine mediale Resonanz wie keine zweite in Österreich.
Über ein Jahr später, mit etlichen Vorgeplänkeln in anderen Städten, erreichte auch in der BRD die Auseinandersetzung über die Ausstellung in München einen vorläufigen Höhepunkt. Den Part der Luntenleger übernahmen Gauweiler und der Bayernkurier, den des Profil-Herausgebers übernahm der Spiegel-Herausgeber. Nach 6 Wochen werden in der Ausstellung in München 90.000 Besucher gezählt.
Entstanden war die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung im Rahmen des Vorhabens, eine Bilanz des "Jahrhunderts der Gewalt" zu ziehen. Als ein Aspekt moderner Destruktivität sollte die Ausstellung die "Realität eines großen Verbrechens" zeigen. Dieses Vorhaben wurde dann von seinen "Wirkungen überholt". (5) Die Ausstellung hätte als Ergänzung zu Rühes Aussagen verstanden werden können, daß die Wehrmacht "als Organisation, in ihrer Spitze, mit einzelnen Truppenteilen und mit einzelnen Soldaten in NS-Verbrechen verstrickt" gewesen sei. (6) In der Ausstellung hieß es allgemeiner: "(...) an allen Verbrechen und als Gesamtorganisation beteiligt." Allerdings zieht Reemtsma z.B. bei der Eröffnung in Wien eine einfache, aber ungeliebte Konsequenz: "Die Wehrmacht ist nicht nur eine Institution (...), sondern in wesentlich diffuserer Weise als ein Betrieb, eine Standesorganisation, eine Terroreinheit, Teil der Bevölkerung. ,Verbrechen der Wehrmacht sind von der Formulierung her Verbrechen des Jedermann, Verbrechen von Jedermanns Mann, Vater, Bruder, Onkel Großvater." (7) Der liebende Vater und Opa, die klapprige Seele, wird zum Helfer und Vollstrecker. Reemtsma sieht deshalb die Ausstellung auf das gleiche Thema zusteuern wie das Buch von Goldhagen, weil darin ebenfalls der "Zusammenhang von Regime und Volksgemeinschaft" thematisiert werde. (FR 14.4.97) Die aus der Erkenntnis, daß so viele an den Verbrechen beteiligt gewesen sind, entspringende Phantasie, es "hätten (...) alle gewesen sein können", werde, so Reemtsma mit der Suche nach der Ausnahme, einem ritualisierten "Nicht alle!" abgewehrt (8), wo es doch auf die Einsicht ankomme, daß es zu viele gewesen seien (FR 15.4.97). Die Ausstellung übt auf viele eine Wirkung aus, als würde zum ersten Mal über die deutschen Verbrechen informiert. Reemtsma hat bei der Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt zu Recht darauf hingewiesen, daß die Legende von der sauberen Wehrmacht schon seit den 50ern niemand mehr glaubte. Das deshalb gewissermaßen infantile Erschrecken wird von Reemtsma aber als wichtiges Element der Ausstellung benannt, denn das Erschrecken soll Verdrängtes befreien. "Sie hat wie ein Reiz gewirkt, der Geschichten zum Vorschein bringt, die abgekapselt waren, weggedrängt, verleugnet." (FR 14.4.97)
Die Auseinandersetzung verlor sich dann woran die Ausstellungsmacher nicht unschuldig sind in der unendlichen Weite individueller Beteiligung und Schuld, obwohl man doch begonnen hatte, von der Wehrmacht als Organisation zu reden. Bundespräsident a.D. Weizsäcker hat die darin liegende Gefahr erkannt und sich im üblichen Einerseits/Andererseits gegen die Ausstellung ausgesprochen: "Ohne Zweifel hat es auch innerhalb der Wehrmachtsverantwortung schwere Verbrechen gegeben. (...) Andererseits wird (...) ein Pauschalurteil gefällt, das historisch, moralisch und menschlich nicht aufrechtzuerhalten ist." Er benennt, was die Gutwilligen beherzigen sollten, historisch (nicht alle waren beteiligt), moralisch (nicht alle handelten aus "niederen Motiven") und menschlich (es geht um alte Leute).
Inzwischen ist die Chance erheblich gestiegen, daß man sich zu den "Nazi-Verbrechen" in den dafür entwickelten unverwechselbaren Wortschöpfungen bekennt. Als Beispiel dafür kann die Herzog-Botschaft "des Gedenkens, des Mitgefühls und der Trauer" über die "schuldhafte Verstrickung deutscher Flieger" anläßlich des sechzigsten Jahrestages der Zerstörung Guernicas am 26.4.97 angesehen werden. Auch anläßlich einer Rede zur deutsch-tschechischen Erklärung wurde Herzog antifaschistisch: "Das Geheimnis der Versöhnung heißt Vergebung, und deshalb wollen wir uns erinnern. Nicht als dauerhaften Schuldvorwurf, sondern als Verpflichtung für ein ,Nie wieder. All denen, die vergessen wollen, sage ich: nicht vergessen oder verdrängen, erinnern macht frei." (TSP 30.4.97) Dabei bekannte er sich als höchster Repräsentant der BRD zur "ganzen deutschen Geschichte", möchte aber nur "individuelle Schuld" sehen. Aus Protest blieben die Vertreter der jüdischen Gemeinden in Tschechien der Rede fern, weil dort, wo es sinnvoll ist, von individuellen Schicksalen zu reden, bei den anerkannten Opfern des NS (in Tschechien noch 9000, davon 2000 Juden), diesen eine individuelle Entschädigung verweigert wird.
Weil 1933, am Tag von Potsdam, das Bündnis zwischen dem deutschen Militär und dem NS besiegelt wurde, hielt die PDS es für angebracht, daß die Ausstellung nach ihrer Tournee (ca. 1999) auf Dauer in die Hauptstadt des preußischen Militarismus geholt werden solle. Nach einer Debatte im Potsdamer Stadtparlament, in der der entsprechende Antrag der PDS verhandelt wurde, stimmte die Mehrheit des Stadtparlamentes dagegen: "Unsere Stadt hat es nicht nötig, sich zu rehabilitieren" (Helmut Prybilski, SPD); "Die Wehrmacht war keine Verbrechertruppe (...) Das würde sonst für den Hauptmann Helmut Schmidt wie auch für den Hauptmann Richard von Weizsäcker gelten und auch für meinen Vater" (Hans-Jörg Pöttrich, FDP); besonders originell Brigitte Lotz (Bündnis 90/Die Grünen): "Die PDS hat da wieder einmal wiederholt, was wir 40 Jahre lang gehört haben: Daß das alles Verbrecher waren, überspitzt gesagt."
Der Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam hatte ebenfalls bekundet, daß er "keinen Bedarf" an der Übernahme der Vernichtungskrieg-Ausstellung habe. Die Ausstellung trage wenig zum "Konsens" bei. Wie ein Konsens um die Ausstellung aussehen könnte, wurde in Bremen anläßlich der bevorstehenden Ausstellungspräsentation zwischen SPD-Bürgermeister Scherf und dem Chef der CDU politisch ausgehandelt. In zeitlicher Nähe soll eine Ausstellung zum 20. Juli gezeigt werden und am Eingang zur Vernichtungskrieg-Ausstellung soll eine Tafel darauf hinweisen, daß die Mehrzahl der deutschen Soldaten an den Greueltaten nicht direkt beteiligt gewesen sei; der einzelne habe keine Chance gehabt, den Vernichtungskrieg Hitlers zu verhindern, deshalb sei es nicht zulässig, ein Pauschalurteil über alle 18 Millionen deutsche Soldaten zu fällen und sie als verbrecherisch abzustempeln. Durch den totalen Vernichtungskrieg seien normale Maßstäbe und Verhaltensnormen vielfach außer Kraft gesetzt worden; ferner soll der Verweis aufgenommen werden, daß die Bundeswehr nicht in der Tradition der Wehrmacht stehe. (FAZ 4.3.97) So wird aus der Aussage der Ausstellung, daß die Wehrmacht als Organisation an den Verbrechen beteiligt war, eine Ehrenbezeugung für die deutschen Soldaten im allgemeinen.
Im Gegensatz dazu stellt die Vernichtungskrieg-Ausstellung keine Unschuldsvermutung an. Nach Reemtsma wirkt die Ausstellung auf Wehrmachtsangehörige wie ein Schlüsselreiz, um Erinnerungen zu erzählen. Was Reemtsma den Zusammenhang von Regime und Volksgemeinschaft nennt, soll als "Erfahrung" reaktiviert werden. Nicht Erklärungen, sondern Erlebnisberichte sind beabsichtigt. An den Erzählungen werde deutlich, daß vom moralischen Differenzierungsvermögen abhängt, "was man an Tatsachen wahrzunehmen überhaupt in der Lage ist." (FR 15.4.97)
Die Ex-Wehrmachtssoldaten mögen sich als Verführte oder saubere Handwerker begreifen. Doch muß eine gutwillige Auseinandersetzung mit ihnen anerkennen, daß sie sich ebenso bedauernswerter, aber hinterhältiger Partisanen erwehrten, bevor sie selbst geschlachtet wurden.
Daß sich manchem jetzt die Zunge lockert, läßt sich kaum mit einem Reiz-Reaktions-Schema, wobei das auslösende Element die Ausstellungsbilder wären, erklären. Das hartnäckige Schweigen im "Gespräch zwischen den Generationen" verweist nicht einfach auf Traumata und Gewissenskonflikte, sondern mindestens ebenso auf opportunistisches Sich-dumm-stellen. Wenn heute die alten Kameraden reden, so auch deshalb, weil die allgemeine Bewußtseinslage eine verständnisvollerer Bewertung ihrer damaligen Nöte erwarten läßt. Ressentiments gegen Ausländer und der Ruf nach nationaler Arbeit weist manche Ähnlichkeit zur guten alten Zeit auf. Dazu kommt natürlich, daß ein Großteil des Spektrums, für das die 5000 Marschierer der Münchener Demonstration gegen die Ausstellung stehen, sich die Wehrmacht nicht trotz, sondern wegen ihrer Methoden zum Vorbild nimmt.
Ohne den staatlichen Zusammenhang hätte es sich bei den Eliminatoren um Mörder aus niederen Motiven gehandelt. Doch darf, wer seine Treue zum Vaterland unter Beweis gestellt hat, auch von diesem erwarten, daß ihm Ehre dafür zuteil wird. Deshalb kann mit den Mahnungen zum 20. Juli keine Verurteilung derer verbunden sein, die sich nicht am Attentat beteiligten.
Alles, was sich um die Ehre dreht, ist eine Frage der Sympathie und nicht durch Präsentation geschichtlicher Fakten zu erschüttern. Insofern kommt auch jede örtliche CDU damit aus, die "Einseitigkeit" oder die "Tendenz" der Ausstellung zu tadeln ebenso wie einige Ausstellungs-Befürworter dennoch die Motive der Soldaten achten. (9)
Der Ex-Wagenbach Mitarbeiter und heutige FAZ-Feuilleton-Chef Ulrich Raulff moniert in einem Interview mit Reemtsma (9.4.97) einen "terroristischen Beigeschmack" der Ausstellung und daß "ein so merkwürdiges Licht auf die Männer des 20. Juli" falle. Wichtiger aber ist ihm die Frage nach Reemtsmas Vater, dessen Kriegsgewinnlertum auf den Sohn abfärben soll: "Angesichts des Zigarrettenkonsums der Wehrmacht muß er doch enorm profitiert haben als Lieferant?" Raulff vergleicht den Göring-Mäzen und den Ausstellungs-Sponsor mit dem demagogischen Spruch "Jede Zeit hat ihren Reemtsma". Der Sohn soll ins faselnd gedenkende Kollektiv der Scham über die Verstrickung der Väter gezogen werden, statt auf der Seite der Kritik zu verbleiben. Nicht ums Verschweigen geht es, sondern um die Betonung der Deutschland schadenden Gemeinsamkeiten des NS-Täter-Vaters und des Sohnes. Kein Deutscher erhebe sich kritisch über Deutsche. Für die vorteilhafte Interpretation der deutschen Kontinuitäten gegenüber einer "richtenden Welt" ist man schließlich gemeinsam verantwortlich.
Auch gute deutsche Väter lassen sich gegen Kritik in Stellung bringen. Im Februar hielt der CDU-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Klaus Landowsky, eine vorbereitete Rede, in der es u.a. hieß: "Krimineller Abschaum ist mit Ausländern aus Rußland, Rumänien, Libanon, China und Vietnam" nach Berlin gekommen und "versammelt sich nun in der ersten großen Metropole des früheren freien Westens". Und: "Wo Müll ist, sind Ratten und wo Verwahrlosung herrscht, ist Gesindel!" Als die einkalkulierte Kritik tatsächlich anhob (neben Belobigungen im SFB "Dafür verdient der Mann ein Lob!"), machte Landowsky auf geknickt: Die Umdeutung seiner harmlosen Worte habe ihn persönlich schwer verletzt, wo er doch einen Großvater habe, der im KZ ums Leben gekommen sei.
Problembeladener sind andere, die solche Opfer nicht in der Familie haben. In einem Interview mit dem als Leiter der Vernichtungskrieg-Ausstellung fungierenden Hannes Heer durch die Junge Welt vom 12./13.4.97, wird auch die übliche Frage gestellt: "Was haben ihre Eltern zwischen 1933 und 1945 gemacht?" Heer: "Mein Vater (...) blieb Parteimitglied bis zum Ende des Krieges. (...) Er hat nie mit mir über den Krieg gesprochen, auch, als ich in den Sechzigern laut gefragt habe. Insofern war er ein typischer Vertreter dieser Väter-Generation." Auf die Frage: "Würden Sie die Ausstellung nach den bisherigen Erfahrungen wieder in der gleichen Weise konzipieren?" Heer: "Aber man kann diese Menschen [Vertreter der Kriegsgeneration, K.N.] nicht nur als Zuschauer, Teilnehmer an oder Mitwisser von Verbrechen bezeichnen, man muß gleichermaßen zur Kenntnis nehmen, daß sie selbst auch viel Leid, Todesängste und Verwundungen, Kameradentod, Gefangenschaft und so weiter erlebt haben. Wir haben aus dieser Ausstellung gelernt, daß uns zu Anfang die historischen Fakten [genau das, was die Ausstellung nach Ansicht ihrer Macher legitimieren sollte, K.N.] ein wenig zu stark imprägniert hatten, um auch die individuellen Schicksale wirklich wahrzunehmen." Heer versteht seine Tätigkeit nicht nur als pädagogische Anstrengung: "Und ich denke, so, wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust von zentraler Bedeutung für das Entstehen einer neuen politischen Kultur in Deutschland gewesen ist und uns auch im Ausland Respekt verschafft hat, so wird uns auch die Beschäftigung mit diesem Kapitel deutscher Geschichte helfen, die Tabus zu brechen, die Traumata auszusprechen. Vielleicht doch noch den Generationen-Dialog zu ermöglichen, der bisher nicht stattgefunden hat. Und vielleicht werden wir uns dann auch in diesem Punkt die Anerkennung unserer Nachbarn verdienen." Heers Absicht ist deutlich formuliert: Kritik an der Wehrmacht im Interesse Deutschlands und der "politischen Kultur".
Micha Brumlik vertrat in der TAZ (14.3.97) die These, daß heute den Siebzigjährigen aufgekündigt werde, "wofür sie nach dem Krieg gelebt haben: soziale Anerkennung und reines Gewissen." "Indem die Wehrmachtsausstellung die lange verdrängte Verantwortung der ganzen Generation einfordert, vollenden ihre Befürworter die Aufkündigung des Nachkriegskompromisses." Doch der angebliche Bruch zwischen den Generationen ist ein fixe Idee. Denn mit der Kritik hält das nachsichtige, verständnisvolle Gespräch Einzug.
Die Bundestagsdebatte am 13.3.97 über die Ausstellung war ein schönes Beispiel für den von Hannes Heer eingeforderten "Generationen-Dialog". Für Heer zeigte die Debatte denn auch, daß in der Bundesrepublik "der Grundkonsens erweitert worden" sei, da die Deutschen nicht nur die Verantwortung für die Ermordung der europäischen Juden, sondern mittlerweile auch für den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht übernähmen. Heer sprach von einer "epochemachenden Sitzung des Bundestages". (FR 18.3.97)
Bettina Gaus berichtete in der TAZ (15./16.3.97) euphorisch: "Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde jenseits aller Sonntagsreden, für eine kleine Weile tatsächlich als ein kollektives nationales Erbe begriffen. (...) Parteipolitik war kein Thema." Anders gesagt: man kannte keine Parteien mehr, nur noch ergriffene Deutsche. Konkurrierende Anträge von der PDS bis zur Regierungskoalition wurden einer interfraktionellen Vereinbarung gemäß in die Ausschüsse verwiesen, um die nach kontroversem Debattenauftakt gefundene gefühlige Gemeinsamkeit nicht durch parteifraktionelles Abstimmen zu stören. Es war eine Sternstunde deutscher Gemeinschaft, rhetorisch fiel man sich erleichtert in die Arme und so schloß als letzter Debattenredner Waigel mit den Worten: "Das, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist die deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit, auf die wir auch stolz sein können." (10)
Die Gesamtheit ihrer Geschichte hatte zuvor schon Erika Steinbach (CDU) gefunden, als sie den Großvater im KZ und einen Großonkel, der "der Euthanasie zum Opfer gefallen" ist, anführte und anschloß: "Mich ekelt die Überheblichkeit (aus der Ecke der Grünen) an, mit der Sie über ihre eigenen Väter und Vorväter sprechen. Das ist unserer Geschichte insgesamt nicht angemessen." Das ließ Christa Nickels (Bündnis 90/Die Grünen) nicht auf sich sitzen und erzählte dann in der nach ihrer Überzeugung "stilbildenden Debatte" einfühlsam von ihrem SS-Vater: "(...) ein gestandener Mann, der sein ganzes Leben schwer gearbeitet hat (...) er hat nie erzählt, wie es war, wenn man zum erstenmal auf einen Menschen schießt (...) habe es nicht gewagt, meinen Vater zu fragen (...) ich weiß nur, daß Papa im Krieg in Frankreich, in Rußland und in Polen gewesen ist (...) Es waren überwiegend Männer, die das Leben und Kinder liebten. Es ist furchtbar, zu was man diese Männer in diesem verbrecherischen Krieg gemacht hat (...) Ich glaube nicht, daß man ein Land lieben kann, wenn man nicht zuallererst gelernt hat, das Leben der anderen Menschen und auch sein eigenes zu lieben. Das ist mir wichtig zu sagen." Wessen Herz voll war, erzählte von sich und der Familie: der Bundestag als beispielgebende Encounter-Gruppe.
Unterbrochen von Pöbeleien hatte Dregger in der Debatte bemerkt, die "Neuaufstellung deutscher Streitkräfte" nach dem Krieg sei "zu einer grundlegenden Militärreform genutzt" worden. "So entstand (...), von erfahrenen Wehrmachtsoffizieren herangebildet unsere Bundeswehr, auf die wir stolz sind." Darauf probte Freimut Duve (SPD), wenn auch in verunglücktem Satzbau, folgende Geschichtsklitterung: "Es hat keine Militärreform gegeben. Vielmehr hat es eine Neugründung einer demokratisch legitimierten Armee gegeben. (...) Vielmehr gab es zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Militärs, das auf eine demokratische Verfassung vereidigt war." Dies "dürfen wir keine Sekunde vergessen." Doch mußte die Reichswehr, entgegen Duves Annahme seit 1919 Treue zur Reichsverfassung schwören. Dregger antwortete, daß er die Kritik "nicht schlankweg zurückweisen werde". Schließlich ging es ja darum, gemeinsam Schaden von der Bundeswehr und von Deutschland abzuwenden.
Wie die Auseinandersetzung um die Ausstellung zeigt, existieren in der politischen Klasse und der Öffentlichkeit zwei alternative Vorstellungen, wie die Geschichte erfolgversprechend, rationell, der deutschen Reputation dienlich, "aufgearbeitet" werden soll. Wenn z.B. gelegentlich über "Aktivisten und Fundamentalisten des plakativen Entsetzens" und deren "nationalem Selbstbezichtigungstaumel" hergezogen (FAZ 1.4.97) wird, entspricht diese Form der Abwehr einem politischen Konzept, wie es sich im EG-Papier von Schäuble/Lamers (September 94) findet, wo von der traditionellen deutschen Form der Befriedung in Europa gesprochen wurde, wenn der Erfolg mit anderen Mitteln nicht zu haben sei, und dem Postulat von Kohl, daß die EG-Politik eine Frage von Krieg und Frieden sei (Februar 96). Doch sollte man sich von diesem Gedonner nicht täuschen lassen: die softere Tour verspricht den größeren Erfolg, weswegen auch Gauweiler in der Minderheit bleibt. So meinte R.M. Müller in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10/1976: "Bei den Opfern sowie bei der richtenden Welt gibt es außer dem Wunsch nach Strafe auch das selbstverständliche Bedürfnis, die Täter zerknirscht und ihrer Untaten bewußt zu sehen." Dies setze "Bedingungen voraus, die auch Tätern Vergangenheitsbewältigung sinnvoll erscheinen lassen". "Wesentliche Forderungen der Kritiker sind heute erfüllt. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung hat eine ,Gedenkkultur hervorgebracht, in der das Ausmaß der deutschen Verbrechen nicht mehr bezweifelt werden kann. Aber die Kritiker entdecken irritiert die so gesetzmäßige wie unerträgliche Folge: Erhöhung des Büßers." "Die Deutschen sollten darauf bestehen, daß Vergangenheitsbewältigung Sache der Täter, also ihre Sache ist."
"Die Kampagne ist antipatriotisch"; dies mußte sich die Gauweiler- und die "Mein Uropa war kein Verbrecher"-Fraktion auch im Tagesspiegel (11.3.97) sagen lassen. "Wir haben, nach den notwendigen Haßausbrüchen von 1968, etwas dazugelernt: (...) Wir sollten uns und unsere Väter und unser Land nicht hassen. Es ist schwierig. Wir machen Fortschritte." "Es sind Adolf Hitlers Soldaten gewesen. Jede Kugel, die sie abfeuerten, haben sie für ihn abgefeuert, ob sie es wollten oder nicht. Es waren nicht unsere Soldaten, aber es waren unsere Großväter und Väter." "Was immer sie getan haben, wir trauern um sie. Ich zum Beispiel bin froh, daß mein Großvater den Krieg überlebt hat, was auch immer er getan hat. Die größtmögliche Beleidigung für ihn, und für mich, stammt von Peter Gauweiler und Petra Roth: daß die liebende Erinnerung an ihn nur um den Preis der Lüge zu haben wäre." Auch Gerald Häfner (Bündnis 90/Die Grünen) meinte im kontroversen Teil der Bundestagsdebatte: Es "hat kaum ein Politiker in den letzten Jahren diesem Land so schweren außenpolitischen Schaden zugefügt wie Gauweiler und seine politischen Freunde."
Die FAZ möchte in Absehung der Vergangenheit auch Reemtsma und Heer in einen Konsens einbeziehen: Amnestie gegen Amnestie sozusagen. Am 3.3.97 kritisiert sie in einem "Martern der Geschichte" überschriebenen Artikel die CSU wegen deren "Abwehrhaltung gegen die Austellung" und streicht, wie übrigens auch die SZ in ihren Münchner Vorortberichten, dagegen heraus: "Noch nie gab es das, daß eine Ausstellung Menschen dazu bringt, über die Schranken von Alter, Herkunft, Bildung hinweg, in ein gemeinsames Gespräch zu treten. Seit die Ausstellung eröffnet wurde, stehen auf dem Münchner Marienplatz vor dem Rathaus Gruppen von Debattanten. Meistens scharen sie sich um alte Männer. Der Platz ist zum Forum geworden."
Die Ausstellung verläuft also ähnlich erfolgreich wie die Verhüllung des Reichstages, die auch gegen massive Einwände von Traditionswächtern durchgesetzt wurde. Der Erfolg der Befürworter besteht im wesentlichen darin, daß sie zum Teil eines patriotischen Konsenses werden. So befördert die inhaltlich gute Ausstellung, für die sich viele Linke engagiert haben, einen "Antifaschismus zum Nulltarif" (11). Die Geschichte wird nicht verdrängt oder verschwiegen, sondern thematisiert, um sie desto sicherer zum Verschwinden zu bringen.
Herausstreichen individueller Schuld mit dem Effekt kollektiver Absolution: so verläuft die Auseinandersetzung mit der Vernichtungskrieg-Ausstellung. Schuld ist damit keine historische, die nach Erklärung verlangte, sondern eine auf individuelle Verfehlungen gründende pathologische Angelegenheit. Auf dieser individuellen Ebene scheint Schuld zuzuordnen und damit zu bewältigen zu sein, spätestens durch den Tod der Beteiligten. Die waren dann teils krankhafte Verbrecher oder bedauernswerte Verführte. Die weitgehende Austauschbarkeit der Handelnden, also das kennzeichnende der damaligen Volksgemeinschaft, geht dabei verloren. Was wir zur Zeit erleben, ist eine tatsächliche "Bewältigung der Geschichte" in einer Kontinuität der Unschuld.
Karl Nele (Bahamas 23 / 1997)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.