Titelbild des Hefts Nummer 25
Endstation Populismus
Heft 25 / Frühjahr 1998
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Nr. 164 145, ein Stalinist

Die letzten fünf Jahre seines Lebens wird der ehemalige Auschwitz-Häftling mit der Nummer 164 145 als Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit unter dem Decknamen "Thomas" geführt. Als 1984 – ein Jahr nach dem Tod des Schriftstellers, Zeichners und Feuilletonisten – das "Volkshaus Berlin-Weissensee" in "Kulturhaus Peter Edel" umbenannt wird, ehrt die DDR damit einen, bei dem es verwundert, daß er erst 1974 angeworben wurde, um ab 1978 Informant zu sein. Das bekennende SED-Mitglied, heute als "Hardliner" bezeichnet, macht Zeit seines Lebens in der DDR keinen Hehl aus seinen Ansichten. Um so erstaunlicher ist, daß seine Informantentätigkeit nun ausreichen soll, den Namen des Überlebenden mehrerer Konzentrationslager zu tilgen. Erstens war Peter Edel wohl kaum Ansprechpartner für DDR-Oppositionelle (er zeigte sich "erleichtert" über die Ausbürgerung Biermanns 1976), zweitens hätten schon einige Sätze aus seiner zweibändigen Autobiographie "Wenn es ans Leben geht" ausgereicht, eine Umbenennung zu rechtfertigen; mal ganz abgesehen von der Frage, ob das Kulturhaus seinem Namen überhaupt gerecht wurde.

Aber hier liegt der Fall anders: "Die Tatsache, daß Peter Edel ein Jude ist, rechtfertigt nicht, gutzuheißen, daß er Spitzeldienste für die Stasi geleistet hat" (1), meint ein CDU-Lokalpolitiker. Edels Leben wird zu einer dämonischen Doppelexistenz umgedichtet und gleichzeitig auseinandergerissen: Hier der Nazi-Verfolgte, dort der Stasi-Spitzel. Doch alles Gerede über die "zwei Leben des Dichters" offenbart stets auch die Motivation seiner späten Jäger. Für sie "ist" Edel Jude und bleibt dies. Seine Biographie paßt nicht in die neue politische Geographie der Hauptstadt, weder als "Opfer", als das er sich selbst nie verstand, noch als "Täter". "Nun ist Peter Edel ein schwieriges Schicksal", schreibt in einem Brief Max Görner, der den Stein ins Rollen bzw. dem schwierigen Schicksal einen Namen gab. Nicht Edel hatte ein schweres, nein er ist (!) ein schwieriges Schicksal, eines, an das nicht nur Görner, Vorsitzender eines "Interessenvereins" mit dem zukunftsträchtigen Namen "Kulturhaus Weissensee" – hier ist der Name schon getilgt –, nicht mehr erinnert werden will: Der Jude Peter Edel wurde nach Auschwitz und wegen Auschwitz Kommunist.

"Schützengrabenreligion des Entronnenen"

Nicht nur in seinem 1972 verfilmten Roman "Die Bilder des Zeugen Schattmann" beschreibt Edel ein traumatisches Erlebnis: Die letzte Begegnung mit seiner Frau. Dieses Erlebnis ist sein zentrales Thema. Esther im Häftlingskittel auf der schneebedeckten Treppe des Todesblocks 10 in Auschwitz, diese eine Minute, bevor sie auf den Lastwagen steigen mußte mit ihren Kameradinnen, zur Abfahrt nach Birkenau – in die Kammern (2),beschreibt er es kurz in seiner Autobiographie. Edel will am elektrisch geladenen Zaun Selbstmord begehen, wird aber von Mitgefangenen zurückgehalten. Später, im Block, auf der Pritsche, hatte ich Esthers Gesicht gezeichnet, ihre in ein Nirgends gerichteten Augen, dieses Bildnis also. Damit begrub ich sie, darin vergrub ich meinen Schmerz. Für alle Zeit, dachte ich. Es gibt kein Wiedersehen, kein Wiederauferstehen. Edel wußte: Die Wahrscheinlichkeit, sich in Auschwitz nach der einmal erfolgten Trennung wiederzusehen, war äußerst gering. In seiner Erinnerung an den Versuch, mit dieser traumatisierenden Erfahrung weiterzuleben, bringt Edel ein Stück der Realität von Auschwitz auf den Begriff.

So wird Edel nach seiner Befreiung zum Vertreter jener "Schützengrabenreligion des Entronnenen", (3) wie der "Frankfurter Westendphilosoph" (4) Adorno es formulierte: In seiner Entscheidung für den Kommunismus will er die in Auschwitz erlebte vollendete Sinnlosigkeit aufheben. Das kann ihm nicht vollständig gelingen. In der mehrfach wiederholten Beschreibung der letzten Begegnung mit Esther verarbeitet Edel, was später von Dan Diner als "Zivilisationsbruch" bezeichnet wurde: "Die Überlebensabsicht der Opfer wurde zum willfährigen Instrument der Nazis; jede Handlung, und war sie aller menschlichen und gesellschaftlichen Erfahrung nach noch so rational und erfolgversprechend aufs Überleben ausgerichtet, führte notwendig in die Vernichtung. So war der Erfolg des Überlebens fast ausschließlich dem Zufall geschuldet und keiner wie auch immer gearteten Rationalität." (5) Edel weiß darum, er teilt diese Erfahrung mit allen KZ-Häftlingen.

Die Ambivalenz der Kommunisten

Viele der wenigen, die Jüdinnen und Juden halfen, waren in der Kommunistischen Partei. Als Zwangsarbeiter bei Siemens lernt Edel den Genossen Gall kennen. Damals geprägt vom Hass auf alles und jeden, erfahren Peter Edel und seine Frau von ihm Solidarität. Sie erhalten von Gall Fabrikausweise ohne Namenszusätze, die sie als jüdisch kennzeichnen, was ihnen größere Bewegungsfreiheit gibt. In seiner Autobiographie berichtet Edel von einem Gespräch mit Gall über die Situation der Juden. Der später von den Nazis ermordete Kommunist sagt: Fast noch schlimmer war es oft, wenn eingeschüchterte Menschen, sogar manche Genossen, die man von früher genau zu kennen glaubte, so ein bißchen Hilfestellung – Verstecke ausfindig machen, paar Lebensmittelkarten besorgen, vor Denunzianten warnen und so weiter – als etwas Außergewöhnliches ansahen. Mag sein, daß sie’s ja wegen ihres gelben Flecks so ansehen mußten, überdankbar, wenn man ihnen die heimlich in die Hand drückte, vielleicht noch zuflüsterte: Behalt den Kopp oben, siehst ja, wir sind auch noch da! Mit ansehen müssen, wie die sich dann kaum die Tränen verbeißen konnten – nee, das war mit das Schlimmste. Solche Stellen finden sich bei Edel häufiger als bei anderen DDR-Autoren. Die Massenbasis der Nazis leugnet er nicht – in Galls Worten das Eintauschen des Klassenstandpunkts gegen den Rassenschandpunkt – und auch nicht, daß er bis zur Begegnung mit dem Genossen Gall ein Deutschenhasser war.

Diese Doppeldeutigkeit, die vor allem Edels eigene Ambivalenz zu beschreiben scheint, treibt er auf die Spitze, wenn er das offizielle Bild des paternalistischen Kommunisten, der den Juden hilfreich zur Seite steht, präsentiert – um es sofort zu demontieren. Edel läßt Gall anschließen: Dabei konnten wir auf sie [die Juden, T.K.] beileibe nicht unser Hauptaugenmerk richten. Bei aller Solidarität – es gab noch mehr Gekennzeichnete, und es kam vor allem darauf an, den Widerstand in den Betrieben zu organisieren, unter den Fremdarbeitern [Hervorh. im Original] Bundesgenossen zu finden. Das ist die Linie der Partei, der (zu spät) klar geworden war, daß der von einer Bevölkerungsmehrheit getragene Nationalsozialismus von innen nicht zu besiegen sein würde. Nun konzentriert man sich auf den Widerstand in den Betrieben, auf Sabotage. Die einzige Basis dieses Widerstands sind die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die aus den von Deutschland besetzten Gebieten deportiert, aber – wie in diesem Falle – auch zwangsverpflichtete deutsche Jüdinnen und Juden. Nach den ersten Deportationen waren dies fast nur noch junge Menschen, die den Abtransport ihrer Eltern miterlebt hatten. Sie alle waren Gekennzeichnete – sie mußten auf allen sichtbaren Kleidungsstücken entweder den gelben Stern, die Buchstaben P für polnisch oder OST für Ostarbeiter tragen. Junge Leute ohne politische oder klandestine Erfahrungen wie Peter Edel und seine Frau Esther, die in der Gestalt des Kommunisten inmitten der Vernichtung der Vernunft begegnen.

Ob es dieses von Edel beschriebene Ergänzungsverhältnis von politischer Erfahrung des Kommunisten, dem seine Basis abhanden gekommen war und dem Haß der Zwangsarbeiter real gegeben hat, sei dahingestellt. Die Tatsache, daß der Widerstand in Deutschland während des Krieges vor allem von Zwangsarbeitern getragen wurde, ist ebenso unbestreitbar wie die Rolle der Kommunisten bei der Organisierung des Widerstands in den Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern.

Wie nicht wenige Überlebende verbindet Edel seine subjektive Erfahrung mit einer antikapitalistischen Überzeugung und einer Begeisterung für die Sowjetunion unter Stalin, deren historische Bedeutung sich für ihn bei der Zerschlagung Hitlerdeutschlands zeigte. Der dahinterstehende Gedanke, daß es, um die Deutschen zu besiegen, das Äußerste an militärischer Härte und Durchsetzungsfähigkeit bedurfte, drängte sich schon vor Stalingrad auf; und danach erst recht. Auch heute kann der Realitätssinn dieser Einschätzung nicht geleugnet werden, ebensowenig überrascht es, daß daraus nicht nur bei Edel ein autoritäres Staatsverständnis resultierte. Die DDR wird für ihn nicht trotz, sondern wegen ihrer autoritären Strukturen, in denen er sich einigermaßen sicher fühlen konnte, die richtige Konsequenz; er sieht in ihnen den Bruch mit den volksgemeinschaftlichen Strukturen, die ihn nur zufällig nicht das Leben gekostet haben.

Lob der DDR

Erst 1949 tritt Edel in die SED ein. Nach der Befreiung aus dem KZ Ebensee bleibt er zunächst in Österreich und geht 1948 zurück nach Berlin. In Westberlin sieht Edel einen Dokumentarfilm über das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal; er selbst hatte in einem der von den Amerikanern geführten Folgeprozesse als Zeuge ausgesagt. Über den Film schreibt er: Der [sowjetische Chefankläger, T.K.] Rudenko fragt den "Zeugen" Keitel, ob es wahr sei, daß er Sätze geäußert und unterschrieben habe, die besagten, daß "Menschenleben im Osten absolut wertlos" [Hervorh. im Original] seien. Erst nach wiederholter Aufforderung, diese Frage zu beantworten, bequemt sich Keitel zu einem wie aus der Pistole geschossenen "Ja!" ... Auf dieses "Ja" des Mörders Keitel, "ja, Menschenleben im Osten sind absolut wertlos", brüllt man in den hinteren Reihen des Sportpalastkinos: "Bravo! – Bravo!" Brüllt es so laut, so voll sadistischer Freude, wenigstens im schützenden Dunkel sein Mütchen kühlen zu können, daß selbst der zwei Reihen vor mir sitzende amerikanische Offizier seiner Entrüstung Luft macht, daß ein junges jüdisches Mädchen, dessen nackter Unterarm mit der Birkenauer Häftlingsnummer gezeichnet ist, mit vor Entsetzen heiserer Stimme "Mörder. Mörder!" durch den Saal ruft, was das halbe Parkett mit teils amüsiertem, teils höhnischem Gelächter beantwortet.

Edel weiß, daß er Stellung beziehen muß: Doch je heftiger andere Wohlmeinende ihn loben – "Sie mit ihrer künstlerischen Begabung, könnten doch bei uns ..." –, je häufiger sie im gleichen Atemzug diesen Mischmasch von "freiheitlich-totalitär-antideutsch-prorussisch" von sich geben, desto mehr fühlt er sich bestärkt, sich nicht abbringen zu lassen von der Geisteshaltung, der Menschen, die ihm einmal als einzige die Hand gereicht hatten.

Wie die DDR auch immer gewesen sein mag, für den Überlebenden Peter Edel, der zunächst als Feuilletonist und Kritiker arbeitete, ist sie allemal besser als Westdeutschland. Besagte Filmveranstaltung ist eine der ersten Veranstaltungen der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", einer antikommunistisch-terroristischen Vereinigung, und in der Westberliner Öffentlichkeit wird nicht über die Sympathiekundgebungen für die Nazimörder debattiert, sondern darüber: Während der Diskussion versuchten SEDistische Provokateure unter Führung des Weltbühnen-Literaten Peter Edel durch vorher festgelegte Zwischenrufe wie "Gebt uns Gewehre und schickt uns alte Frontsoldaten in die Ostzone", Verwirrung und Unruhe hervorzurufen. Nach solchen Erfahrungen tritt Peter Edel in die Partei ein. Ab und an wird in seinen die DDR preisenden Worten die andere, in einer simplen aber bedeutsamen Negation begründete Wahrheit über die DDR durchscheinen: Sie ist einfach nicht das Land, in dem während des Majdanek-Prozesses frei umherlaufende SS-Aufseherinnen ihre Opfer ankeifen: "Und da lebt ihr noch?"

Edel sagt deshalb auch nicht nein, als er 1965 von den Regisseuren Wekwerth und Bellag gebeten wird, in Peter Weiss’ "Ermittlung" den Part des – selbst unter Anklage stehenden – "Zeugen Nummer 1" zu lesen. Unter den vielen Prominenten, die an dieser berühmt gewordenen szenischen Lesung teilnahmen, war Edel der einzige, der auf dieser Bühne die eingeätzte Auschwitzer Häftlingsnummer trug. Edel vermutete eine Absicht dahinter, daß ausgerechnet er einen Mörder lesen sollte, konnte sich aber nicht erklären, welche. Um der Sache willen weigerte ich mich nicht, aber wohl war mir nicht dabei.

"Haltet aus. Die Rote Armee ist nah. Stalin."

Für Edel ist der Krieg nicht am 8. Mai 1945 beendet – die Voraussetzungen für Auschwitz bestehen im Westen schließlich kaum gebrochen fort. Für Edel steht fest: Die einzige Möglichkeit, alles zu tun, damit es nicht wieder geschähe, besteht unter den gegebenen Bedingungen im Offenlassen der Wunden. Politisch verkörperte die DDR jene offene Wunde, die Erinnerung, die im Westen nichts galt. In der DDR war Peter Edel einer, der nicht allzusehr hofiert wurde, eben weil er die BRD mehr haßte als er die DDR liebte. Über 26 Jahre in der DDR notiert er 1975: In ihnen konnte ich anfangen, wirklich zu leben.

Für Edel können aus Auschwitz nur universelle Konsequenzen gezogen werden: Er verweist deshalb auf Zusammenhänge, die auszusprechen im Westen schon immer unerwünscht war: Darum heißt für mich über Auschwitz schreiben auch vom KZ-Stadion in Santiago de Chile schreiben, darum kann mich die stillste und friedlichste Nacht nicht die anderen vergessen lassen, nicht die alten, nicht die neuen Kristallnächte, nicht die damaligen noch die heutigen Scheiterhaufen, aufgeschichtet zur abermaligen Vernichtung. Mit Auschwitz ist nicht nur etwas zu Ende gegangen, etwas Neues hat begonnen. Es ist immer noch Krieg, die Rede von den einstigen Gegnern kann Peter Edel nur lächerlich finden. Gerade aus dieser Haltung heraus wird er zum erbitterten Antizionisten, aus Enttäuschung über die prowestliche Politik Israels.

Max Görner, der den Namen Peter Edel erst in dem Buch "Verschlußsache Literatur" (6) entdeckt hat, liegt schon richtig, aber anders als er meint: Edel paßt tatsächlich nicht ins neue Berlin; er ist weder vereinnahmbar für einen Antifaschismus, der nur noch humanistische Botschaft sein will und sich in "Mahnung und Erinnerung" gefällt, noch ist er deutschnational genug gewesen, als daß man ihm großzügig – wie etwa Victor Klemperer – nachsehen würde, der "totalitären Faszination" (Spiegel) Stalins erlegen zu sein. Im Gegenteil: Edel distanziert sich nicht einmal im Nachhinein von Stalin, weil er an die Tausende kriegsgefangenen, im Lager Sachsenhausen eingesperrten, mit Maschinengewehren niedergemähten oder zum Galgen geführten sowjetischen Soldaten denken muß, deren letztes Wort, das sie über den Appellplatz riefen, oft nur das eine war: Stalin!, und weil er an die vom Tod gezeichneten, in Lumpen gehüllten Frauen und Mädchen im Lager Birkenau denken muß, wie ihnen einmal ein Fetzen bedruckten Papiers zugesteckt wurde, auf dem stand: "Haltet aus. Die Rote Armee ist nah. Stalin." Wie sich die Gesichter, die eingefallenen Wangen, die matten Augen belebten, wie sie sich umarmten, als Schwestern zu tanzen anfingen, während vor den Barackenfenstern der Rauch aus den Kaminen gebirgig aufquoll.

Zivilgesellschaftlicher Antikommunismus

Heute, im sich selbst als "Zivilgesellschaft" affirmierenden Deutschland gilt die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Massenvernichtung, anders als in der DDR, nicht als Anlaß, dem Kapitalismus jede (moralische) Legitimation zu bestreiten, sondern als Angebot zur konformen Integration. Auch über den Zusammenhang von "Zivilisationsbruch" und "westlich-zweckrationaler Zivilisation" (Diner) soll inzwischen nicht mehr nachgedacht werden. Der Nationalsozialismus wird als komplementäres Phänomen zum Kommunismus mit diesem den Nachtseiten der "Moderne" zugeschlagen. So wird Auschwitz noch einmal für deutsche Zwecke in Dienst genommen: Als Aufforderung zum Verzicht auf jeden herrschaftskritischen Gedanken. In Form des zivilgesellschaftlichen Antitotalitarismus findet diese Funktionalisierung ihren konsequenten Ausdruck. Die heutige dienstfertige Gleichsetzung von Hitler und Stalin, das reflexhaft-automatische Bedürfnis, wenn jemand Auschwitz sagt, sofort Gulag anfügen zu müssen, verbindet mit seinen Vorläufern aus der Zeit des Kalten Krieges die Möglichkeit, sich quasi im demokratischen Zentrum der Geschichte wähnen zu dürfen. Von dort aus betrachtet, erscheint der Rest der Welt als monströse Abweichung.

Der traditionelle Totalitarismusbegriff bezweckte mit seiner Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus den abstrahierenden, auf strukturelle Ähnlichkeiten orientierten Vergleich. Kommunisten und vor allem natürlich Nazis nach 1945 galten ihm als Objekte einer Bekehrung bzw. "reeducation". Im Vordergrund standen als veränderbar begriffene Ideologien, Meinungen, Entscheidungen. Darum wurde der Kalte Krieg immer auch mit einem gewaltigen Aufgebot an leicht zugänglicher Propaganda, z.B. in diversen "Zentralen für politische Bildung", "Radio Liberty" etc. geführt. Der moderne Antitotalitarismus setzt dagegen auf ein völlig anderes Subjekt, eines das entweder Täter oder Opfer oder beides zugleich ist, dessen Prägung als weitgehend Identitär begriffen wird. Für dieses Subjektverständnis stehen Moral und persönliche Integrität im Vordergrund: So kann sich beispielsweise ein SS-Aufseher durchaus anständig verhalten haben und ein inhaftierter Kommunist ganz und gar nicht heldenhaft. Von Intentionen und Zwängen entledigt, verschwindet auf diese Weise der Schrecken des Konzentrationslagers, jene Zufälligkeit des Überlebens, von der Peter Edel Zeugnis ablegte. Im zivilgesellschaftlichen Antitotalitarismus wird schließlich der Kampf gegen den deutschen Faschismus post festum zum "clash of civilizations", der westlichen und der östlichen umgedeutet. Die Sowjetunion und Deutschland finden sich darin auf der selben Seite.

In diesem Sinne wird Peter Edel auch als jüdischem Verfolgten von den heutigen Wohlmeinenden Narrenfreiheit zugestanden: So war sie eben, die Moderne. Demzufolge ist mit 1989 eine Epoche zu Ende gegangen, die sowohl von der deutschen Teilung als auch von Auschwitz gekennzeichnet war. Die Teilung wurde als Strafe für die deutschen Verbrechen empfunden, die mit dem Wort Auschwitz auf den Begriff gebracht wurden. Nun, da die vermeintliche Strafe abgegolten ist, soll der Beweis erbracht werden, daß wir jetzt in der Epoche nach der Epoche von Auschwitz leben.

Zu deren Merkmalen gehört die Negierung der Möglichkeit, eine theoretische Wahrheit über Auschwitz formulieren zu können. Vor allem aber wird den Erfahrungen der Überlebenden der unmittelbare Gegenwartsbezug abgesprochen, indem sie hinter eine Zeitgrenze verbannt werden, welche die entfaltete Zivilgesellschaft vom "Zeitalter des Totalitarismus" scheidet. Lebensläufe wie der von Peter Edel werden historisiert und damit einer beliebigen Interessen ausgesetzten Be- oder Verurteilung zugänglich gemacht. Ihre Zerbrochenheit wird letztlich zum Nachweis der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, aus Auschwitz politische und gesellschaftliche Konsequenzen zu ziehen; ihre Hilflosigkeit haben nicht die deutschen Zustände, sondern sie selbst zu verantworten. Auf diese Weise erübrigt sich ein Nachdenken darüber, wie Auschwitz möglich wurde und künftig Ähnliches zu verhindern ist.

Die endgültige Abrechnung

Aus scheinbar relativ unabhängig voneinander laufenden Debatten entwickelt sich aktuell eine Generaldebatte mit dem Ziel einer endgültigen Abrechnung mit Kommunismus und Antifaschismus. Dabei geht es nur vordergründig um den Realsozialismus und seine ideologischen Ausprägungen. Das Objekt der Abrechnung ist der Kommunismus als systemimmanente Bedrohung des Kapitalismus, die er nach wie vor nicht deswegen darstellt, weil der Kapitalismus irgendwelche "Widersprüche" hervorbringt, sondern weil er den gesellschaftlichen Reichtum schafft, dessen eingeschränkten Genuß erst die kommunistische Abschaffung von Markt und Staat ermöglichen könnte. Auch die Abrechnung mit dem Antifaschismus richtet sich nicht nur gegen das "andere Deutschland", das sich spätestens 1989 dem nicht-anderen Deutschland angeschlossen hat, sondern gegen jenes kritische Potential, das immer wieder aufs Neue die Spuren freilegt, die von Deutschland nach Auschwitz und wieder zurück führen.

In diese grundsätzliche Abrechnung mit Vorstellungen, die auf der Notwendigkeit von historischen Umbrüchen beharren, sind auch jene Linken involviert, die im zivilgesellschaftlichen Antikommunismus einen Bündnispartner gegen das völkische Deutschland zu finden meinen. Doch völkische Ideologie und Engagement für die Zivilgesellschaft schließen einander nicht aus – das zeigt seit Jahren schon die Begeisterung der taz für die völkischen Gebilde des ehemaligen Jugoslawien. Sie ergänzen sich vielmehr im Postulat des Scheiterns universeller Emanzipation und in dessen Konsequenz: der Errichtung von Volksstaaten, deren notwendiges Merkmal der Antisemitismus ist. Kritik von Volk, Staat, Nation und Kapital ist jedoch ohne die Anmaßung, die der Begriff Befreiung impliziert, nicht zu haben; sie regrediert zu konstruktiver Kritik, wo Auschwitz durch die Verweigerung universeller gesellschaftlicher Konsequenzen relativiert wird.

Während der Dreharbeiten zum Film "Die Bilder des Zeugen Schattmann", sagt ein junger Mann zu Edel, als der sich nützlich machen will: Lassen Sie man, das kriegen wir besser alleine hin. Edel kommentiert: Überflüssig komme ich mir vor. Überflüssig wie einer, der argwöhnt, er habe sich aufgedrängt mit seinen alten Geschichten. Edel zitiert ein Gedicht von Tadeusz Rózewicz, dessen unverständlich-verständliche Aufforderung ihm nach diesem Erlebnis nicht mehr gar so rigoros und schmerzhaft verneinend vorkommt: Vergeßt uns / und unsere generation / lebt wie menschen / vergeßt uns // wir beneideten / pflanzen und steine / beneideten hunde // ... vergeßt uns / fragt nicht nach unserer jugend / laßt uns – Edel rezitiert das Gedicht nicht laut, er macht weiter. Fragen Sie ruhig nach allem was Sie wissen möchten. Denk mir dabei: Wenn in unserer Welt alle wie Menschen leben können – dann, erst dann vergeßt uns! Laßt uns? So sprechen die Toten hier.

Tjark Kunstreich (Bahamas 25 / 1998)

Anmerkungen:

  1. taz berlin, 31.12.1997. Die folgenden Zitate stammen ebenfalls aus diesem Artikel.
  2. Alle kursiven Textteile aus: Peter Edel: Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte, Verlag der Nation, Berlin (DDR) 1979, 2 Bände
  3. Th. W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1975, S. 360 f.
  4. So der Marburger Reihenhaushistoriker Georg Fülberth in Jungle World Nr. 49/1997
  5. Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt 1987, S. 72.
  6. Zeitgemässes "Enthüllungs"-Produkt über DDR-Autoren und Stasi.

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