Titelbild des Hefts Nummer 24
Europa – Gemeinschaft der Feindseligen
Heft 24 / Herbst 1997
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Bruchbauerngesindel

Nationale Notstandsübung an der Oder

Deutschland besteht aus Kulturlandschaften – überall. Zur Kulturlandschaft gehört ein Menschenschlag, der von ihr geprägt ist und wiederum sie prägt. Von der besonderen Hingabe der Regionalbewohner an ihre Heimat kann das ganze Land lernen, wie gut man es hat, wenn man dort lebt, wo man herkommt. Gerade dort, wo Landschaft, Witterung und besonders miese Reproduktionsbedingungen den Bewohnern rasche Flucht nahelegen sollten, scheint lebenslänglicher Verbleib Ehrensache und beispielgebend für alle anderen. Mit der „Heimat“ Hunsrück hat Edgar Reitz ein abschreckendes Beispiel regionaler Bodenhaftung vorgeführt und das nicht etwa mit der aufklärerischen Intention, das naturverhaftete Vegetieren in der Provinz mit all seinen deformierenden Folgen für den Einzelnen zu denunzieren, wie es frühere bundesdeutsche Filme noch versuchten. Reitz handelte allein aus einem bösartigen, aber gerade darum Massenzuspruch garantierenden Vorsatz heraus. Er feierte das Vorzivilisatorische, das in deutschen Heimatregionen kollektiven Stolz produziert, als nationale Errungenschaft gegenüber allem Blendwerk ab, wofür hierzulande Vernunft und Schönheit stehen.

Trübseliger noch als der Hunsrück ist das Bundesland Brandenburg, und selbst in der Brandenburger Einöde gibt es Erfreulicheres als das Oderbruch. Eine böse Laune des Weltgeists hat ausgerechnet diese Vorhölle auserkoren, wegen eines bescheidenen Hochwassers zum Inbegriff deutscher Heimat zu werden. Diese Landschaft zwischen zwei Deichen, flach, von Quergräben durchzogen, mit ein paar Dörfern darauf, die an Hitlers spitzgiebelige deutsche Arbeitersiedlungen gemahnen, hat die Natur in einer barmherzigen Regung wenigstens für ein paar Wochen zudecken wollen – vergebens. Die Oder scheiterte an den Bewohnern der Siedlungshäuschen, fanatischen Heim-Betonierern, -Pflasterern und -Klinkerern, die ihre Behausungen zu unerträglichen Schmuckkästchen zurechtsanieren, an Leuten, die, weil zum großen Teil arbeitslos, befürchten lassen, daß sie weiterhin ihre staatliche Alimentierung in den Heimwerkermarkt und ins Gartencenter tragen, um so ihrer Umgebung endgültig den Rest zu geben. Die monadenhafte Sorge ums eigene Zeug, die diese Leute sonst umtreibt, konnten sie Ende Juli in termitenhaftes Gewusel zur Rettung der Heimat verwandeln. So verliehen sie ihrem Tun nationalen Rang und bekamen als prompte Belohnung für den selbstgesetzten Ausnahmezustand staatlichen Katastrophenschutz.

Ein Heimatdichter, der seit der Wende in FAZ und Spiegel für deutsche Dichtkunst steht, die dem Totalitarismus standgehalten hat, versuchte im Auftrag des Spiegel diesem randlosen Streifen industrialisierter Landwirtschaft etwas abzugewinnen. Doch selbst dem willfährigen Lohnschreiber Günther de Bruyn gerät die intendierte Huldigung der Heimat zur Denunziation. Um nicht von der Ödnis sprechen zu müssen, schaut er entweder nach oben, wo er „weiten Himmel, die im Herbst hindernislos dahinfegenden Winde“ gewahrt oder denkt sich ein fremdes Drittes hinzu, Skulpturen etwa. „Warum die Gegend (...) anscheinend besonders Bildhauer (gemeint war Arno Breker, jw) anzieht, ist nicht recht zu begreifen. Vielleicht kommen die kunstvoll geformten Steine in der Flachheit und Weite besonders zur Geltung, weil wenig da ist, welches das Interesse an ihnen ablenkt.“ In der Tat will so recht kein Interesse aufkommen für eine Landschaft, in der Ortschaften mit so verlockenden Namen wie Neureetz, Neurüdnitz, Zäckeritzer Loose, Neuwustrow und Neulitzegöricke zu finden sind; und was für die Landschaft gilt, trifft wie so häufig in deutschen Provinzen auch für ihr Genre zu. Hinterm Deich liegt die Oder, der vor 250 Jahren durch Flußbegradigung und Eindeichung das Bruch abgewonnen wurde, mit der Folge, daß die Auen- und Überschwemmungslandschaft, die den Reiz des Bruchs einmal ausgemacht haben müssen, einem – am Original bemessen – besonders faden Stück Neuholland gewichen sind und der Fluß seither aussieht wie ein besserer Industriekanal.

Gemeinnutz und Getränkemarkt

An der Oder stellte sich diesen Sommer die alte Schicksalsfrage: „Wo ist die Front?“ Und die Antwort erteilt die Katastrophenjournaille im Landsknechtsjargon: „Da vorne wo der Deich liegt, weich wie ein Drei-Minuten-Ei und brisant wie Dynamit“ (Stern 33/97). So hebt einer an, der mit Maik Brandenburg zeichnet und für seine Co-Autoren, die erkennbar aus anderen Gegenden stammen, den Pfadfinder ins widerspenstige Innere einer Gegend macht, in der Leute wie Hans-Joachim Kretschmar zu Hause sind („Jeder Stein, jeder Nagel hier ist durch meine Hand gegangen“). Der ist Bürgermeister von Neureetz und schon deshalb steht fest: „Nichts und niemand wird mich hier vertreiben.“ Über seine Mitbürger weiß er zu berichten wie ein Blockwart an seinen Kreisleiter nach erfolgtem „alliierten Bombenterror“: „Verdrückt haben sie sich nicht.“ Und, mehr noch: „Der Eigennutz ist weg. Die Kollegialität ist sagenhaft.“ Oderländer nennen sie sich und Kretschmar weiß: „Die Oderländer sind heimatverrückt.“ Für schöngeistige Leser sprichts der auf heideggerschen Holzwegen wandelnde Heimatdichter de Bruyn so aus: „Das mit Mühsal Errungene, unter Gefahren Bewahrte hat anscheinend eine besondere Bindekraft.“ Nähern wir uns einem jungen Oderbrücher, der die existentielle Sorge ums Zeug nicht so recht ausdrücken kann, den tiefen Inhalt aber lebt, Sven Abendroth (23) aus Pinnow. Der ist, statt „in Spanien am Strand zu liegen und nachts bei den Landestöchtern seine Sprachkenntnisse aufzubessern (...) jetzt mit dem blauen Laster der väterlichen Baufirma auf Schnorrtour ins Hinterland“ unterwegs. Als ihn mal ein Tankstellenbesitzer auf die Gepflogenheiten des Warenverkehrs hinwies und „150 vorgebackene Baguettebrötchen anfangs nicht umsonst rausrücken will”, hat Sven ihm eine Lektion in Gemeinnutz erteilt, die dem Mann von der Tankstelle in Erinnerung bleiben wird. „Spinnste, Mann? Die Jungs da draußen reißen sich den Arsch uff, und du kannst nicht mal ein paar Brötchen spendieren? Geizhals.“ „Eine Ausnahme”, fügt lapidar Maik Brandenburg hinzu, wohlwissend, daß im Oderland der Straßenräuber für den Gemeinnutz, dieser Michael Kohlhaas der Kriegswirtschaft, gerade nicht die Ausnahme ist. Der Autor des gleichnamigen deutschen Erbauungsbuches über die autoritäre Revolte für den starken Staat war übrigens auch einer von ihnen.

Was hätte geschehen können, wenn Sven aus Pinnow nicht allein, sondern in Begleitung seiner Kumpel Ronny B., Andy V. und Tony S. mit dem blauen Laster vorgefahren wäre, wurde mitten in der Katastrophenzeit in Frankfurt, der Hauptstadt der Region, verhandelt. „Zahlreiche Straftaten, mehrere Schwerverletze – monatelang haben drei Skinheads die Oderregion terrorisiert.“ (Tagesspiegel, 1.8.) Als die auch einmal bei einer Tankstelle in Beeskow vorfuhren, griffen sie vier Jugendliche an. Andy und Tony bekamen, weil minderjährig, Vorstrafen und je 100 Stunden gemeinnützige Arbeit aufgebrummt, die sie vielleicht dort, wo bis zu 10.000 von ihnen in der „Sandsack-Infanterie“ (Spiegel, 32/97) Dienst taten, abgeleistet haben. Ronny B., der, weil schon 21, nicht mithelfen durfte, sondern ins Gefängnis mußte, meint: „Wenn ich nüchtern bin, tuts mir leid.“ Daß es den Ronnies der Region nie leid zu tun braucht, dafür tragen nicht wenige Oderländer Sorge. Wenn sie keine väterliche Baufirma im Rücken haben und auch nicht Dichter oder Bürgermeister sind, machen sie es gern wie der Lebensgefährte von Sybille Stritzke, der „in der früheren LPG-Scheune am Rande von Wiesenau den ,Billig-Getränkemarkt‘ betreibt.“ (Spiegel 32/97) Über seine Sybille erfahren wir, daß sie in der Ernst-Thälmann-Siedlung wohnt und arbeitslos ist. Ein paar Zeilen weiter heißt es dann: „Die Stritzkes haben Haus und Hof verloren, ihre bestellten Felder sind überflutet. Nur das Vieh und 20 km Handgepäck haben sie retten können.“ Der Bezug von Arbeitslosengeld in Verbindung mit aktiv ausgeübter Landwirtschaft im Familienbetrieb ist ein klarer Fall von Sozialleistungsmißbrauch. Doch selbst dieses im Grunde sympathische Verhalten wird an der Oder zum Schrecknis. Die Selbstverständlichkeit nämlich, mit der die Stritzkes der Region darauf vertrauen, nicht als Sozialschmarotzer angeprangert zu werden, verweist auf eine besonders triumphalistische Staatsbürgermentalität. Die aus Zonenlarmoyanz und grenzländischer Wehrhaftigkeit gegen „Asylbetrüger“ gebraute Opfergesinnung erfährt eine Verstärkung dadurch, daß man sich als „Katastrophenopfer“ präsentiert und sich aufgrund dieses Status als unverzichtbaren Statisten in einer nationalen Inszenierung begreift. Man weiß sich mit dem Staatsziel einig und glaubt deshalb zurecht, in Friedenszeiten eher peinliche Wahrheiten ungestraft auszusprechen zu dürfen.

Daß die Freunde von Ronny, Sven und dem Eigentümer des „Billig-Getränkemarkts”, die 10.000 Jungs von der Sandsackinfanterie, irgendwie alle wie Skinheads oder andere Mörder aussehen, springt sofort ins Auge. Ob es sich um Wehrdienstleistende handelt wie diejenigen, die die Detmolder Ausländerhatz veranstaltet, das Einsatzvideo für Bosnien gedreht oder kürzlich in Dresden die Behausung italienischer Arbeiter abgebrannt haben, oder um Angehörige ausländischer Killerbrigaden, von den US-Marines über Fremdenlegionäre bis hin zur Bande des kroatischen Freiheitskämpfers Mate Boban: Sie gleichen sich nicht nur in ihrem Skin-Haarschnitt. Der abenteuerlich wirkende, traditioneller Militärdisziplin scheinbar widersprechende legere Landsknechtslook der Sondereinheiten moderner Kriegsführung, die ähnlich wie die postfordistische Industrie grenzenlose Selbstverwirklichung verspricht, kleidet eine jederzeit abrufbare Truppe von Hochleistungstätern für die Gemeinschaft. Diese jungen Männer, von denen man weiß, daß sie „motiviert bis zum Umfallen“ sind und sich „an der Oder gerade halb so oft krank melden wie in der Kaserne”, sind selbst höheren Orts unangenehm aufgefallen, wo einzelne anscheinend immer noch versuchen, einen Unterschied zwischen den Seite an Seite schaufelnden heimatverrückten Oderländern und Bundeswehrangehörigen aufrechtzuerhalten. Hören wir dazu weiter den Frontberichterstatter Alexander Kraft vom Stern (32/97): „Und nur einer hat sich beklagt: Aus dem Heeresführungskommando rief ein General aufgeregt beim Einsatz-Stab an, weil er im Fernsehen Männer ,mit Kopftüchern wie Rambo‘ und nackten Oberkörpern gesehen habe. Da hat der ganze Deich gelacht.“ Was der Tankstellenpächter von Sven Abendroth zu hören bekam, hört der General vom „ganzen Deich“: Jetz is Kriag, da gibts koa Würschtel.

Kampf am Kulturdeich

In der Stunde der Bewährung, als sie von Helfern und Pressebataillonen umgeben waren, bewiesen die Oderländer noch mit ihren skurrilsten Taten, daß sie wenigstens in den Zeiten des Notstands mehr von Gemeinsinn und historischem Auftrag verstehen als ihre westlichen Brüder. Wenn sie mit Sandsäcken nach Politikern schmissen, weil sich die Kameras bei deren Erscheinen einmal nicht auf ihre schwitzenden Leiber und öden Gesichter richtete, führten sie vor, was sonst nur Heeremanns protestierende Bauern zu leisten vermögen, ohne jedoch wie diese in den Verdacht zu geraten, lediglich Subventionen abziehen zu wollen. Der Heimatdichter de Bruyn schildert eindrucksvoll, aus welchen Quellen Politikverdrossenheit in Deutschland sich speist. Als die Naziprominenz wie Speer, Ribbentrop und Breker im Frühjahr 1945 aus ihren Landsitzen im Bruch Reißaus genommen hatte, hat sich bei den Oderbrüchern, die Fontane in einem lichten Moment „Bruchbauerngesindel“ hieß, die Erkenntnis festgesetzt, „daß politische Prominenz in Schönwetterperioden kommt und bei Gefahr bald wieder geht.“ Diese Provinz, die ihr Gründer Friedrich II als einzige im Frieden dazugewonnen haben will, versteht sich als Frontlinie gegen den Fluß und – seit 1945 – als Kulturdeich gegen die, die dahinter leben. Seine Bewohner, ursprünglich Neubauern, die für märkische Verhältnisse als Berlinzulieferer in der Mehrheit recht auskömmlich auf privatem Boden lebten, hatten ihre schweren Jahre erst nach der Zeit erlebt, als Ribbentrop bei ihnen seinen Landsitz hatte. „Man flüchtete wie überall in der DDR aus poltischen Gründen, bei den Repressalien gegen die Bauern Anfang der 50er Jahre, bei der Zwangskollektivierung um 1960, nicht aber weil die Hochwasserdrohung einen vertrieb“ (de Bruyn). Als am Ende des zweiten der schlimmen 44 Jahre einmal ein Hochwasser kam, das zwar auch keine Katastrophe war, aber doch eine Überschwemmung, machte die Rote Armee, zu deren Verpflichtung es weiß Gott nicht gehört hätte, irgendwelchen Nazis zu helfen, eine ähnliche Erfahrung wie 50 Jahre später die Polizei. Weil „viele Leute Haus und Vieh nicht im Stich lassen wollten oder aus Angst vor Verschleppung auf die Fahrzeuge der hilfeleistenden Russen nicht steigen wollten, mußten Tausende auf Hausböden oder auf Dächern tagelang ausharren.”

Was früher die Angst vorm Russen war, ist heute die vor den Plünderern, die den Bodenständigen an die Scholle fesselt oder über seine Evakuierung schimpfen läßt. „Ein Gerücht hat sich schnell verbreitet: In Berlin sollen sich Diebesbanden Schlauchboote besorgt haben, genau wie 1947. Die Bewohner des Oderbruchs bleiben vorsichtig und skeptisch.“ (Tagesspiegel, 28.7.) Selbst biedere Ökologen geraten in den freilich unbegründeten Verdacht, späte Nachfahren der Roten Armee zu sein: angesichts des Vorschlags, große Teile des Bruchs einfach aufzugeben und die sogenannten Schlafdeiche im Hinterland anstelle der vorderen zu nutzen, zeterte de Bruyn über diejenigen, die „das Werk Friedrichs des Großen zurücknehmen“ wollten und warnte vor einem „grünen Extremismus”, der zur Folge habe, daß „wir dann 20.000 Heimatvertriebene mehr hätten.”

Wer seine Heimat als eine Gründung des preußisch-autoritären Staates lieben gelernt hat, empfindet lediglich den Rückzug der schützenden Hand als bedrohlich, nicht etwa den Fluß, der ihnen immer schon kalkulierbar erschien. Die Fluten, die man abwehren will, sind gesellschaftlicher Natur und mit dem Staat hat man zu diesem Zweck immer gern fraternisiert: wie man Ende Juli mit staatlicher Unterstützung Sandsackmauern aufschichtete, hatte man vorher mit dem BGS beim Aufspüren und Ausliefern von Flüchtlingen zusammengearbeitet.

Sandsack und Sisyphos

Die elementare Erfahrung, die man mit der Natur macht, ist eben eine mit deutscher Natur und die vereinigt Fluß und Heimat, Scholle und Schicksal. Dieses Wissen haben uns die Oderländer voraus: „Sie wissen, daß der Mensch seiner Umwelt viel abverlangen kann, aber auch, daß die Natur gelegentlich hart zurückschlägt. Diese elementare Erfahrung können andere jetzt erst machen. Und dies wird – zwar gewiß nicht in den Stunden höchster Not, aber womöglich dann, wenn endlich Entwarnung gegeben werden kann – den ein oder anderen, der geholfen hat, das Wasser zu bändigen, ein wenig glücklich machen“. So beantwortet Monika Zimmermann im Tagesspiegel vom 3.8. die von ihr selbst gestellte Frage: „Muß man sich auch die Helfer an der Oder als glückliche Menschen vorstellen?“ Bemerkenswert, wie Frau Zimmermann es fertigbringt, angesichts des lärmenden Trubels der kollektiven Sandsackschlepperei, mit Schwertransportergedröhn im Rücken und Hubschrauberlärm darüber, mit militärischen Befehlen und dem spezifischen Humor der Mitmacher bei einer Notstandsübung (besonders schwere Sandsäcke nannte man „Sausäcke”), von der „Stille, in der sich die Hilfsmaßnahmen vollziehen“, zu fabulieren. Daß das Geraune von Glück, Stille und Einkehr, das da unter der Last existentieller Herausforderungen sich einstelle, nicht ohne schwerphilosophische Begründung abgeht, ist klar. „An das vermeintlich sinnlose Tun von Sisyphos wird man erinnert angesichts der Hochwasserkatastrophe an der Oder.“ Und laut Camus „müsse man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Camus hatte recht, wenn er die individuelle Bemühung für egal welchen Zweck in der spätkapitalistischen Gesellschaft als sinn- und ziellos beschrieb, und er hatte als Ideologe der Gesellschaft ohne aktive Helden wiederum recht, daß er die Einsicht in das eigene Verurteiltsein zur vollständigen gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit als individuelles Glück adelte. Die Tagesspiegel-Autorin wollte Camus den Nihilismus austreiben und vom französischen zum deutschen Existentialismus voranschreiten, also der gesellschaftlichen Absurdität den Auftrag zum bedingungslosen Mitmachen abgewinnen. Ihrem Camus jubelt sie die deutsche Vorstellung von Katastrophe unter. Deutschen ist Katatstrophe nicht eine Methode des Theaters, das den Schrecken inszeniert, um ihn in der Realität zu bannen, sondern Beschwörung des Unheils als nationaler Auftrag. Ihnen erscheint das ganze Volk als dem Untergang geweihter kollektiver Held seinem unausweichlichen Schicksal zutreibt und deutsche Katastrophe im 20.Jahrhundert heißt immer noch Stalingrad. Die Journalistin weiß, daß das von Goebbels inszenierte und vom ganzen Volk geglaubte Heldentum von Stalingrad für den deutschen Wiederaufbau nach 1945 funktional war. Ein von beiden deutschen Staaten willig aufgegriffener Stalingradersatz war die Arbeit der Trümmerfrauen, jene verstockte Plackerei, in der das Schweigen über begangene Untaten genauso liegt wie die finstere Entschlossenheit, sie bei Gelegenheit wieder zu begehen und die deshalb auch heute noch beispielgebend ist: „Wie da die Sandsäcke von einer Hand in die andere weiter und immer weiter gereicht werden, bis sie schließlich an der Stelle sind, wo sie gebraucht werden – diese Bilder des Zusammenstehens kennt man aus der Nachkriegszeit, als Trümmer Stein für Stein abgetragen und von Hand zu Hand gereicht wurden“. Trost wird den Oderbruch-Helden zuteil, obwohl sie doppelt keine waren. Ihre kollektive Aktion wandte sich gegen keine wirkliche Bedrohung, und die Tätigkeit der Arbeitsameisen hatte nur solange Sinn, wie die Medien das Hand-in-Hand in der konkreten Aktion hochleben ließen. Das kollektive Glück, das die dilettierende Existenzphilosophin vom Tagesspiegel ihnen so gerne andichten möchte, werden sie allenfalls bezogen haben aus der körperlichen Anstrengung unter Bedingungen der Hitze und einem Besoffensein, das wohl nicht nur auf die Droge Nation zurückzuführen ist.

Arbeitseinsatz und Abgreifen

Das, was die ganze Aktion befördern sollte: das Zusammenwachsen der Nation, das Erkennen der gemeinsamen nationalen Verantwortung, hat von den Millionen Zuschauern keiner geglaubt. Die wollten zurecht den Deichbruch, eine Anzahl ersoffener Helfer, Oderbrücher und Viechszeug, also daß die vollmundig angekündigte Katastrophe endlich einträte. Und doch: Der Unglaube in den nationalen Helden, der sozusagen stellvertretend schafft, was der Normalgang der Krise nicht im Angebot hat, ist gleichwohl ungeglaubter Glaube des Zuschauerkollektivs. Die Wertschätzung der Gemeinschaftsarbeit Hand in Hand, die sich im Gegensatz zur verteufelten abstrakten Wertschöpfung konkret gegenständlich in ordentlichen Sandsackmauern äußert; die Außerkraftsetzung des Alltags durch den Quasi-Notstand, der Sven Abendroth seine Raubritterfahrten erlaubt und aus Kneipenwirtinnen Königinnen der Gulaschkanone macht; der Volkszorn gegen den unnützen Voyeur, der sich einmal sogar erdreistet hat, zu Souvenirzwecken einen Sandsack zu stehlen, also durch sein Nicht-Mitmachen die Blödigkeit der Arbeitsleistung manifest werden läßt – all diese beängstigenden Ingredienzien des ziellosen Heldentums, das die kriegswirtschaftliche Zwangsvergesellschaftung herbeisehnt, die nur Vernichtung oder, als Vorbereitung derselben, das kollektive Sandschippen kennt, verbanden Zuschauer und Aktivisten eben doch. Anders jedoch als beim Zwangsdienst der Nazis, wo man im Dienste des Volkes mit dem Spaten antrat und sich stets sicher sein konnten, wirklicher kollektiver Held zu sein, also auf Stalingrad genauso hin zu schippte wie auf Auschwitz, liegen in der medial inszenierten Gemeinschaftsarbeit an der Oderflut zwar alle Elemente für die faschistische Krisenlösung bereit.

Warum aber vorerst nichts daraus werden wird, verrät uns, pars pro toto, ein Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 21.8. Dank überquellender Spendentöpfe (300.000 DM für jeden betroffenen Häuslebauer errechnete die FR) an der Oder und im ganzen Land bricht eine neue Gefahr aus: „Die unerwartete Spendenflut (!) provoziert Fragen nach Gerechtigkeit, und Neid heißt die neue Gefahr an der Oder“ . Geprellt fühlen sich die Spender, denen der Gegenwert in Tod und Vernichtung versagt blieb. „Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern haben ihr Scherflein gegeben in Erwartung einer Katastrophe, die wie durch ein ,Wunder‘ nicht eingetreten ist.“ Im Bruch herrscht derweilen „gespenstische Stille zwischen den Menschen”, denn „jeder wartet auf sein Geld und beäugt mißtrauisch den Nachbarn und den Zettel, den der in der Hand hat, mit Zahlen drauf“. Die unter der leutseligen Zonen-Mine rumorende Abgreifgesinnung scheint die Verdichtung der Gemeinschaft zum Staatsprojekt zu sabotieren. Ein Trost ist das freilich nicht. Günter Kikal vom Amt Brieskow-Finkenheerd weiß die darin beschlossene Drohung zu formulieren: „Gerechtigkeit, darin steckt viel Brisanz.“ Gerechtigkeit war immer schon der Schlachtruf, mit dem sich germanische Sisyphosse ins kollektive Heldentum stürzen. Bis auf weiteres werden sie diese Sehnsucht in ihren Regionen ausleben, und gnade Gott den tamilischen Flüchtlingen, die demnächst mit dem Schlauchboot über die Oder setzen und nicht dem BGS, sondern patrouillierenden Neureetzern in die Hände fallen.

Justus Wertmüller (Bahamas 24 / 1997)

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