Wenn Linke damit konfrontiert sind, den Zusammenhang von Kapitalismus und Auschwitz rekonstruieren zu müssen, dann tut sich in ihren Hirnen eine offensichtlich unüberwindbare Denkbarriere auf. Entzieht sich der Nationalsozialismus als ganzer der (was immer das auch sein soll) "Marxschen Politökonomie", wie Detlef zum Winkel meint oder ist, wie Hermann L. Gremliza postuliert, die Judenvernichtung als in Teilen immerhin noch "polit-ökonomisch" erklärbar zur zwar radikalen, aber immer noch rationalen Klassenherrschaft hinzugetreten (Konkret 10/97)? Ungleich rabiater, aber von derselben Hilflosigkeit gezeichnet, mit der Ex-Kommunist und Alt-Leninist auf ein scheinbar vollkommen unenträtselbares Geschehnis starren, gehen diejenigen vor, die dieses unter die Kategorien ökonomischer Rationalität und Klassenherrschaft subsumieren wollen so spricht Karl-Heinz Roth von einer "Strategie der Kapitalakkumulation" (Jungle World 4/98). Nicht nur erinnert eine solche Ignoranz an Kautskys Versuch, die Reformation aus dem Schwanken der Baumwollpreise zu erklären, sondern sie zeitigt die makabre Konsequenz, noch den Zugverkehr zu den KZ´s betriebswirtschaftlich erklären zu müssen. Sollte schließlich Günter Jacob mit seinem Beharren auf der Unrationalisierbarkeit der Endlösung auf den Rothschen Irrsinn gezielt haben, so wäre dem rückhaltlos beizupflichten. Da er aber, wie die anderen auch, sich den Kapitalismus nur als Inbegriff von Zweckrationalität vorstellen kann, erreicht die Konfusion bei ihm einen Spitzenwert, wenn er von einem "Strukturdeterminismus" spricht, der "nicht davor zurück(scheut), Auschwitz direkt aus dem Wertbegriff ,abzuleiten und darüber das Irrationale zu rationalisieren" (Jungle World vom 8.1.98). Dieser Satz zeigt zweierlei: 1. Wie aus der nie überwundenen leninistischen Trennung von Politik und Ökonomie ("ableiten"!) konsequent der Strukturalismus ("Determinismus"!) folgt, und 2. Wie derjenige der sich am schlimmsten verirrt, unfreiwillig des Rätsels Lösung am nächsten kommen kann. Der Wert nämlich erscheint rational und ist doch irrational zugleich: er ist "sinnlich-übersinnlich", in ihm können Selbsterhaltung und Vernichtung in eins fallen. Weil das den linken Alltagsverstand offensichtlich übersteigt und je schon überstieg, fiel und fällt der versammelten Linken auch nicht mehr ein, als den Bundespräsidenten bei ihren Festansprachen: Nationalsozialismus = Zivilisationsbruch.
Stéphane Courtois gelang ein Kunststück, das Ernst Nolte zehn Jahre zuvor verwehrt bleiben mußte. Wie zur Bestätigung von Noltes These über die asiatische Abkunft des Holocaust, die den sogenannten Historikerstreit ausgelöst hatte, präsentierte Courtois im französischen Fernsehen am 17.12.97 einen ehemaligen KGB-Offizier, der von fahrbaren Gaskammern im Gulag zu berichten wußte; ein Häppchen, das selbst "seriöse" französische Presseorgane zu reißerischen Schlagzeilen stimulierte. Aber niemand fühlte sich mehr berufen wie noch ein Jahrzehnt zuvor, gegen diese doch auf einer äußerst fragwürdigen Quelle fußende Relativierung deutscher Verbrechen nämlich als bloße Imitation eines schlimmeren Vorbildes etwas Grundlegendes einzuwenden. Und das liegt beileibe nicht daran, daß die "Schwarzbuch"-Hysterie eine rein französische Angelegenheit wäre die deutsche Rezeption läßt an Lebhaftigkeit nichts zu hoffen übrig.
Noltes Widerpart von einst, Jürgen Habermas, führte sich selbst schon vor Jahren zusammen mit anderen Vorkämpfern im Historikerstreit auf der "Rampe von Srebrenica" (Freimut Duve) selbst ad absurdum. Aber sicherlich nicht die Scham ob dieser Entgleisung läßt den Frontmann des besseren Deutschland und seine Mitstreiter Zurückhaltung walten, sondern die tatsächliche Definitionsnot, in der sie sich befinden. Denn die schier unaufhaltsame Rehabilitierung der Totalitarismustheorie bringt nur eindrucksvoll zum Vorschein, daß Noltes und Habermas Positionen sich bereits im deutschen "Historikerstreit" wie ein Ei dem anderen glichen. Die Erbitterung, mit der er geführt wurde, war die von Musterschülern, die sich um des Schulmeisters Lob streiten. Daß dieses letztendlich Habermas und Co. durch einen Ukas aus dem Bundeskanzleramt zuteil wurde, zeugte aber gerade nicht von einer Blitzläuterung des seinerzeit als "Bitburg-Bonzo" titulierten Kohl. Sein Schlußwort, mit dem er dem Hahnenkampf ein Ende setzte, daß nämlich die deutschen Verbrechen "unvergleichlich" gewesen seien und keine bloße historische Doublette , bedeutete zweierlei: Zum einen, daß der neuerstarkte Nationalstolz jetzt auch borniert genug war, Auschwitz als original deutsche Spitzenleistung für sich zu reklamieren, zum anderen, daß die von der "späten Geburt" Begnadeten begriffen hatten, wie ein solches Bekenntnis die Bundesrepublik in einem umso strahlenderen Gewand erscheinen ließ; denn nichts verknüpfte sie dann mehr mit dem Nationalsozialismus.
Für diese Scheidung eignete sich der von Dan Diner als Widerpart gegen die "Historisierung des Nationalsozialismus", die Nolte, Hillgruber, Zitelmann etc. betreiben wollten, propagierte Begriff des "Zivilisationsbruches" wie kein zweiter. Sein Siegeszug bis hinein in den Alltagssprachgebrauch von Leitartikeln, Sonntagspredigten und Feuilletons, seine völlige Beliebigkeit, die das ursprüngliche Unterfangen, mit seiner Hilfe gerade die Einmaligkeit der Judenvernichtung herauszustreichen, konterkariert, liegt nicht an seiner mißbräuchlichen Verwendung, sondern ist bereits in der Konzeption selbst begründet. Könnte man sprachlogische Unsinnigkeiten wie z.B. den Anspruch des FAZ-Feuilletons, daß das geplante Holocaustdenkmal "den Zivilisationsbruch ins Stadtbild integrieren" (18.11.97) müsse, eher noch dem betreffenden Autor als dem herbeizitierten Begriff anlasten, so sind andere Merkwürdigkeiten nicht so leicht zur Seite zu schieben. Daß es nicht die Deutschen, sondern "der Zivilisationsbruch" höchstpersönlich war, "der Auschwitz und Lidice zuließ" (Berliner Zeitung, 26.08.97); daß die FAZ, den Schwarzbüchlern und Historisierern immer schon mehr als nur geneigt, den "Zivilisationsbruch" (21.11.97) als schlagendes Argument fürs "democracy-keeping" durch deutsche Truppen entdeckte, widerspricht zwar vermutlich der ursprünglichen Intention Diners, nimmt aber zielstrebig und zurecht die Offerte entgegen, die die Rede vom "Zivilisationsbruch" für das neue Deutschland beinhaltet.
Unbestreitbar richtig sind noch heute die Feststellungen, mit denen Diner seinen damaligen Eingriff in den Historikerstreit begründete: "Die aktuelle Forderung nach Historisierung des Nationalsozialismus insinuiert jedenfalls, die Historiker hätten sich bislang nur bei moralischen Werturteilen aufgehalten ... und hat die Absicht, sich dem Nationalsozialismus nicht mehr als Problem von erheblicher historischer Bedeutung, sondern als einem ausschließlich historiographischen Gegenstand zu nähern" (Diner 1987a, 10f, Hervorhebung im Original). Diner wurde sogar noch deutlicher: "Die professionelle Relativierung von ,Auschwitz ist Bedingung für den Prozeß zunehmender Renationalisierung deutschen Bewußtseins und zukünftiger deutscher Politik" (Diner 1987b, 64). Leider traf der Schuß bloß Schönhuber und LePen, während er sein Ziel Nolte, Hillgruber und Konsorten allenfalls streifte. Denn nur die Erstgenannten betrieben noch die für die Nachkriegszeit so typische Mischung aus Schweigen und Herunterrechnen in ihrer klassischen Form. Die Relativierung aber, die mit dem Schlagwort "Historisierung" angepeilt wurde, war von anderer Art. Ihre Infamie bestand nicht darin, an der Faktizität der Judenvernichtung selbst herumzudeuteln, sondern darin, das Wesen des NS-Regimes in zwei Hälften zu teilen, die nur durch die historische Situation des "Weltbürgerkrieges", den die Oktoberrevolution angezettelt hätte, zusammengehalten würden. Einerseits bestehe der Nationalsozialismus aus dem Holocaust, der so etwas wie eine übersteigert-irrationale "Gegenreaktion" auf den "asiatischen", "stalinistischen" Terror, der aus dem Osten drohte, darstellte; andererseits aber habe der Nationalsozialismus in dieser verwerflichen, unzivilisierten, totalitären, aber letztlich "wesensfremden" Form Grundsätze westlicher Zivilisation wie das Privateigentum gegen den Totalitarismus sans phrase verteidigt, und auf dieser Basis eine "Modernisierung" gesellschaftlicher Verhältnisse in Deutschland herbeigeführt, die es nach 1945 erst für den Westen kooptierbar gemacht habe.
So entrüstet sich die Gegenseite darüber auch zeigte, so wenig unterschied sich ihre Argumentation strukturell von den im wahrsten Sinne des Präfixes "Neo-Konservativen". Der, mit welchen Hintergedanken auch immer vollzogene, nichtsdestoweniger deutliche Abschied von der antimodernen Tradition der "konservativen Revolution", den Nolte mit seinem emphatisch antitotalitären Bekenntnis zum Westen vollzog, entwaffnete den demokratischen Antifaschismus mehr, als es zunächst den Anschein hatte. Im Wettlauf um die Anerkennung durch den demokratischen Souverän, in dem dieser Antifaschismus versuchte, sein Integritätsmonopol zu verteidigen, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Nationalsozialismus aufzukündigen, um sich nunmehr nutzlos bis rufschädigend gewordener Bündnisgenossen zu entledigen. Die alte reformistisch-antifaschistische Bündnisformel, die darin bestanden hatte, den Faschismus als Kapitalismus minus Arbeiterbewegung zu definieren, hatte lange zuvor bereits in gebetsmühlenartiger Wiederholung entweder jeden Sinngehalt eingebüßt oder, schlimmer noch, bemäntelte nurmehr das selbst nicht zu knapp völkisch-antisemitische Residuum der III.Internationale. Nun ist es keineswegs schade darum, eine Definition wie die untrennbar mit dem Namen Dimitroff verknüpfte über Bord zu werfen, die sich den Faschismus in ihrer Gegenüberstellung von aggressivem, unproduktivem Finanzkapital und dem um die Früchte seiner Arbeit betrogenen Volk nahezu so vorstellt wie der Faschist sich die jüdische Weltverschwörung.
Aus dem Zwang heraus jedoch, die Neo-Konservativen in der Parteinahme für den liberal-kapitalistischen Westen noch zu übertreffen, ließ sich aber der Nationalsozialismus nur noch als geisterhafter, erratischer "Zivilisationsbruch" zu definieren: "Auschwitz ist ein Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens, ein historiographische Deutungsversuche aufsaugendes, ja, außerhistorische Bedeutung annehmendes Vakuum. Nur ex negativo, nur durch den ständigen Versuch, die Vergeblichkeit des Verstehens zu verstehen, kann ermessen werden, um welches Ereignis es sich bei diesem Zivilisationsbruch gehandelt haben könnte." (Diner 1987b, 73) Erklären läßt sich dieses "Ereignis" nicht; sein Auftreten bleibt letztendlich enigmatisch. Zu beschreiben, wo die Grenzlinie zum "schwarzen Kasten" verläuft, traute Diner sich aber dennoch zu: "Ein methodischer Zugriff, der vom Extremfall ausgeht, stellt vor dem Hintergrund westlicher Zivilisation das Element von Sinn- und Zwecklosigkeit, wie es sich in der Vernichtung um der Vernichtung willen in Auschwitz realisierte, ins Zentrum". (Diner 1987b, 71; Hervorhebung von mir, U.K) Um sich nicht plötzlich der Peinlichkeit ausgesetzt zu sehen, zu feilschen, wieviel Prozent "Modernes" und "Westliches" im Nationalsozialismus enthalten gewesen sei nach dem Motto: "Aber sie haben doch die Autobahnen gebaut" mußte der Nationalsozialismus vollständig herausfallen aus der Erfolgsgeschichte der "westlichen Zivilisation". Womit aber die Einmaligkeit begründen? Denn auch für Diner und Habermas ist nicht zu leugnen, daß diese Erfolgsgeschichte stets über Leichen ging: "Nicht durch die wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion des Menschheitsverbrechens, sondern anhand des eingetretenen Dementis von auf Selbsterhaltung und Überleben gerichteten Handlungsformen wird der Bruch offenbar, den Auschwitz zivilisatorisch bedeutet". (Diner 1988a, 8f.) Das Kriterium ist also der durch das wechselseitige Interesse an der Selbsterhaltung nicht gedeckte, in diesem Sinne willkürliche Eingriff. Die Empirie kommt einer solchen Definition durchaus entgegen: Warum wurden militärische Kräfte, die an der Front fehlten, an die Vernichtung von Arbeitskräften gebunden, die man gebrauchen hätte können? Es muß eine Art von "Gegenrationalität" (Diner 1991, 74) am Werke sein, die aus den "Systemen zweckrationalen Handelns", die, laut Habermas, der aufgeklärten Gesellschaft zugrundelägen, herausfiele. Jene fraglosen, so-seienden Systeme wie beispielsweise das Geld dienten ausschließlich der Selbsterhaltung, seien ein Geflecht allgemeiner Nützlichkeit, unerläßliche Stütze der Zivilisation. Der Bruch damit bestehe darin, daß die Nazis sich weigerten, die in ihrem Machtbereich lebenden Juden für sich arbeiten zu lassen, und sei es nur als Sklaven; darin, daß sie jene aus dem Geflecht allgemeiner Nützlichkeit ohne Not, ja sogar gegen des Regimes höchsteigenes Selbsterhaltungsinteresse, ausschlossen.
Da die Einmaligkeit des Nationalsozialismus schließlich mit höchstem staatlichen Segen als Verstoß gegen das im Warentausch verewigte Prinzip der selbsterhaltenden Zweckrationalität definiert worden war, taten die Historisierer sich nicht schwer, allerlei diesem Raster genügende Reiche des Bösen in der Geschichte der Neuzeit zu finden. Sind nämlich die Regeln der Selbsterhaltung durch Markt, Tausch, Geld etc. quasi evolutionsgeschichtlich festgelegt, so ist jeder Versuch, sich an diesem Naturgesetz zu vergreifen, ein Zivilisationsbruch. Was einmalig hätte sein sollen, löst sich in mannigfaltige Zivilisationsbrüche auf: Robespierres Wohlfahrtsauschüsse, Saddam Husseins Irak und natürlich Stalins Zwangskollektivierung in Rußland. Diejenigen, die schon immer darauf setzten, daß der Nationalsozialismus nicht in toto vom Königsweg westlich-liberaler Prägung abgefallen sei, weil er nur zu dessen Verteidigung gegen den asiatischen Totalitarismus auf diesem vergleichbare Methoden verfallen sei, können nun über das "Schwarzbuch" feixen. Direkt dankbar hingegen muß man Goldhagen sein, daß er manches, was Diner, Wehler & Co. zur speziellen Anfälligkeit Deutschlands für den "Zivilisationsbruch" eingefallen war, in sein Konzept hinüberrettete. Nicht daß der Glaube an die fraglose Objektivität des Geldes beim letztjährigen Demokratiepreisträger irgend angekränkelt wäre, aber immerhin erinnerte er noch einmal daran, daß zwischen Auschwitz, Antisemitismus und den Fetischformen des Kapitals ein dem Vergleich mit der sowjetischen "Entkulakisierung" sich sperrender Zusammenhang bestehen könnte der natürlich auch beim Kommunikationswissenschaftler Goldhagen nur als längst bereinigtes historisches Mißverständnis auftaucht.
Weil die westlich-liberale Gesellschaft für den "konservativen" Historiographen wie für den "fortschrittlichen" Moralphilosophen unbezweifelbar den Hort fragloser Rationalität vorstellt, wird es zu einer belanglosen Frage, welche letztendlich obskure Ursache die "gegenrationale" Tat verursacht hatte die totalitär-asiatische Mentalität oder die paradoxe Modernisierung des vorbundesrepublikanischen Deutschlands; und mit der Anpassung an westliche Standards nach 1945 hat sich das Problem ohnehin erledigt. Eine Betrachtung des Nationalsozialismus, die ihn letztendlich ob ganz oder teilweise, ist egal nur als Verstoß gegen die betriebswirtschaftliche Logik auffassen kann, relativiert zwangsläufig. An diesem Vergleichsmaßstab gemessen, differieren nur die Quantitäten der "sinnlosen" Opfer: Vergleichende Holocaustforschung und Totalitarismustheorie scheinen der Preis des Verzichts auf Dimitroff zu sein.
Die Formel "Völkermord war die Form, die soziale Frage zu lösen" (Heim/Aly 1987, 15) verhieß dagegen einen obendrein zum Antiimperialismus anschlußfähigen Ausweg aus der Zwickmühle, in die der traditionelle Antifaschismus geraten war. Heim/Aly, Hartmann und Roth prätendierten, den Zusammenhang von Kapitalismus und Nationalsozialismus, den der besinnungslos-prowestliche Demokratismus verspielt hatte, wiederherzustellen, diesmal aber richtig radikal, als Kontinuum des Völkermordes: "Wenn der Zusammenhang zwischen Auschwitz und den damaligen Zukunftsprojekten für ein modernisiertes und befriedetes Europa ausgeblendet bleibt, erscheinen die deutschen Verbrechen als Rückfall in die Barbarei, als ein Bruch mit der westlichen Zivilisation, nicht als eine ihr innewohnende Möglichkeit." Die "Bewußtseinsfalle Auschwitz" (Diner) schnappt hier freilich noch erbarmungsloser zu als bei Diner und Habermas selber. Wenn es je eines schlagenden Beispiels bedurft hätte, wie fest die "theologische Mucke" des Kapitals, "als ein bloß nützlich Ding" zu erscheinen (1), auch und gerade das nonkonformistisch sich wähnende Bewußtsein in Bann geschlagen hat, dann lieferten dies die Ökonomen der Endlösung. Ausgerechnet die Kritiker der westlichen Zivilisation traten zum monströsen Beweis dessen an, daß selbst da, wo diese ihre Apologeten zwingt, einzugestehen, daß die "Systeme zweckrationalen Handelns" versagen, die Regeln der Hauswirtschaftslehre gelten. In dem Drang, sogar noch dem im Taumel der Endlösung sich befindenden Nationalsozialismus Selbsterhaltungsrationalität nachweisen zu müssen, wo diese kraft eigenen Gesetzes ins glatte Gegenteil umgeschlagen war, offenbaren sie einen urdeutschen Antimodernismus, der im "Rationalismus" und dem "utilitaristischen Denken" (Heim/Aly) den Kern allen Übels wittert. Ihre Feindschaft gegen derlei Ausdrücke abstrakter Vergesellschaftung läßt sie den im Subjekt selbst liegenden Antisemitismus als bloße Chimäre von den "objektiven" Mitteln der Naturbeherrschung, mit denen letzterer sich verwirklicht, ablösen. Gesteht der bürgerliche Wissenschaftler aber noch ein, daß ihm der Zusammenhang zwischen mörderischem Antisemitismus und der Apparatur der Selbsterhaltung ein Rätsel ist, reproduzieren Heim/Aly eine geradezu klassische antisemitische Denkfigur: Im Sinne der im "Autonomie"-Umfeld betriebenen Glorifizierung der Subsistenz gegen das Geld, welches wiederum nur als Machenschaft von Banken, Konzernspitzen und sadistischen Sozialtechnokraten über die geliebte ländliche Idiotie kommt, reiht Auschwitz sich umstandslos in die lange Reihe der Massaker ein, die der "utilitaristisch-rationalistische" Imperialismus an den Subsistenzvölkern dieser Erde verübt hat. Folgerichtig bemühen sich Heim/Aly nach Kräften, die Judenvernichtung als Aufwärmübung für einen im Falle des deutschen Sieges ihrer Meinung nach zu erwartenden, bevölkerungspolitisch hierarchisierten "Genozid" an (im Gegensatz zu den Juden) richtigen Völkern und Klassen vorzuführen.
Den Holocaust als eine Generalstabsübung militanter Bevölkerungspolitik erscheinen zu lassen, setzt die so perfide wie geistverlassene Bemühung voraus, die ermordeten europäischen Juden nach vertrautem Muster aufzuteilen: In eine Fraktion, die dem Weltsubsistenzbauern und -handwerkertum zugeschlagen wird, das den verwaisten Platz der Arbeiterklasse, als eigentlichem Widerpart des Faschismus, einnimmt und in diejenigen, die gleich Spänen, die dort fallen, wo gehobelt wird, in die Ausrottung von ersteren mehr beiläufig hineingeraten. "Einen solchen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Organisation moderner Industriestaaten und der fabrikmäßigen Vernichtung von Millionen Menschen unter deutscher Herrschaft darf es nicht geben", schrieb Susanne Heim 1991, und frohlockte ob des gelungenen "Sakrilegs", das sie wie jeder, "der behauptet, daß die Vernichtung des europäischen Judentums etwas mit Modernität und Modernisierung zu tun habe" (Heim 1991, 165; Hervorhebung von mir, U.K.), begangen zu haben glaubte. Das einzige aber, woran sie sich vergangen hatte, war der Gehalt, der diesen Feststellungen wider ihre Autorin zu entlocken wären. Ein Zusammenhang nur kein solcher besteht tatsächlich in dem Sinne, daß der Antisemitismus diejenigen, die von ihm als Verursacher der verhaßten "Modernität", der Abstraktheit gesellschaftlicher Beziehungen, identifiziert wurden, dafür mit den Mitteln ebendieser Moderne abstrafte, indem er sie dem Naturmaterial anglich, das sie durch die Abstraktion verdorben hätten. Der Umkehrschluß aber, daß zwischen der "gesellschaftlichen Organisation moderner Industriestaaten" und der "Vernichtung" kein Zusammenhang besteht, rehabilitiert den Spätkapitalismus, indem er ihm unterstellt, ein vernünftiges System der Selbsterhaltung zu sein jeder Tag straft dies aufs neue Lügen und bleibt blind gegen die Selbstaufhebung der Vernunft im Reich der zweiten Natur. Diner hat recht, wenn er feststellt: "Das Ereignis Auschwitz rührt an Schichten zivilisatorischer Gewißheit ... Die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeutet so etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation, die ... ein utilitaristisch geprägtes Vertrauen ... voraussetzt ... schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung." (Diner 1988a,7) Sein Schindler-Bewußtsein aber ignoriert jeglichen Formwechsel, den die bürgerliche Gesellschaft in der Bewerkstelligung der Selbsterhaltung auch für einen Utilitaristen sichtbar vollzogen hat, indem es diesen Formwechsel ins historische Niemandsland verbannt. Der zunehmnde Grad an Überflüssigkeit menschlicher Arbeitskraft, im Universum des Tauschwerts gleichbedeutend mit der Überflüssigkeit ihres Trägers, hat das gelobte Land, in dem der Gleichklang von "Interessenkalkül und Selbsterhaltung" den braven Bürger ruhig schlafen läßt, längst zur Fiktion verbeamteter Sozialwissenschaftler gemacht. Keiner erinnert sich mehr an Wolfgang Pohrts von einem Seufzer gefolgte lapidare Erkenntnis: "Die großen staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramme fallen daher mit der Massenexekution von Menschen zusammen, die man als Arbeitssklaven hätte ausnützen können. Gute alte Zeit, als ihr Dasein als Ausbeutungsobjekt die Menschen wenigstens davor schützte, willkürlich vernichtet zu werden." (Pohrt 1995, 125) Keineswegs aber ist es die "Moderne" an sich, die den Subsistenzliebhabern als Machenschaft der "Vordenker der Vernichtung" erscheint, die das Maß an Überflüssigkeit und das Ausmerzungsziel bestimmt; eher disponiert gerade das sich abzeichnende Ende der Moderne unter Fortbestand ihrer Mittel das Subjekt dazu, das zu werden, was es immer auch war: Antisemit. Die nur allzu begründete Existenzangst wird an denen gerächt, die dem Bewußtsein als diejenigen erscheinen, die sich auch ohne unterzugehen den Zumutungen der stets ungewiß hoffenden, aber umso auswegloseren Anpassung entziehen Geldbesitzer und Geldlose in einem Atemzug: Bankiers und Bettler, Shylocks und Towjes.
Die Streitfrage, ob die bürgerliche Gesellschaft nun in Gänze (NS inclusive) von Zweckrationalität immer verstanden als praktisch-betriebswirtschaftliche Vernunft regiert wird, oder ob es da nun einen oder gar mehrere unerklärliche "Brüche" in dieser bürgerlichen Zweckrationalität gab, ist als Frage bereits falsch, denn sie verdankt sich der Blindheit der Subjekte gegen die Bedingungen ihrer Konstitution: "Formeln, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß [vermittelt durch die menschengestalteten Charaktermasken des Kapitals; Anm. U.K.] die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit" (MEW 23, 95). Als Subjekt des Austauschs, auf sich verwiesen, auf eigenes Risiko arbeitend, erfährt es sich einerseits als übergreifendes Moment des Weltgeschehens; andererseits konstituiert die Vielzahl der Tauschakte das Ganze als einen verselbständigten Zusammenhang, der das Einzelsubjekt zum Funktionär stempelt. Die auf dem Tauschwert beruhende Produktion teilt den praktischen Handlungen ihren Nutzeffekt oder ihre Sinnlosigkeit aber erst a posteriori mit. Erst recht untergräbt die Eigenlogik des Tausches von Ware Arbeitskraft gegen das allgemeine Äquivalent kapitalistische Akkumulation als Selbstzweck die Bedingungen zweckrationalen Handelns überhaupt. So versucht das Subjekt, das sich als Souverän seiner Handlungen dünkt (und als bürgerliches kann es gar nicht anders) verzweifelt, die Gesellschaft unter seine Kategorien von Mittel und Zweck zu setzen konstitutiv blind dagegen, daß das verselbstständigte Transzendentalsubjekt "Gesellschaft" die Subjekte längst selber als Mittel für den subjektlosen Zweck der Akkumulation gesetzt hat. Sowenig Politik und Ökonomie oder Ökonomie und Kultur sich trennen lassen in hie rational und da irrational, sowenig lassen sich Rationalität und Irrationalität trennen, solange "der Produktionsprozeß die Menschen bemeistert". Antisemitismus steht nicht im Widerspruch zur sogenannten Ökonomie, wie Goldhagen, Diner und ihre alt- und ex-leninistischen Nachbeter, die immer schon den Primat der Politik über die zweifelsfreie Ökonomie verfochten, behaupten (ein strukturidentischer Fetisch treibt die von einer geistverlassenen Soziologie oder Linguistik betriebene Trennung zwischen Signifikant und Signifikat oder die zwischen Kognition und Gegenstand um) (2). Im Gegenteil: Ohne das Irrewerden des praktischen Verstandes an der Wertform, daran, daß zweckrationale Handlungen zwecklose Ergebnisse, gar kontraproduktive Krisen nach sich ziehen, gäbe es den Antisemitismus nicht in der Form, wie wir ihn kennen.
Diner spricht sowohl von sich als auch stellvertretend für die anderen Jesuiten der ökonomischen Rationalität, wenn er über jenes "universelle kognitive Unvermögen" spricht, sich vor dem Hintergrund westlich-zweckrationaler Zivilisation eine ... zwecklose Vernichtung überhaupt vorstellbar zu machen. "Jedes Denken", fährt er fort, "das auf ein interessengeleitetes, zumindest auf Selbsterhaltungsmotive des anderen gerichtetes Handeln spekuliert und sie im eigenen Handeln antizipierend aufnimmt, wird durch die Sinnlosigkeit der Vernichtung dementiert ... Dies ist der eigentlich zivilisationszerstörende Kern von ,Auschwitz" (Diner 1987b, 72; Hrvb.von mir). So sehr man über die umstandslose Verwendung der Begriffe "Zweck" und "Rationalität" für die Kriege und Hungersnöte im "Hintergrund westlicher Zivilisation" bloß noch staunen kann, so wohnt der Einschränkung, daß man zumindest immer auf den "Selbsterhaltungswillen" derer, die diese Massaker anrichteten, rechnen konnte, eine Ahnung davon inne, daß der durch Lohnarbeit und Tausch vermittelte Zusammenhang zwischen Zweckrationalität und Selbsterhaltung prekär ist: Diner dämmert, anders als den Linksnoltianern Heim/Aly, daß die deutsche Judenvernichtung die traditionellen Vorstellungen von "Handlungsrationalität" überfordert. Seine Feststellung, daß die Judenräte sich völlig im Vertrauen auf die "traditionelle Abkunft des Bösen" erst recht dem "anderen Bösen", das die zivilisatorische Krise bestimmt, hilflos hingeben mußten, trifft den Kern den Sache. Daß der Gebrauchseffekt der Arbeit, auf den Diner die normale Gesellschaft im Gegensatz zum NS begründet sieht, seine Träger zu derem tödlichen Erstaunen nicht vor Vernichtung schützte, erkennt er richtig; aber daß dieser Gebrauchseffekt der Arbeit täglich mehr aus der Welt verschwindet, deren Zivilisiertheit laut seiner Definition auf diesem Effekt beruht, ignoriert er völlig: "Die ökonomische Ausbeutung des Unterworfenen ermöglicht, eine zweckrational gerichtete und die jeweiligen Umstände kalkulierende Verhaltensweise zu entwickeln. ... Doch ein solches sozial gewachsenes und im verantwortungsethischen Sinne auf Überleben gerichtetes Handeln wurde von den Nazis schlechthin dementiert". (Diner 1991, 74)
Diner hat recht und unrecht zugleich: "Auschwitz" offenbart die Zerstörung von "Zivilisation", aber es handelt sich um die Offenbarung des selbstzerstörenden Mechanismus, der in der Wertförmigkeit jener "Zivilisation" begründet liegt, einer "Zivilisation", die man trotz ihres pathologischen Charakters nur deshalb als solche beschreiben darf, weil der Bewegung des Werts, des "wahren Subjekts" (Marx) der "Zivilisation", einstmals eine Potentialität innewohnte, die die Aufhebung der Naturverfallenheit durch den Verein freier Menschen in Reichweite brachte; eine Potentialität, die nur solange mehr als nur utopischer Wunsch bleibt (dessen Realisierung umso dringlicher nötig ist), solange der im Warentausch eingeschlossene Umschlag von praktischer Vernunft in vernichtungswütigen Amoklauf selber potentiell bleibt.
Nur solange, wie die in den vernunftlosen Gang der Akkumulation eingebannte Vernunft trotz dieser ihrer Bestimmung der Selbsterhaltung nicht gänzlich Hohn spricht, nur solange kann überhaupt von Kapitalismus und Zivilisation in einem Atemzug die Rede sein: "Hence the great civilising influence of capital; seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle früheren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie erscheinen. Die Natur ... hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden". (Marx 1974, 313; Hervorhebung U.K.) Nur indem Kapital die Naturverfallenheit aufhebt, steht es in einer mehr als nur kontradiktorischen Beziehung zu Vernunft und Selbsterhaltung: "Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die ... volle Entwicklung der Tätigkeit selbst ..., in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist". (Marx 1974, 230f.)
In dem Prozeß aber, in dem das Kapital eine stoffliche Gestalt annimmt, als System der Produktion, als Maschinerie, als "beseeltes Ungeheuer" auftritt, setzt es sich selber als "Naturnotwendigkeit". Im "fixen Kapital" der hochmaschinisierten Produktion mutieren jene "Formeln" der "Beherrschung der Menschen durch den Produktionsprozeß" zur technischen Notwendigkeit. Je mehr Natur aufhört Macht zu sein, desto mehr verwandelt Kapital, das sich "eine Welt nach seinem Bilde schafft", sich zu einer zweiten Natur, die die überwundene ursprüngliche an Grausam- und Widersinnigkeit noch überbietet. Das "geschichtlich erzeugte Bedürfnis" entpuppt sich als Neuauflage der Naturverfallenheit, als Unterwerfung unters unbeherrschbare Schicksal auf der Grundlage und mit den Mitteln aufgeklärter Naturbeherrschung. In dem zur zweiten Natur gewordenen Kapital wendet sich dessen emanzipatorisches Potential, die wie auch immer erzwungene Schaffung von Mehrprodukt, das Menschen wörtlich zu mehr gemacht haben könnte als Naturstoff, der nichts tut, außer sich in dieser rohen Form selbst zu erhalten, ins Katastrophische: Indem die Geblendeten, denen der Schein des fixen Kapitals, wie ein Naturgesetz zu wirken, zum tatsächlichen Schicksal wird, ein zur Selbsterhaltung konzipiertes System beibehalten, obwohl dieses im Selbstlauf seiner steigenden organischen Zusammensetzung aufs Menschenmaterial so souverän verzichtet, wie eigentlich die Menschen auf diese bewußtlose Form der Selbsterhaltung verzichten müßten. Es ist dies ein Höllenzirkel, der an Zwangsläufigkeit nicht zu überbieten ist: in dem Maße, in dem die Apparatur sich perfektioniert, werden statt Arbeit Arbeiter überflüssig; aber um selbst der Überflüssigkeit zu entgehen, müssen die Verbliebenen die Apparatur weiter perfektionieren, ihre Verüberflüssigung betreiben. (3)
Demgegenüber wirkt die Beschwörung einer "Gegenrationalität" als der unwahrscheinliche Grenzfall gesellschaftlicher Unvernunft, der durch einen Abgrund vom "Normalen" getrennt bleibt naiv: "Mit der von den Nazis erwirkten Annullierung jener ... Handlungsrationalität ist jene historische Krise charakterisiert, für die der Nationalsozialismus steht ... Der Kernbereich jener ,historischen Krise bleibt ... verborgen, weil die rationalem Handeln im Sinne von Selbsterhaltung vorausgehenden Denkformen weiterhin zu den fundamentalen kognitiven Bausteinen unserer Lebenswelt gehören müssen". (Diner 1991, 74f.) Solchermaßen als einmalige Entgleisung, als Grenzfall, kann nur die Tat selber exterritorialisiert bleiben, nicht aber der Zustand von Naturverfallenheit, der sie überhaupt ermöglichte. Verborgen bleiben muß der "Kernbereich jener Krise" deswegen, weil sie immer noch andauert, ja die verdrängte Grundlage der "Lebenswelt" selber ist. Stur hält das Bewußtsein, wie es Diners Formulierungen unfreiwillig ausplaudern, an der Gleichung Ökonomie = Selbsterhaltung = Vernunft fest, um nicht sehen zu müssen, daß mit der sinkenden Bereitschaft des Kapitals auszubeuten, d.i. in seiner ohnehin bornierten Form wenigstens der physischen Reproduktion seines lebendigen Bestandteils zu dienen, das "traditionell Böse", wie es gemäß der Dinerschen Definition selbst noch der Sklavenhaltung der frühen Neuzeit eigen war, zugunsten der "Gegenrationalität" ausstirbt. Zivilisation und Wertform sind nur solange durch ein loses Band verknüpft, wie die Apparatur der Selbsterhaltung, das konstante, fixe Kapital der lebendigen Arbeit noch im großen Maßstab bedurfte. Dieses Band ist gerissen, weil die organische Zusammensetzung von Kapital und Subjekt ein Maß überschritten haben, jenseits dessen Selbsterhaltung und Vernichtung sich nicht mehr von einander trennen lassen, obwohl der Stand der Naturbeherrschung jegliche Notdürftigkeit, die in archaischen Zeiten vielleicht die Tötung des Futterkonkurrenten verlangte, längst abgeschafft hatte: "Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über die Natur, der alles in bloße Natur verwandelt" (Horkheimer/Adorno 1988, 195). Dieses Realparadox: vollendete Unfreiheit im Zustande fortgeschrittenster Befreiung von Naturnotwendigkeit besteht, solange das "automatische Subjekt" (Marx) prozessiert, und den so dringend erforderlichen "Verein freier Menschen" zur unwahrscheinlichen Option der Geschichte macht. Die Alternative, ob der Nationalsozialismus nun die Verwirklichung der inhärenten Möglichkeiten "westlicher Zivilisation" oder ein Bruch mit ihr war, ist keine mehr. Nachdem das Kapital nicht daran gehindert wurde, sich selbst als reales Gemeinwesen zu setzen, zerstörte es den Gebrauchswert der von ihm gestifteten Vergesellschaftung, der darin bestanden hätte, aus der Naturverfallenheit herauszuführen. Weil der Nationalsozialismus zur Gänze beides in einer Gestalt ist Entfaltung der barbarischen Möglichkeiten des Kapitals, die als Bruch erscheint bzw. Bruch in der Verfolgung seiner innersten Konsequenz übersteigt er das Denkvermögen derjenigen, die glauben, daß im Kern der bürgerlichen Zivilisation nichts geschehen wäre, als der Begriff des Kapitals mit seiner stofflichen Gestalt identisch wurde, als sich die Formeln in Automaten inkarnierten.
Der Nationalsozialismus indiziert keinen "Zivilisationsbruch", sondern einen säkularen Zivilisationsschwund; er ist das krasseste Exempel dafür, daß die Zweckrationalität, Geschäftsgrundlage des bürgerlichen Bewußtseins, auf wenn überhaupt Mittelrationalität schrumpft, daß zwischen Naturbeherrschung und Selbsterhaltung kein notwendiger Zusammenhang mehr besteht ein Rätsel, das jeder bloß historischen "Rekonstruktion" hartnäckig standhält. Wahr ist, daß Auschwitz aus praktischer Vernunft heraus nicht zu erklären ist. Unwahr aber ist, daß die praktische Vernunft Auschwitz widerspricht: "Die neue Ordnung des Faschismus ist Vernunft, die sich selbst als Unvernunft enthüllt". (Horkheimer 1980, 387)
Einem Max Weber war noch aufgefallen, daß Zweckrationalität zunehmend auf Richtigkeitsrationalität zusammenschrumpft, auf eine blinde Anpassungsrationalität, die sich nicht mehr auf ihren eigenen Wirkungszusammenhang erstreckt. Wenn Rationalität nichts mehr über ihren Zweck weiß und vermag, entfällt die Grundlage der Historiographie. Der Historiker aber merkt erst etwas davon, wenn er irritiert feststellen muß, daß es einerseits offensichtliche Kontinuitäten gibt, die den NS-Staat in die Geschichte der warentauschenden Gesellschaft des 20. Jahrhunderts eingemeinden, und andererseits Phänomene wie die offensichtlich irrationale Kombination von Kriegserfordernis und Endlösung, die aus diesem Kontinuum herauszufallen scheinen. Nur einer Sache ist sich der Historiker gewiß: Ökonomie ist rational.
"Rigoroser Ökonomismus" (Diner 88b, 34) ist deshalb der schwerste Vorwurf, den Historiker erheben können. Von diesem wollte Diner auch Horkheimer reinigen: Nur bis zu den ersten Nachrichten über die Massenvernichtung habe Horkheimer das Wesen des Nationalsozialismus im Formwandel des liberalen zum autoritären Staat gesehen, der der Zirkulationssphäre den Garaus mache. Wie für alle, die den Tauschwert für ein ens rationalissimum halten, konnte es für Diner nicht angehen, daß Horkheimer "dieselbe Rationalität" im Antisemitismus am Werke sieht, die ursprünglich den Juden die Emanzipation gebracht hatte. Denn überhaupt darüber nachzudenken, ob der Zusammenhang von freiem Tausch und Konzentration des Kapitals nicht einen Formwechsel von Herrschaft herbeiführt, der auch dem Antisemitismus eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft verleiht, verbietet sich dem positivistischen Bewußtsein. Ihm entgeht, daß mit der tatsächlichen Entmachtung der Charaktermaske "Jude" und dem Weiterbestehen des krisenhaften Charakters von Gesellschaft der traditionelle Antisemitismus zum frei delirierenden sich entfaltet. So wenig Personen tatsächlich nach freiem Willen über den Gang der Verhältnisse entscheiden (sondern nach ohnmächtiger Willkür), desto okkulter muß dem Subjekt die Verschwörung erscheinen, desto weniger Fläche benötigt die Projektion, desto monströser und aufklärungsresistenter das Mißverhältnis zwischen phantastischer Idiosynkrasie und ihrem tatsächlichem Opfer. Keineswegs haben also, wie Diner meint, Horkheimer und Adorno nach 1942 ihrer Erklärung des Antisemitismus aus der Politischen Ökonomie des Kapitalismus (in Diners Augen eine zweifelsohne "rationale") eine ums "Irrationale" bemühte psychoanalytische Deutung, die der "pathischen Projektion", inkonsistenterweise "hinzugefügt". Vielmehr begründet eine die andere: das Anwachsen der Projektivität ist in der zweiten Natur, in der der Wahn nicht auf unbewältigbare Natur zurückgeht, sondern von deren kapitalistischer Bewältigungsform erst erzeugt wird, nicht zu trennen von der Veränderung in der Vergesellschaftung selbst. Umgekehrt ist das Verschwinden der Zweckrationalität von Naturbeherrschung, die dem Kapital einst auch innewohnte, nur dadurch möglich, daß das Marktsubjekt sich seiner Regression in bloße Natur als modernes Stammeswesen geradezu entgegensehnte, um sich der Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Subjektivität zu entziehen: zwar Herr seiner Entscheidungen zu sein, aber gerade damit auch prospektives Opfer der tauschvermittelten Freiheit zu werden. Horkheimer/Adorno beharren darauf, daß die fiktive Rassenzugehörigkeit aus der Notwendigkeit der "Selbstbehauptung der bürgerlichen Individuen" entspringt, welche sich wegen der erahnten Unmöglichkeit einer zweckrational geplanten Selbsterhaltung zum "barbarischen Kollektiv zusammenschließt". (4)
Dennoch versteift sich das positivistische Bewußtsein darauf, das ius sanguinis für das glatte Gegenteil des ius soli zu halten und den eliminatorischen Antisemitismus als Bruch mit den Erfordernissen des "normalen" Kapitalismus. Es fällt ihm nicht mehr auf, wie das fixe Kapital die Einheit von sese conservare und sese annihilare erzwingt, solange Menschen das paradoxe Schicksal des variablen Kapitals akzeptieren, sich durch eigene Tätigkeit zu entwirklichen. Aber gerade der Wunsch, sich dieses Paradoxes zu entledigen, indem man seinen vermeintlichen Verursacher aus der Welt schaffte, ist es, der das Mysterium der Koinzidenz von sich verschlechternder Wirtschafts- und Kriegslage und unermüdlicher Anstrengung zur Endlösung begründet. Allein die Begriffe "Endsieg" und "Endlösung" sollten einen darauf stoßen, daß die paranoide Ausrottungswut nur noch befeuert wird, je mehr ihr der End-Erfolg versagt bleibt. Die Plausibilität der allmächtigen jüdischen Weltverschwörung wird geradezu untermauert dadurch, daß man noch unter Bedingungen der Kriegswirtschaft nicht zufällig ein autoritärer Traum der Deutschen um die Früchte der Anstrengung betrogen zu werden droht.
Eindrucksvoll entwickelt Ulrich Enderwitz diesen Zwangsmechanismus des Wahns, der der zutiefst widersprüchlichen Konstitution des autoritären Staates deutscher Prägung, des "Volksstaates" entspringt; einer Konstitution, die ihn einerseits zum "nationalsozialistischen" Repräsentanten der Volksgemeinschaft macht, d.h. der auf eine staatliche Garantie ihres fürderhinnigen Gebrauchswerts für das Kapital dringenden Arbeitskraft, ihn andererseits aber, anders als der liberale Staat, in die unmittelbare ökonomische Pflicht nimmt, in deren Erfüllung er das "Naturgesetz" der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals höchstselbst zu exekutieren hat. Damit aber wird wiederum die politische raison d´être des NS-Staates prekär: "In der Psychopathologie des im vollen Gang seines bürokratisch normalen Funktionierens vom Wahnsinn geschüttelten faschisierten Leviathan" ist es möglich, "daß die restlose ,Beseitigung seines in der Ersatzfigur des Liberalitätsjuden verkörperten internen Widerspruchs und die Herstellung einer widerspruchsfreien Volksgemeinschaftsfront für den faschistischen Staat mit zunehmender Aussichtslosigkeit des Krieges zur magischen Bedingung und zum okkulten Unterpfand des gegen alle Empirie und Wahrscheinlichkeit beschworenen ,Endsieges wird. Dafür spricht der gegenläufige Einfluß, den das Kriegsgeschehen auf den Massenmord an den Juden ausübt, die Art und Weise, wie sich der faschistische Staat durch den unaufhaltsamen Weg der militärischen Niederlage zu seinem Vernichtungsplan eher noch anspornen und zusätzlich motivieren als von ihm abbringen und zu einem Abbruch der Operation bewegen läßt. Und dafür spricht auch das durch leitende Chargen der Operation vielfach bezeugte Pathos, das den Massenmord zu einem aufopferungsvollen Dienst am Volk, zu einer asketischen Selbstreinigungszeremonie des nationalsozialistischen Deutschland erklärt". (Enderwitz 1991, 155)
Fakten, an denen die Historiographie jedweder coleur regelmäßig verzweifelt wie die Zurücklassung von schwerem Militärgerät zugunsten des Abtransports der dortigen Juden bei der Räumung der Insel Rhodos erhalten so einen "Sinn", der allerdings den traditionellen Inbegriff von historischen Sinn ad absurdum führt. Ohne daß das subjektive Leid, das das aufstrebende Kapital einstmals als Produktionsverhältnis über die Menschen gebracht hat, dadurch irgendwie gerechtfertigt wäre, blieb in ihm doch die "ihrerseits unbegreifliche, schlicht vorgegebene Prämisse" erhalten, daß es eine "Emanzipation von blinder Naturbefangenheit" ermöglichte. "Die Abschaffung der Arbeit, die das Kapital geleistet hat, entzieht der Herrschaft von Menschen über Menschen den im Verhältnis zur Natur liegenden Grund" (Pohrt 1995, 263f.) und somit jeden sinnvollen Grund, den Theorie immer nur a posteriori für die Herrschaft anführen könnte. Klassisch wird Herrschaft mit der Unabschaffbarkeit der Arbeit und der mit ihr einhergehenden Notwendigkeit von Ungerechtigkeit in ihrer (Ver)teilung begründet. Grundlos im Sinne von begründungslos wird Herrschaft aber da, wo ihr logisches Ende erreicht ist, wo die Abschaffung von Arbeit als Naturnotwendigkeit naherückt. Wenn nach dem Wegfall einer außerhalb menschlicher Macht liegenden Ursache, wie sie die unbeherrschte Natur war, unbeherrschte Gesellschaftlichkeit sans phrase, automatische Subjektivität, sich der Menschen bemächtigt, dann kann und muß Theorie den Ursprung des Verhängnisses, diesen Umschlagspunkt selber, zwar noch festhalten, darf und kann aber nicht den Folgen jenes Umschlags noch Sinn abgewinnen. Mehr als eine Sequenz von überflüssigen Katastrophen bietet das gesellschaftliche Verhältnis, das Marx als Vorgeschichte gekennzeichnet hatte, dann nicht mehr, nachdem diese "Vorgeschichte" sich angeschickt hat, die "Geschichte" als bewußten Akt der an ihr Beteiligten, zu vereiteln.
So sehr Auschwitz ein originäres, in dieser Form nicht wiederkehren könnendes Resultat des deutschen Volksstaates war, so sehr kann "Zivilisation" nur noch die globale Aufhebung des Bannes, ohne den Auschwitz nicht möglich gewesen wäre, bedeuten. Der Kapitalismus bedarf spätestens seit das fixe Kapital selber die Gestalt eines umfassenden Gebrauchswerts angenommen hat keiner äußerlichen, mysteriösen Zutat, um in sinnlose Vernichtung umzuschlagen. Die Identität von Selbsterhaltung und Vernichtung stiftet der "prozessierende Widerspruch" aus eigener Dynamik. Der sogenannte deutsche Sonderweg ist keine Abweichung von der kapitalistischen Normalität, sondern deren äußerste Konsequenz. Erklärungsbedürftig wären vielmehr die Umstände, die in anderen autoritären Staaten die mörderische Dialektik des fixen Kapitals daran gehindert haben, sich einen derart adäquaten Ausdruck zu schaffen, wie es Auschwitz war. Was immer diese Umstände waren und noch sind, Relikte der "heroischen Ära" des Bürgertums oder die versuchte Abschaffung des Privateigentums im Sozialismus; ein Ende der durchs Kapital vermittelten Naturverfallenheit von Gesellschaft ist nur noch vom "Verein freier Menschen" zu erwarten vom Kommunismus.
Literaturangaben:
Diner, D. 1987a: Einleitung des Herausgebers, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, Frankfurt
1987b: Zwischen Aporie und Apologie, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt
1988a: Einleitung des Herausgebers, in: Zivilisationsbruch, Frankfurt
1988b: Aporie der Vernunft, in: Zivilisationsbruch, Frankfurt
1991: Die Wahl der Perspektive, in: W. Schneider (Hg.): "Vernichtungspolitik", Hamburg
1992: Rationalisierung und Methode, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 1992
Enderwitz, U.: 1991: Antisemitismus und Volksstaat, Freiburg
Geisel,E. 1992: Die Banalität der Guten, Berlin
Goldhagen, D. J. 1996: Hitlers willige Vollstrecker, Berlin
Heim, S. / Aly, G. 1987: Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine Ökonomie der Endlösung? In: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd.5, Berlin
Heim, S. 1991: Bevölkerungsstruktur und Massenmord. Besprechung von Z.Bauman: Modernity and the Holcaust, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd.9, Berlin
Horkheimer, M. 1980: The End Of Reason, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 1941, Reprint, München
Horkheimer, M. / Adorno, T. W. 1988: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt
Küntzel, M. et al.: 1997: Goldhagen und die deutsche Linke, Berlin
Marx, K. 1974: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin
MEW: Marx-Engels-Werke, Berlin 1956 ff.
Pohrt, W. 1995: Theorie des Gebrauchswerts, Berlin
Uli Krug (Bahamas 25 / 1998)
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