Titelbild des Hefts Nummer 24
Europa – Gemeinschaft der Feindseligen
Heft 24 / Herbst 1997
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Österreich bleibt deutsch

Nazis kommen und gehen – Sozis bleiben

"Wir finden zwei Typen, die der Nationalsozialismus entwickelt hat. Den Typus des Hitlerjungen und im Gegensatz dazu den des Schlurfs, und leider muß man sagen: Wenn der Hitlerjunge immerhin den kollektiven Gedanken verkörpert, so verkörpert der Schlurf den Individualisten, also denjenigen, der sich in Opposition zum Nationalsozialismus entwickelt hat. Der Hitlerjunge ist für uns noch viel annehmbarer als der individualistische Schlurf, und es ist nun schwer für uns, aus dieser Jugend eine wirkliche sozialistische Jugend zu machen" (1). Diese Einschätzung traf der Obmann der Sozialistischen Jugend (SJ) der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) auf ihrem ersten Nachkriegsparteitag 1945.

Es erstaunt schon ein wenig, daß sich eine Partei, die ab 1934 sowohl den Austrofaschismus als auch den Nazifaschismus scheinbar kompromißlos kritisiert und die Volksfront-Taktik der KPÖ notorisch zum Verrat an der revolutionären Sache erklärt hatte, nach Jahren der Illegalität und Verfolgung sich stärker zu den Nazis hingezogen fühlte als zu jenen jugendlichen "Schlurfs", die durch ihren Lebensstil dem Kollektivitätsterror eine Absage erteilen wollten. Der durchaus positive Verweis auf forsche Jugenderziehung meinte jedoch weit mehr als nur ein taktisches Eingehen auf ein gerade noch um Loyalität zu den Nazis bemühtes Österreich, das besonders in der Judenverfolgung vom Pogrom 1938 bis hin zur Beteiligung an Deportationen und Vernichtung als überdurchschnittlich aktiv hervorgetreten war. Im Wunsch, unter demokratischem Vorzeichen an die Erfolge der Nazi-Erziehung anzuknüpfen, kommt vielmehr jene stille Bewunderung des österreichischen Sozialismus für den deutschen Faschismus zum Ausdruck, der repräsentierte, worum sich die österreichische Sozialdemokratie Zeit ihres Bestehens bemüht hatte: "Die Arbeiter sind nicht gute Deutsche, aber wir kämpfen darum, sie zu guten Deutschen zu machen!" (2).

Ihr Klientel, das variable Kapital, mit dem unmittelbar gewälttätigen Garanten der kapitalistischen Ökonomie so zu versöhnen, daß sie sich zukünftig mit Recht als Teil des Ganzen, also als Staatsbürger verstehen, war die eigentliche Mission der Arbeiterparteien. Wer sich aufmacht, bislang lediglich passiv von der Staats- und Rechtsordnung Betroffene zu aktiven Staatsbürgern zu transformieren, kommt dabei nicht umhin, die tatsächlichen und ideologischen Gegebenheiten, die die jeweilige Nation bestimmen, sich zu eigen zu machen.

Die Geschichte jeder Nation ist negativ zunächst die von Unterwerfung und Einebnung regionaler Partikularitäten und positiv die Etablierung eines rational sich gebenden kollektiven Partikularismus, der von der bürgerlichen Ideologie mit Nationalgefühl oder nationaler Mentalität umschrieben wird. Darin drückt sich aber mehr aus als nur die den Subjekten übergestülpte Ideologie der historischen Sieger. Nationalgefühl ist die Anverwandlung des Zwangs in kollektiven Charakter, die Identifikation mit dem Schicksalsweg des eigenen Volkes. Es ist in Ideologie übersetzter, sublimierter Zwang und zugleich die Hoffnung auf die Einlösung des Versprechens, als an Rechten gleiche Staatsbürger im Unternehmen Nationalstaat gemeinsam mit den anderen Volksgenossen seinen Schnitt machen zu können. Sozialdemokratien verstärken dieses egalitäre Element des Nationalismus und laufen damit immer Gefahr, gerade das nationalchauvinistisch gescholtene Wesen des an sich für gut erklärten Nationalgefühls zu entbinden.

Deutsch-Euphorie beim Herrenvolk

Nationalbewußtsein ist Produkt des je eigenen Weges zur Nation und damit auch Ausdruck des bestimmten historischen Zustands nationaler Vergesellschaftung. In Preußen-Deutschland enthielt der sozialdemokratische Kampf gegen den wilhelminischen Staat immer eine seltsame Mischung von Bewunderung und Abscheu für ihn, zumal selbst die ideologischen Quellen des junkerlichen Staates und der pseudomarxistischen Sozialdemokratie sich soweit überschnitten, daß der beamtenstaatlich zu sich selbst gekommene Hegelsche Weltgeist und das Arbeitspathos der Sozialisten in eine prekäre Nähe gerieten.

Lange bevor die reichsdeutsche Sozialdemokratie sich auf die nationalen Hetzer ideologisch wirklich einließ, war die österreichische Partei schon gespalten in ideologisch einflußlose Pragmatiker des Klassenkampfs und eine Führung, die damals schon so deutsch tönte wie die DNVP in der Weimarer Republik. Für den sozialdemokratischen Weg, den jeweils herrschenden Stand des Nationalbewußtseins aufzugreifen und ihn revolutionär zu erhöhen, gab es im späthabsburgischen Österreich die denkbar ungünstigsten Voraussetzugen. Denn dort dominierte zunächst noch der Geist eines verrotteten Supra-Nationalismus, der dem metternichschen Beamtenstaat entstammte und eine nationale Ideologie, alle Reichslande umfassend, forderte, praktisch aber die totale Hegemonie der deutschsprachigen und -stämmigen Österreicher über das Reich herstellte und damit nie den Typus des gleichen Staatsbürgers hervorbringen konnte.

Die österreichische Bourgeoisie hatte es 1848/49 weder verstanden, eine deutsch-österreichische Nation zu etablieren noch einen Ausgleich mit den vielen anderen Nationalitäten in der Monarchie herzustellen. Teils war sie dem übermächtigen Militär- und Beamtenstaat nicht gewachsen, teils hatte sie sich längst mit ihrer Rolle als Bestandteil eines politisch zwar ohnmächtigen, aber ökonomisch umso privilegierteren Herrenvolks versöhnt. Je stärker nach dem deutsch-österreichischen Krieg 1866 die anderen Nationalitäten nach kultureller Autonomie und staatlicher Unabhängigkeit strebten, desto chauvinistischer gebärdete sich das Herrenvolk deutsch-österreichisch. Bis 1918 geschah dies nicht im Sinne des Anschlußgedankens an Deutschland, sondern im Sinne der Herausbildung eines nationalchauvinistischen, kulturalistisch aufgeladenen Deutsch-Österreichertums, daß sich zunehmend rassistisch gegen die anderen Völker der Monarchie und vor allem konsequent und maßlos feindselig gegen jene Österreicher gebärdete, die man als Konkurrenten fürchtete und als Volksgenossen für windig hielt: die Juden. Die Deutsch-Euphorie im österreichischen Kernland fabrizierte Deutschtum pur und versorgte sich entsprechend mit den ideologischen Versatzstücken, die immer schon dafür standen: mit der völkischen Ideologie der deutschen Romantik und der Freiheitskriege samt dazugehörigem antisemitischen Geplärre und Vereinsmeiereien.

Den metternichtischen Antinationalismus wirklich egalitär zu wenden, hatte, von einigen Figuren der Frühzeit abgesehen, in der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie keiner gewagt und so war es ihr auch nicht möglich, das Auseinanderfallen von tschechischer, ungarischer etc. und deutscher Sozialdemokratie zu verhindern. Statt dessen wurde die österreichische Sozialdemokratie getreues Abbild der Entwicklung im Bürgertum in der auseinanderbrechenden Monarchie. Schon bald nach ihrer Gründung erklärte auch sie, deren wichtigste Funktionäre, angefangen beim Parteigründer Viktor Adler, bei den Ideologen des deutsch-österreichischen Chauvinismus in die Schule gegangen waren, sich zum Teil dieses Herrenvolks. Parteimitbegründer Engelbert Pernerstorfer formulierte: "Der Sozialismus und der nationale Gedanke sind also nicht nur keine Widersprüche, sie gehören notwendig zusammen. Jeder Versuch, den nationalen Gedanken zu schwächen, muß, wenn er Erfolg hat, den Reichtum des Menschengeschlechts vermindern. Der Nationalismus muß also doch etwas anderes sein, als etwa eine atavistische Erscheinung, als ein verwerflicher Chauvinismus, seine Wurzeln müssen tief ins menschliche Erdreich gehen. Das Volk ist die Grund- und Urtatsache jedes menschlichen Geschehens. Wer diese Tatsache übersehen oder theoretisch ,überwinden‘ will, wird immer Schiffbruch erleiden" (3). Daß der bürgerliche Deutschnationalismus aus Feigheit vor der feudalen "antinational" geprägten Obrigkeit nur bellte und im Zweifelsfall kuschte, wurde schon bald zum Gegenstand der Kritik für den linken Flügel der österreichischen Sozialdemokratie.

Deutschnationales Klassenkämpfertum wurde von Otto Bauer (1870–1938), dem Cheftheoretiker des Austromarxismus, propagiert, der sich als innerparteiliche Alternative zur revisionistischen, auf nationale Versöhnung mit den Stützen der Donaumonarchie bedachten Stömung um Karl Renner anbot. Durch die wissenschaftliche Aufladung des Deutschnationalismus zum nationalrevolutionären Programm gelang es Bauer schon vor dem Ersten Weltkrieg das bürgerliche Deutschösterreichertum theoretisch zu besiegen. In seinen Schriften "Deutschtum und Sozialdemokratie" (1907) und "Nationale und soziale Probleme des Deutschtums in Mähren" (1909) trat er als an Kautsky geschulter Dialektiker auf, der elegant zwei "unwissenschaftliche" Strömungen zugleich bekämpfte. Als historischer Materialist wußte Bauer, daß es vornehmstes Etappenziel der Sozialdemokratie war, das zu erledigen, woran das Bürgertum gescheitert war, die Etablierung einer wirklich demokratischen Nation als Grundvoraussetzung für das Endziel, den sozialistischen Nationalstaat. Deshalb schlug er auf den "naiven Kosmopolitismus" der frühen österreichischen Arbeiterbewegung ein – eine Strömung, die schon Jahrzehnte vorher fast gänzlich verschwunden war – und kritisierte gleichzeitig aufs schärfste die "antinationale, nationsfeindliche" Politik der österreichischen Bourgeoisie. Darin, daß "das deutsche Bürgertum die Nachkommenschaft der deutschen Arbeiterklasse elend verkommen läßt und dafür tschechische Arbeiter in das deutsche Gebiet zieht" (Rechtschreibfehler im Original) sah Bauer den "wirklichen nationalen Verrat" (4). Diesem Verrat setzte er die wirkliche, sozialdemokratische Nationalbewegung entgegen, deren Aufgabe er im "Klassenkampf um die Größe der Nation" sah. Sozialpolitische Erfolge der österreichischen Sozialdemokratie waren nach Bauers Lehre nicht etwa Ergebnisse des Kampfes gegen kapitalistische Ausbeutung, sondern ein Beitrag zur Stärkung des deutschen Volkstums in Österreich: "Die Sterblichkeit hat – dank der von der Sozialdemokratie erkämpften Besserung der Lage der Arbeiterschaft – in beiden Gebieten abgenommen, im deutschen Gebiete aber schneller als im tschechischen! Das Machtverhältnis der beiden Nationen wurde dadurch zugunsten der Deutschen verändert. Diesen Machtzuwachs verdankt die deutsche Nation nicht den Schreiern, die ihren Namen eitel im Munde führen, sondern der internationalen Sozialdemokratie" (5).

Nicht gegen, sondern um die Polizei kämpfen

Mit dem von sozialdemokratischer Seite durchaus ungewollten Zerfall des Vielvölkerstaats im Zuge des 1. Weltkriegs erhielt die österreichische Sozialdemokratie die Gelegenheit, die erzbürgerlichen Aufgaben der Demokratisierung und der Schaffung nationaler Unabhängigkeit in eigene Regie zu nehmen. Doch sobald das deutsch-österreichische Herrenvolk ohne seine Knechtsnationen dastand, wandelte sich der deutsch-österreichische Nationalismus der Sozialdemokratie zum deutschen Volksgemeinschaftsnationalismus. Das Ziel der österreichischen Sozialdemokratie war fortan nicht die proletarische Republik Österreich, sondern die Schaffung eines proletarischen Großdeutschlands. Deutschtum als Kulturauftrag hatten die österreichischen Sozialisten längst so weit verinnerlicht, daß sie sich nur noch als Bestandteil eines imperialen Arbeiterstaates denken konnten, der in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt seinen Mann stehen könne. Gegenüber der Arbeiterschaft wurde die Legende von einem ökonomisch nicht überlebensfähigen österreichischen "Reststaat" in die Welt gesetzt und erklärt, daß der Kampf um den Sozialismus als ein Kampf um den Anschluß an Deutschland geführt werden müsse. Offenbar waren aber noch nicht alle österreichischen Arbeiter schon zu Otto Bauers "guten Deutschen" geworden, denn im Oktober 1918 schrieb derselbe über die Probleme bei den Anschlußverhandlungen: "Die Schwierigkeiten sind natürlich sehr groß, nicht so sehr trotz Karl R(enner) bei den Führern, als bei den Massen, die das Ganze nicht verstehen, die Mißtrauen haben, als sei das Nationalismus und dgl." (6) Revolutionäre Arbeiter muß es zu diesem Zeitpunkt noch gegeben haben. Nach der Niederschlagung der revolutionären Januaraufstände sprachen sich große Teile der österreichischen Arbeiterschaft gegen einen Anschluß an "Noske-Deutschland" aus und der Linzer Arbeiterrat erklärte nach dem Sturz der bayerischen Räteregierung, "daß, wenn die Vereinigung Deutschösterreichs mit Deutschland Tatsache wird, das Linzer Proletariat jede Gemeinschaft mit der deutschen Mehrheitspartei ablehnt" (7). Die Absage der sozialdemokratischen Parteiführung an jeden Anschluß, der nicht den Anschluß an Deutschland meint, ist schließlich selten so deutlich geworden wie nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik. Béla Kuns Bitte um Solidarität mit dem revolutionären Ungarn und seine Aufforderung an das österreichische Proletariat, eine Räterepublik zu erkämpfen und im Bündnis mit der Sowjetunion und Ungarn für die Weltrevolution zu streiten, wurde auf Demonstrationen von großen Teilen der österreichischen Arbeiterschaft bejubelt, aber von der SDAP energisch zurückgewiesen.

Dennoch galt die österreichische Sozialdemokratie vielen Linken hüben wie drüben nach 1945 immer als Beweis einer besseren, weil radikaleren Sozialdemokratie. Verwiesen wurde dabei gerne auf das Linzer Programm von 1926, das in der Tat als einziges sozialdemokratisches Parteiprogramm innerhalb der II. Internationale noch das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats als sozialistisches Endziel und eine Verteidigung der sozialen und politischen Errungenschaften von 1918 gegenüber reaktionären Bestrebungen notfalls mit Gewalt enthielt. Das Problem des Linzer Programms war allerdings, daß es in bewußter Abgrenzung zu den Kommunisten ein ebenso klares Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie enthielt. Der bewaffnete Aufstand wurde nur als Notwehrrecht gegen schwerwiegende Verfassungsverstöße durch die herrschenden Klassen anerkannt, prinzipiell aber sollte der 1918 eingegangene Klassenkompromiß allein mit dem Stimmzettel zur sozialdemokratischen Alleinherrschaft fortentwickelt werden. Lediglich eine kleine sozialistische Minderheit erkannte den offensichtlichen Unsinn eines solchen demokratischen Programms der sozialen Revolution: "Solange wir unsere Taktik als Defensivtaktik auf den Angriff des Gegners aufbauen, werden wir notwendig in einen Zirkel geraten, der uns einmal nicht kämpfen läßt, weil der Gegner uns nicht genügend provoziert, das andere Mal, weil er uns zu erfolgreich angreift." (8)

Was der österreichischen Sozialdemokratie das im Linzer Programm explizit enthaltene Bekenntnis zur Verteidigung der Demokratie wert war, zeigte sich in ihrem Verhalten angesichts der ab 1927 einsetzenden Faschisierung der Republik. Als es nach einem Freispruch für Mitglieder einer Frontkämpfervereinigung, die zwei sozialdemokratische Schutzbündler ermordet hatten, am 15. Juli 1927 zu Arbeiterprotesten kam und der Wiener Polizeipräsident Schober unter den Arbeitern ein Massaker mit fast 90 Toten anrichten ließ, war dies keineswegs das Signal für den Aufstand, sondern der Anlaß für einen Richtungswechsel der Partei. Der Protest der Wiener Arbeiter wurde sofort als kommunistische Machenschaft denunziert. Als Sozialdemokrat habe man "nicht gegen, sondern um die Polizei" zu kämpfen, formulierte der Leiter des Republikanischen Schutzbunds Karl Heinz (9). Künftigen spontanen Aktionen des Proletariats wurde auf dem Parteitag von 1927 eine Absage erteilt und aus der Faschisierung der Exekutive der originär sozialdemokratische Schluß gezogen, daß die Zeit für eine Beteiligung an der Staatsmacht gekommen sei: "Die Anteilnahme an der Staatsmacht kann einer Klasse, die so stark ist, so geschlossen, so zielbewußt, in der Verwaltung so erfahren, gar nicht versagt werden. Wir haben sie zu verlangen als unser Recht und nicht als ein Geschenk von Seipel (damaliger christsozialer Bundeskanzler; C.H.). Wir haben von der Staatsgewalt Besitz zu ergreifen und diesen Staat auf eine Basis zu stellen, die sein dauerndes Fortkommen sichert." (10) Bei Karl Renner nahm das Bekenntnis zum Mitmachen allmählich nahezu hysterische Formen an: "Bourgeoisie und Proletariat führen ihren Klassenkampf – aber sie können ihn praktisch nur führen in dem Rahmen der Aufrechterhaltung eines höheren Ganzen! Geht diese dabei in Trümmer, so ist aller Klassenkampf um seine möglichen Früchte betrogen. Dieses höhere Ganze ist die Wirtschaftsgemeinschaft eines Volkes! Es kann sich bei diesem Kampfe nur darum handeln, ob der eine oder der andere diese Wirtschaft beeinflusse, führe, beherrsche, der Kampf kann aber niemals so weit gehen, daß diese Wirtschaft selbst leide, verelende, zusammenbreche! Die absolute Negation des Ganzen macht den Kampf der Teile untereinander sinnlos!" (11) Sozialdemokraten wie Max Adler, die diese Auffassungen zu Recht als identisch mit jenen einer faschistischen Volksgemeinschaft kritisierten, wurden nach 1927 aus der Partei gedrängt.

Deutschnational gegen die Monarchie

Die zunächst schleichende, dann ab 1929 unter dem Wiener Arbeitermörder und späteren Bundeskanzler Johannes Schober offen betriebene Faschisierung der Republik wurde mit allen Verfassungsbrüchen auch von der Sozialdemokratie gebilligt. Sozialpolitisch war der Gipfel an Kompromißbereitschaft nach dem Zusammenbruch der Österreichischen Credit-Anstalt (1931) mit der Zustimmung für das Budgetsanierungsgesetz erreicht, das rigide Lohnkürzungen, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung vorsah. Um das Ticket für eine Regierungsbeteiligung sah man sich aber letztlich doch immer wieder geprellt: "Trotz unserer Staatspolitik werden wir nach getaner Arbeit für den Staat wieder in die Rolle der Opposition verwiesen. Das ist unhaltbar." (12) Noch nachdem am 7. März 1933 der christlichsoziale Kanzler Dollfuß mit Hilfe der Heimwehren geputscht hatte und einen autoritären Ständestaat zu etablieren begann, bot die sozialdemokratische Parteiführung ihre konstruktive Mitarbeit an. Karl Renner etwa entwarf ein "Staatsvollmachtsgesetz", das ein Regieren auf der Basis von Notverordnungen und die Ausschaltung des Parlaments legitimierte und plädierte für eine sozialdemokratische Beteiligung am Ständestaat. In einer Ende 1933 in der "Arbeiter-Zeitung" veröffentlichten Artikelserie (13) brachte Otto Bauer das Verhältnis zum Klerikalfaschismus mit der Frage "Autoritär oder ,berufsständisch‘?" auf den Punkt. Klerikalfaschismus plus Sozialdemokratie war ihm zufolge unterstützenswert, weil im Interesse auch der Arbeiterklasse, die gleiche Sache ohne Sozialdemokraten dagegen Verrat an der anvisierten Sozialpartnerschaft.

Der Aufstand der österreichischen Arbeiter vom 12. Februar 1934 erfolgte nicht auf Anweisung des sozialdemokratischen Parteivorstands, sondern war eine letzte verzweifelte Maßnahme österreichischer Arbeiter sowie unterer und mittlerer Parteifunktionäre, als die Heimwehren zur Entwaffnung und damit zur endgültigen Ausschaltung des Republikanischen Schutzbunds übergingen. Der von der SDAP ausgerufene Generalstreik kam unfreiwillig und zu spät. Doch die kommunistische Legende vom Verrat der sozialdemokratischen Führung am Proletariat verkennt, daß die Arbeiterschaft nicht nur durch den Attentismus der Partei demoralisiert war. Sie hatte sich vor 1934 schon die Idee vom autoritären Staat als einzigem Garanten ihres Überlebens so sehr zu eigen gemacht, wie es ihr die Renners immer schon angeraten hatten, so daß nur noch einer Minderheit die Diktatur des Proletariats als revolutionäre Alternative erstrebenswert erschien.

Die sozialdemokratische Geschichtsbetrachtung wiederum klammert hartnäckig aus, daß der Putsch Dollfuß’ nicht nur der Versuch der österreichischen Bourgeoisie war, sich der Sozialisten zu entledigen, sondern ebenso die Reaktion auf das seit den Landtagswahlen 1932 starke Anwachsen der Nazis in Österreich. Nach der Vorstellung der "Vaterländischen Front" sollte Österreich ein Bollwerk gegen den Nazifaschismus (die NSDAP wurde am 19. Juni 1933 verboten) und das faschistische Italien sein Beschützer sein. Für die SDAP bot die Niederlage in einem Kampf, den sie nie gewollt hatte, zwei Chancen. Zum einen konnte sie sich jetzt der wegen der Ermordung und Einsperrung zahlreicher Genossen durch den siegreichen Sozialfaschismus zu Recht verbitterten linken Basis als künftige unbeugsame Gegnerin des Dollfuß-Regimes andienen, zum anderen blieb die Tür zur deutsch-österreichischen Einheit offen. Dabei wurde zwar die 1933 im Zuge der Anbiederei an den Ständestaat erfolgte Streichung des Anschlußparagraphen im Parteiprogramm keineswegs revidiert. Aber das gemeinsame Schicksal von Nazis und "Revolutionären Sozialisten" (RS), wie sich die in der Illegalität in Österreich verbliebenen SDAPler jetzt nannten, von den Klerikalfaschisten verboten zu sein, hat die österreichische Sozialdemokratie wieder zu ihrem deutschnationalen Ursprung zurückgeführt.

Alle wichtigen Führungskader waren in die Tschechoslowakei emigriert. Der Ständestand war aufgrund seiner eigenen Schwäche weder willens noch in der Lage, die Sozialdemokratie total zu verbieten, so daß illegale Druckwerke an die Genossen verschickt werden konnte. Diese Phase war zugleich der Höhepunkt der Karriere des bienenfleißigen Schriftstellers Otto Bauer, der nunmehr die vollständige Hegemonie über sozialdemokratisches Denken erreichte.

Als Dollfuß im Juli 1934 im Zusammenhang eines gescheiterten Nazi-Putsches ermordet wurde, wurde von der RS ein Bündnis mit allen "freiheitlichen" Kräften anvisiert. Die RSler ließen durchblicken, daß sie auch die Kämpfer der SA als echte Revolutionäre schätzten. Bei aller prinzipiellen Gegnerschaft achte man doch "den Heldenmut, mit dem die SA-Jungen gegen überlegene Gewalt der Regierung gekämpft haben" – allein: "Wir wollten, daß diese Tapferkeit und Todesverachtung für eine bessere Sache eingesetzt worden wäre." (14) Wie man schon zu Zeiten der Habsburger mit den Deutschnationalen gemeinsame Sache gemacht hatte, so wollte man auch jetzt wieder Seite an Seite mit ihnen stehn. Auch die Feinde waren schließlich die gleichen geblieben: "Eint nicht der Widerstand gegen die Restauration der Habsburger, nach der die heute herrschenden Klassen – die Aristokratie, die Pfaffen, die jüdische Bourgeoisie – unzweifelhaft streben, die Deutschnationalen mit den Sozialisten?" (15) Nach Vorstellung der RSler sollten alle "freiheitlichen Kräfte" nun unter der Hegemonie des sozialdemokratischen Proletariats zum Sturz des Klerikalfaschismus antreten: "Los von Hitler! Hin zu den deutsch-österreichischen Arbeitern! An dem Tage, an dem die deutsche Intelligenz, die freiheitlich gesinnten Kleinbürger und Bauern Österreichs nach dieser Losung handeln werden, an diesem Tage wird das österreichische Volk auferstehen und Rache nehmen für die gemordeten Kämpfer des Februar und für die gemordeten Kämpfer des Juli zugleich!" (16) Die österreichischen Nazis galt es als kleineres Übel auf die richtige, nämlich sozialdemokratische Seite zu ziehen. Dafür wurde von Bauer und Genossen Otto von Habsburg zum Hauptfeind erklärt, obwohl auch sie wußten, daß sich für die Restauration der Habsburger keine relevante Fraktion des ständestaatlichen Bündnisses aussprach. "Der Eroberung Österreichs durch die Nazi steht heute der Einspruch der ganzen Welt entgegen; nicht die Nazi, sondern die Habsburger sind im Augenblick die nächste, dringende Gefahr, gegen Habsburg müssen wir mit Tod und Teufel zusammen kämpfen; ist erst die klerikofaschistische Diktatur gestürzt und die Habsburgergefahr abgewehrt, dann werden wir uns des braunen Todes, des braunen Teufels in einem zweiten großen Kampf erwehren müssen." (17) Die Warnung vor einer Restauration der Monarchie wurde das Endlosthema in Otto Bauers Schriften – in nur scheinbarem Widerspruch zu der mit gleicher Vehemenz vertretenen Hoffnung, daß gerade ein solcher Versuch "der proletarischen Revolution die denkbar besten Aussichten bieten" würde, da er "alles, was deutschnational fühlt und denkt, mitreißen wird" (18).

Klassenkampf um die Größe der Nation

Nur die Spekulation auf die "freiheitlich gesinnten Kleinbürger und Bauern Österreichs" hat der österreichischen Sozialdemokratie jene Kompromißlosigkeit gegenüber dem Austrofaschismus ermöglicht, die sie von den Kommunisten immer so erfreulich abzuheben schien. Als die KPÖ nach dem XII. Kongreß der Komintern 1935 auf die Volksfronttaktik einschwenkte und nach dem von Nazi-Deutschland diktierten Juli-Abkommen von 1936 eine "antinationalsozialistische Volksfront" propagierte, schlug ihr von Seiten der RS nur wütendes Gebell entgegen. Eine "Volksfrontpsychose" (19) wurde der KPÖ attestiert und ihr Bemühen um Bündnispartner innerhalb der katholischen Arbeiterschaft zum Verrat an der revolutionären Sache erklärt: "Das Streben nach einer ,Volksfront‘ dort, wo alle ihre Voraussetzungen fehlen, verleitet die KP zu einer Taktik, die die Arbeiterschaft nur verwirren, nur die Geschäfte des Versöhnlertums besorgen kann: zu Bündnisangeboten an alle möglichen klerikalen Kreise und zur Anknüpfung an schwarz-gelbe Traditionen." (20) Tatsächlich hatte die RS die Dimitroff-Thesen besser verstanden als die KPÖ. Die Komintern wollte die nationale Einheit aller demokratischen Schichten mit der Arbeiterklasse gegen den als antinational vorgestellten, weil die Interessen des internationalen Kapitals bedienenden Faschismus. In Österreich, wo der nationale Gedanke faschistisch, weil deutschnational war, vollbrachte die KPÖ das von ihr selbst nie begriffene Kunststück, die nationale Ideologie der Komintern für die Etablierung eines neuen, dezidiert antifaschistischen und damit antideutschen Nationalismus zu nutzen. Mit einer mit allerlei wissenschaftlichen Nachweisen erfolgten Behauptung der Existenz einer nur österreichischen Nation hat sich die KPÖ das Verdienst erworben, eine neue Nation nur deshalb konstruiert zu haben, um die Expansion der faschistisch-deutschen zu verhindern – ein Manöver, das echte Deutsch-Österreicher nicht ganz zu Unrecht als nationalen Nihilismus entlarvten.

Sich gegen die KPÖ wendend, blieb die österreichische Sozialdemokratie auch jedem Vermittlungsversuch der Ständestaatler gegenüber verschlossen. Anerbieten wie die des einflußreichen konservativen Soziologen und (loyalen) Kritikers des Ständestaats, Ernst Karl Winter, man möge eine auf legitimistischer Basis zu vollziehende Sammlung aller Kräfte links von den Nazis formieren, stießen auf taube Ohren. Statt dessen wurden Maximalforderungen, auf deren Undurchführbarkeit man anscheinend spekulierte, formuliert: "Ohne daß eine neue Regierung die volle politische Bewegungsfreiheit für die Arbeiterschaft zuläßt, kann es auch trotz unserer größten Bereitschaft, ein freiheitliches Österreich gegen die nationalsozialistische Gefahr zu verteidigen, nichts zwischen ihr und der Arbeiterschaft zu reden geben." (21) Daß die RS tatsächlich zu keinem Zeitpunkt daran gedacht hat, "Österreich gegen die nationalsozialistische Gefahr zu verteidigen", macht ein Artikel im Zentralorgan des Parteivorstands, dem "Informationsdienst der RS" deutlich, der wenige Tage nach dem Berchtesgadener Abkommen (12.2.1938, Hitler bringt ultimativ den Nazi Seyss-Inquart als Innenminister ins Kabinett) erschienen ist: "Jesuitische Kanonenchristen, engstirnige Austrozünftler, angstdemokratische Geldjuden und die definitiv in die Mistgrube der Geschichte geschleuderten Legitimisten machen nun Konkurs (...) Wir wissen gut genug, was die Gleichschaltung für uns, für die Arbeiterklasse bedeutet. Und dennoch muß jeder Arbeiter wissen, daß wir keinen Grund haben in das hysterische Gewinsel der Klerikofaschisten einzustimmen. Sie gehen für immer unter, ihr Österreichertum hat kein Morgen, keine neue Auferstehung. Das sozialistische Österreich kann kein Hitler und kein Seyss-Inquart um seine Zukunft bringen." (22)

Auf diese Weise hat die österreichische Sozialdemokratie den "Klassenkampf um die Größe der Nation" bis zum Anschluß konsequent geführt. Die Resultate dieser Politik waren derart, daß die faschistischen Profiteure vom Ausmaß der proletarischen Zustimmung im März 1938 völlig verblüfft waren. "Wir schlittern ja mit vollen Segeln in den Anschluß hinein!" wunderte sich Seyss-Inquart, als er feststellte, daß die ehemals rote Hochburg Linz beim Einmarsch der Nazis so braun war wie zuvor nur Kärnten.

Die Summe aus rund 70 Jahren österreichischer Sozialdemokratie hat Joseph Roth in seinem Roman "Die Kapuzinergruft" (1938) gezogen: "Die Sozialdemokraten haben verkündet, daß Österreich ein Bestandteil der deutschen Republik sei; wie sie überhaupt die widerwärtigen Entdecker der sogenannten Nationalitäten sind. Die christlichen Alpentrottel folgen den Sozialdemokraten. Auf den Bergen wohnt die Dummheit, sage ich, Josef Chojnicki".

Deutschnationalismus und ex post Antifaschismus

Nach dem Anschluß wurde der Deutschnationalismus der österreichischen Sozialdemokratie in dem Maße fanatischer, wie der faschistische Staat barbarischer wurde. Die Forderung nach einem Kampf für die Wiederherstellung der staatlichen Existenz Österreichs lehnten sie jetzt erst recht als reformistisches Getue ab. "Erst die Revolution wird das Land, in dem wir geboren und aufgewachsen sind, zu unserem, weil zu einem sozialistischen Vaterland machen. Darum sind wir gegen jede Schwächung unserer Revolution, gegen jede Zerreißung des revolutionären Deutschland", schulmeisterte Karl Czernetz die KPÖ (23). Parteistratege Otto Bauer dachte weit voraus, als er seinen Sozialismus schon 1938 nicht nur "gegen die kapitalistische Konterrevolution in Deutschland, sondern auch gegen die konterrevolutionäre Intervention der imperialistischen Mächte" zu verteidigen versprach (24). Friedrich Adler hielt die Genossen noch nach der Moskauer Deklaration zum Durchhalten an: "Wie zu erwarten war, haben sich und werden sich auch in Zukunft schwächere Charaktere von allem, was deutsch ist, möglichst zu distanzieren suchen. Wir jedoch sind überzeugt, daß es das andere Deutschland gibt, und wir haben gerade in der Zeit der harten Not, die Hitlers Wahnsinn über alle deutschsprechenden Menschen gebracht hat, niemals aufgehört, uns zur deutschen Kulturgemeinschaft, die den Vergleich mit keiner anderen zu scheuen hat, zu bekennen." (25) Die Klügeren erkannten, daß gegen den Willen der Alliierten eine deutschnationale Politik auch unter sozialdemokratischer Führung nicht möglich war und für sie erwies sich der Schwenk zum "freien Österreich" durchaus als jener von Friedrich Adler verschmähte "Extraprofit". Die österreichische Sozialdemokratie konnte sich als eigentlicher Kriegsgewinnler fühlen: Was ihr 33/34 verwehrt geblieben war, nämlich an der staatlichen Verwaltung ihrer eigenen Klientel beteiligt zu werden, hatte sie infolge der Mächtekonstellation nach 1945 erreicht. Die Voraussetzung für die Sozialpartnerschaft war freilich die lauthals verkündete Versöhnung mit einem Klassenfeind, der für die österreichische Sozialdemokratie nie wirklich einer war. Die einstigen Gegner stiegen in Gestalt des ehemaligen Heimwehrführers Julius Raab und des ehemaligen RS-Jugendführers Bruno Kreisky nun als Bundeskanzler-Außenminister-Duo gemeinsam in die Bütt. Kreisky: "Mit Männern zusammen Politik zu machen, die einen früher einsperrten oder umbringen wollten, ist eben nur in einer Großen Koalition möglich." (26)

Aus der Trennung von Deutschland wurde jetzt das Beste gemacht, nämlich das, was die KPÖ bereits in den 30er Jahren empfohlen hatte: Ein Österreich mit einer antifaschistisch getönten austropatriotischen Ideologie. Die von den Nazis ermordeten Antifaschisten wurden zu patriotischen Freiheitskämpfern und der jeweils eigene Anteil der Vorläuferparteien von SPÖ und ÖVP, der SDAP und der Heimwehrfaschisten, an der Etablierung des Nazifaschismus angesichts der im Zeichen des Austropatriotismus erfolgten Aussöhnung zu einem Detail der Geschichte erklärt. Geradezu idealtypisch hat diese Auffassung der KPÖler Ernst Fischer formuliert: "Die Gräber der Vergangenheit sollen uns nicht entzweien, denn riesengroß ist das Grab, in dem Leib an Leib die toten Märtyrer Österreichs ruhen, Kommunisten, Sozialisten, Katholiken, gestorben im Kampfe für ein freies, unabhängiges und demokratisches Österreich." (27) So entstand ein staatskonformer Antifaschismus ähnlich wie in der DDR; als Beweis antifaschistischer Gesinnung genügte fortan das Bekenntnis zu einer ex post gebildeten Volksfront namens Österreich. Der Sinn des Austropatriotismus war der kollektive Freispruch für eine Nation, die ihr nun erwünschtes Selbstbild in die Vergangenheit projizierte und überall nur noch österreichische Opfer des Faschismus statt Täter erblickte. Die Substanz des Austropatriotismus hat die Schriftstellerin Ruth Beckermann auf den Punkt gebracht "Die Sozialisten verzichteten auf den Klassenkampf und die Konservativen auf öffentliche Dollfuß-Verehrung. Auf die Juden verzichteten sie alle" (28).

Antifaschismus und immerwährende Neutralität

Die ideale Repräsentantin dieses Antifaschismus war und blieb jedoch die österreichische Sozialdemokratie. Als einzige Partei hatte sie eine makellos antifaschistische Haltung vorzuweisen, sie war ja schon immer gegen den Klerikal- wie gegen den Nazifaschismus gewesen. Als Partei der kleinen Leute, die nach 1945 eh immer schon gewußt haben wollten, wohin das alles führt, lag eine Entnazifizierung auch der SPÖ völlig fern. Schon Karl Renner hatte das österreichische Volk mit einem kollektiven Freispruch "entnazifiziert" und verkündet, daß "alle diese kleinen Beamten, diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluß an die Nazi gar nicht weittragende Absichten gehabt haben – höchstens, daß man den Juden etwas tut – und vor allem nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren" (29). Gegenüber alliierter Entnazifizierungspolitik erklärte SPÖ-Bundespräsident Adolf Schärf das Problem insgesamt als erledigt, indem er auf dessen sozialdemokratischen Aspekt verwies: "Mit den ,Nazi‘ sind nicht nur die echten Nazi verdrängt worden, sondern auch jene, die seinerzeit bloß aus Opposition gegen das Dollfuß-Schuschnigg-Regime beim Nationalsozialismus Anlehnung suchten, und sogar jene, die sich in der Zeit, da der Nationalsozialismus legal war (!), zu ihm bekannt haben." (30)

Der materielle Erfolg der Zweiten Republik hat eine mehrheitlich aus Nazis bestehende Bevölkerung mit der Demokratie versöhnt. Das Ergebnis der postfaschistischen Großen Koalition von ÖVP und SPÖ war der Aufstieg der österreichischen Sozialdemokratie zur mächtigsten sozialistischen Partei in der "freien Welt". Von 1945 bis heute war sie (bis auf die kurze Unterbrechung einer ÖVP-Regierung von 1966–1970) in allen Regierungen vertreten. Ihren größten Triumph erlebte sie in der zwölfjährigen Zeit ihrer Alleinherrschaft unter Bruno Kreisky (1971–1983). Unter Kreisky fühlte sich das österreichische Volk wirklich bei sich zuhaus, denn er war der personifizierte Nachkriegskonsens Österreichs, ein Sozialist, der seine Kabinette mit ausrangierten SS-Männern und sonstigen NS-Größen bestückte und seine antiisraelische Politik nicht im Stillen einfach nur betrieb, sondern die Juden öffentlich als "mieses Volk" zu bezeichnen pflegte und – weil selber Jude – den Österreichern jeden vielleicht auch ihnen möglichen Anflug eines schlechten Gewissens nahm.

Das Bekenntnis zur immerwährenden Neutralität, das die SU als Voraussetzung für ihren Truppenabzug erzwang und der im Staatsvertrag von 1955 verankert ist, erwies sich in den Zeiten des Kalten Kriegs als ein ausgesprochener Glücksfall für die Zweite Republik. Die Neutralität erlaubte dem österreichischen Staat gute wirtschaftliche Beziehungen auch mit den realsozialistischen Ländern, die sich in vielen Aufträgen für die seit 1945 verstaatlichten Schlüsselindustrien, die in den Nazi-Jahren zu Kartellen zusammengeschweißt worden waren und in einem großzügigen Ausbau des Sozialstaats niederschlugen. Mit dem sich in den 80er Jahren ankündigenden Ende des Realsozialismus war es aber auch mit Österreichs Prosperitätsgrundlage vorbei. Politischer Indikator dieses Niedergangs war eine FPÖ, der es als Partei für den absteigenden Mittelstand und für die im Zug der nun fälligen Privatisierung der Staatsindustrien entlassenen Arbeiter gelang, sich in Konkurrenz zur SPÖ als Partei der kleinen Leute zu formieren.

Beflügelt vom deutschnationalen Rausch, in den die Kandidatur Waldheims die Österreicher versetzt hatte, avancierte die FPÖ unter Haider zur Sprecherin einer schweigenden Mehrheit, die keine Parteigrenzen mehr kennt. Endlich traute sich wieder einer, die Essentials des deutsch-österreichischen Patriotismus auszusprechen. Nicht nur der eingefleischte Rassismus gegen die slowenische Minderheit und andere "Tschuschen", wie der Volksmund alle Südosteuropäer, die einmal zur Monarchie gehört hatten, nennt, sondern vor allem das öffentlich bekundete Lob für die ordentliche Wirtschaftspolitik der Nazis inklusive Arbeitsdienst führte die FPÖ unter Haider von Sieg zu Sieg.

Sozialdemokratismus ohne Schlauberger

Der Rücktritt Franz Vranitzkys Ende Januar markiert zwar keinen wirklichen Kurswechsel der Partei, wohl aber den Eintritt in eine neue Phase im Kampf um die Hegemonie jenes "kollektiven Gedankens", dem sich die SPÖ auf ihrem ersten Parteitag 1945 verpflichtet hat. Angetreten ist eine SPÖ, die fest entschlossen ist, das Verhältnis zwischen SPÖ und FPÖ wieder umzukehren und sich als die besseren Freiheitlichen zu profilieren. Wie man das macht, exerziert der neue Kanzler Viktor Klima seither vor. Mit einer rigorosen Umbildung des Kabinetts, nämlich dem Rausschmiß von linken Identifikationsfiguren wie Caspar Einem und Rudolf Scholten, hat er schon mal die Wünsche von immer schon rechtspopulistischen Blättern wie der "Kronenzeitung" erfüllt, denen die beiden wegen ihrer Forderung nach einer Öffnung der Wiener Gemeindebauten auch für Ausländer (Einem) und der Protektion für Kritiker österreichischer Volkstümlichkeit (Scholten) immer schon ein Dorn im Auge waren. Solche "Schlauberger" (Klima) werden dem Volk zukünftig nicht mehr als Minister zugemutet.

Man will vielmehr die zu Haider abgewanderte Stammwählerschaft zurückgewinnen und definiert sich darum seit neustem als eine "Protestpartei", deren klassenkämpferische Qualitäten man an Klimas Antrittsrede als Parteivorsitzender erkennt: Nicht vom alten Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wolle er reden, sondern von dem "zwischen jenen, die mit Produktion, Handel, Dienstleistung, seien es Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, ihr Geld verdienen und jenen, die ausschließlich ihr großes Vermögen vermehren, ohne zu arbeiten oder Arbeit zu schaffen und ohne Arbeit zu geben und nur den raschen Spekulationsgewinn vor Augen haben" (31).

Der neue Bundeskanzler kennt nach eigener Aussage "keine Berührungsängste" mit der FPÖ. Der stellvertretende SPÖ-Vorsitzende Michael Häupl – dessen eigener Wahlkampf 1996 als Wiener Oberbürgermeister sich schon in nichts von dem der FPÖ unterschieden hatte – bringt den Gleichklang der Interessen auf den Punkt, wenn er Gemeinsamkeiten mit der FPÖ in ihrer "Zurückweisung des Neoliberalismus" entdeckt (32). Einig in der Sache ist man sich, wann immer es um ein Österreich frei von Ausländern und Schmarotzern geht. "Wir können doch dem permanenten Treiben von Unternehmern nicht nachgeben, die immer neue billige Arbeitskräfte ins Land holen wollen" (33), so kündigte Klima die ab 1. Januar 1998 geltende Verschärfung der ohnehin schon restriktiven österreichischen Ausländergesetze an.

Wer noch vor kurzem angesichts der rassistischen Mordanschläge in sogenannten "Lichtermeeren" wogte, hat inzwischen erkannt, daß man der Haiderei nur Herr zu werden vermag, wenn man glaubwürdiger noch als Haider selbst Verantwortung für den Bürger zeigt, der auf sein Recht auf nationale Arbeit pocht. Die Republik in allen ihren Mißständen ebensogut anzugreifen wie die FPÖ ist das Ziel der neuen SPÖ. Klima: "Ich wünsche mir, daß die Sozialdemokratie wieder so viel Kraft entwickelt, das selbst zu erledigen, und daß es nicht eines Jörg Haider bedarf." (34)

Dabei braucht die SPÖ von Haider erst gar nicht groß zu lernen. Sie braucht keinen Haider, um den aktuellen Erfordernissen gemäß den Kampf gegen die "rote Mißwirtschaft" zu führen und sie braucht ihn schon gar nicht, wenn es darum geht, die nationale Arbeit zur deutsch-österreichischen zu erklären, mit allen Konsequenzen für die "Tschuschen" und andere Fremdlinge. Ihren eigenen Auftrag hat sie nach 1945 im Licht der "Lehre der Geschichte" offensiv formuliert: die Bourgeoisie vor ihrer eigenen politischen Kurzsichtigkeit, den Kapitalismus vor einem neuen Bankrott und die Nation vor einem zweiten Februar zu bewahren. Die Zurichtung auch noch des letzten Schlurfs zum vorbehaltlosen Mittätern im nationalen Kollektiv hat sie schließlich schon 1945 als ihre ureigenste Aufgabe angesehen. Klima könnte die Haiderei tatsächlich beerben, weil er über deren Partikularismus hinauszudenken vermag. Zwar fanden Haiders Attacken auf den österreichischen Staat als völkerrechtliche "Mißgeburt" und "kommunistisches Gebilde" spontanen Beifall, doch des Anschlusses an Deutschlands bedarf es nicht mehr. Die deutsch-österreichische Orientierung als nie wirklich revidierte Einheit mit dem deutschen Volk hat Österreich zu einer Nation werden lassen, die in allen Grundfragen mit sich im reinen ist.

Während Haider einstmals den NS glaubwürdig aber nostalgisch bewunderte und seine Anhängerschaft inzwischen durch Kokettiererei mit dem Klerikalfaschismus längst vergangener Jahre in eine Identitätskrise zwischen teutonisch-atheistischem NS und katholisch frömmelnder Heimwehrromantik stürzt, versteht es Klima als Personifizierung des modernen österreichischen Sozialdemokratismus die tatsächliche Hinterlassenschaft des NS im österreichischen Nachkriegssystem für die Zukunft nutzbar zu machen: Volksgemeinschaft, bedingungslose Staatsfixierung und eine Lehre aus der Geschichte, derzufolge sich Faschismus lohnt, wenn man ihn hinterher als Antifaschismus verkauft. Die SPÖ hat souverän gelernt, daß deutsch(-österreichisch) denken eine Sache des ganzen Volkes ist.

Tina Heinz (Bahamas 24 / 1997)

Anmerkungen:

  1. zit. n. Peter Pelinka (Hrsg.), Auf dem Weg zur Staatspartei, Wien 1988, S. 153
  2. Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie in: ders., Werkausgabe Band 1, Wien 1975, S. 574
  3. zit. n. Österreichs Linke und die nationale Frage in: Wir selbst 2/82
  4. Otto Bauer, Nationale und soziale Probleme des Deutschtums in Mähren in: ders., a.a.O., S. 634
  5. Otto Bauer, Deutschtum und Sozialdemokratie, in: ders., a.a.O. Bd. 1, S. 30
  6. zit. n. Helmut Konrad (Hrsg.), Sozialdemokratie und "Anschluß", Wien 1978, S. 39
  7. zit. n. Konrad, a.a.O., S. 40
  8. Käthe Leichter, zit.n. Christoph Butterwegge, Austromarxismus und Staat, Marburg 1991, S. 321
  9. zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 353
  10. Karl Renner, zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 359
  11. zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 371
  12. Oskar Helmer, zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 403
  13. vgl. Otto Bauer, Werkausgabe Band 7, Wien 1979, S. 496ff
  14. zit. n. Rudolf G. Ardelt / Hans Hautmann (Hrsg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich, Wien 1990, S. 117
  15. Otto Bauer, Voraussetzungen der Revolution in: ders., Werkausgabe Band 9, Wien 1980, S. 426
  16. zit. n. Ardelt / Hautmann, a.a.O., S. 117
  17. Otto Bauer, Habsburg vor den Toren? in: ders., a.a.O. Bd. 9, S. 505
  18. Otto Bauer, Der Austrofaschismus nach dem Naziputsch in: a.a.O. Bd. 9, S. 418
  19. zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 531
  20. zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 539
  21. zit. n. Butterwegge, a.a.O., S. 534
  22. zit. n. Franz West, Die Linke im Ständestaat Österreich, Wien 1978, S. 329
  23. zit. n. Konrad, a.a.O., S. 65
  24. zit. n. Konrad, a.a.O., S. 64
  25. zit. n. Konrad, a.a.O., S. 80
  26. zit. n. Spiegel 16/65
  27. zit. n. Ruth Beckermann, Unzugehoerig. Österreicher und Juden nach 1945, Wien 1989, S. 69
  28. ebd.
  29. zit. n. Beckermann, a.a.O., S. 85
  30. zit. n. Beckermann, a.a.O., S. 45
  31. zit. n. Profil 16/97
  32. zit. n. Spiegel 5/97
  33. zit. n. Spiegel 6/97
  34. zit. n. Profil 16/97

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