Titelbild des Hefts Nummer 28
Menschenrecht bricht Staatsrecht
Heft 28 / Frühjahr 1999
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"Vergeltung der Erinnerung"

Das Mißgeschick eines chilenischen Demokratieretters als Herausforderung für deutsch-europäische "Definitionsmacht"

Vor 15 Jahren beschrieb Wolfgang Pohrt den zum Antiamerikanismus verkommenen Antiimperialismus der deutschen Linken als eine Art pathologischer Haßliebe. Einerseits schwer beeindruckt von den Produkten der US-amerikanischen Konsum- und Kulturindustrie, andererseits aber – durch den schleichenden Verlust der seit Ende der 60er mühsam angeeigneten kritischen Gedanken – unversehens zu ganz gewöhnlichen deutschen Staatsbürgern regrediert, hätten sich die deutschen Linken 1984 laut Pohrt in einer typischen Stammtischsituation befunden. "Am Stammtisch macht sich der Volkszorn Luft auf die Großen, die man liebt, weil sie groß sind, und die man haßt, weil man selbst gern an ihrer Stelle wäre, zumal man einander wortreich und lautstark davon zu überzeugen pflegt, wieviel vernünftiger und besser man selbst an Reagans oder Kohls Stelle entscheiden würde, womit man nur tut, was auch Augstein und fast alle deutschen Kolumnisten machen, die sich den Kopf der Mächtigen zerbrechen und dabei vielleicht tagträumend ihrem Kinderwunsch nachhängen, sie säßen nicht an der Maschine, sondern auf dem Capitol oder im Pentagon, wo man keine Artikel fabriziert, sondern unmittelbar Weltgeschichte." (1)

Vor 15 Jahren aber war der linke deutsche Antiamerikanismus nicht mehr als eine Marginalie der Kulturgeschichte des postfaschistischen Deutschlands. Weder im eigenen Land noch sonstwo auf der Welt hatte er die geringste Chance, aus dem Reich des wahnhaften Wunschtraums in die Gefilde der auch damals in höchsten Tönen affirmierten Wirklichkeit zu gelangen. Pohrt konnte daher 1984 noch mit einer gewissen Erleichterung feststellen: "Weil es die objektiven Machtverhältnisse erlauben, daß man die Deutschen dazu zwingt, sich an die Regeln in dem von ihnen selbst gewählten Spiel auch zu halten, wird der Anti-Amerikanismus praktisch folgenlos bleiben und wie ein böser Spuk in sich selbst zusammenbrechen, wie ein durch Schock ausgelöster Schreikrampf, den man mit einer einfachen Ohrfeige kuriert, die den Patienten aus seiner Wahnwelt in die Welt der Tatsachen zurückführt." (2)

Heute hingegen besteht keine Aussicht mehr auf eine autoritär-wohltätige Ohrfeige seitens einer ausländischen Führungsmacht; Deutschland ist souverän und leistet seinen eigenen, höchst selbstbewußten Beitrag zur Gestaltung der Welt. Der dünkelhafte Wahn des antiamerikanischen Stammtisches der frühen 80er ist zu großen Teilen allseits akzeptierte Wirklichkeit geworden, die einstigen Schwadroneure sind heute im Stande von seriösen Politikberatern, wenn nicht gar von Politikern. War es bis 1990 vor allem der Hinweis auf die Verbrechen der Deutschen als Nazis, der die eingeschränkte Souveränität der BRD ideologisch zu rechtfertigen hatte, dreht das selbstbewußte Deutschland den Spieß jetzt um. Jetzt werden von Deutschland – gelegentlich sekundiert von seinen europäischen Alliierten – die Verbrechen anderer Staaten unter dem Etikett "Menschenrechtsverletzungen" thematisiert. Was von offizieller deutscher Seite stets noch unter der fadenscheinigen Verpackung einer "Universalität der Menschenrechte" und einer "internationalen zivilgesellschaftlichen Ethik" gehandelt wird, benennen arrivierte Mainstream-Linke ganz offen: Zurückdrängung des US-amerikanischen Einflusses und deutschen Vormarsch.

Ein Kampf um die "Definitionsmacht"

Ein Beispiel dafür und eine deutliche Klarstellung, worum es in der Pinochet-Affäre für deutsch-europäische Interessen wirklich geht, kann man in dankenswerter Offenheit im Editorial der Januar-Nummer der Lateinamerika Nachrichten nachlesen. Zunächst wird dort festgestellt, "südlich des Rio Grande" stießen die wirtschaftlichen und politischen Interessen von US-Amerikanern und Europäern aufeinander, der "Weltpolizist USA" verwahre sich dagegen, daß andere ihm seine "Hemisphäre" streitig machten. Darüberhinaus gehe es jedoch noch um andere wichtige Dinge, nämlich "um die Definitionsmacht, was ein Verbrechen und also zu sanktionieren ist. Darüber wollen die USA gerade in ihrem Hinterhof noch immer selbst bestimmen. Und da möchten sie sich keinesfalls vom einem spanischen Untersuchungsrichter reinreden lassen. Sonst könnte ja, wenn eines Tages der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufnimmt, noch jemand auf die Idee kommen, die USA wegen ihrer Verbrechen in Lateinamerika zu belangen ..."

Dem "Weltpolizisten" seine "Hemisphäre" streitig machen, war schon das Anliegen der von Pohrt porträtierten Linken, auch um Definitionsmacht rang man damals schon, wenn auch vergeblich. Nachdem Deutschland die Definitionsmacht über seine eigene Vergangenheit zurückerlangt hat, macht es sich nun daran, die über Geschichte und Gegenwart seiner Konkurrenten zu erlangen. Die Macht zum Definieren bedeutet auch, auswählen zu können, welche Aspekte eines Phänomens von Bedeutung sein sollen und die getroffene Auswahl als verbindlich durchzusetzen. Notwendigerweise beinhaltet diese Tätigkeit die Verdrängung unliebsamer Fakten.

Die Affäre Pinochet, wie sie heute in den deutschen Medien und den Publikationen der Mainstream-Linken dargestellt wird, zeigt, daß man selbstbewußtes Definieren in Deutschland inzwischen so gut beherrscht wie die Kunst des aktiven Vergessens. Eine in diesem Zusammenhang nicht nur wegen ihrer unfreiwilligen Ironie bedeutsame Bemerkung findet sich in der Dezember-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten: "Ob er [Pinochet] der Gerechtigkeit nun letztlich entgeht oder nicht, der Vergeltung der Einnerung wird der Ex-Diktator nun nicht mehr entrinnen." (3) Man könnte glauben, so ganz seien die Zeiten des von Pohrt beschriebenen größenwahnsinnigen Antiamerikanismus doch nicht vorbei. Denn prägnanter und origineller hätte die Belanglosigkeit antiimperialistischer Omnipotenzphantasien wohl kaum ausgedrückt werden können. Was einst in den großen Aufgabenbereich der "Rache der unterdrückten Volksmassen" fiel, soll nun von der "Vergeltung der Erinnerung" erledigt werden.

Natürlich wissen wir, daß sentimentales Kokettieren mit der eigenen Machtlosigkeit in der Regel nur den Wunsch nach eigener, moralisch einwandfrei legitimierter Macht- und Gewaltausübung bemäntelt. Demokratische Menschenrechtsfreunde schwelgen denn auch sogleich in ihren Phantasien von Strafgerichtshöfen und humanitären Miltäreinsätzen. Doch sei’s drum: Auch die BAHAMAS stellt in dieser Welt de facto nicht mehr dar als die Lateinamerika Nachrichten. Warum sollen wir also auf die Freuden des Moralisch-Rechtbehaltens immer nur verzichten? Deshalb soll im Folgenden einmal der Versuch unternommen werden, deutsche Definitionsmacht mit dem realen Phänomen der Pinochetschen Herrschaft zu konfrontieren und die deutsche Mitbeteiligung an diesem bluttriefenden Stück jüngerer Demokratiegeschichte ebenso der "Vergeltung der Erinnerung" zu überantworten wie die kommentierenden Weisheiten der deutschen Linken.

Das "System" mit seinen eigenen Mitteln schlagen

Als 1970 das aus Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Linkschristen und -liberalen bestehende Bündnis Unidad Popular (UP) die relative Parlamentsmehrheit in Chile erhielt, sah man hierzulande "Chaos und Anarchie" heraufziehen. Nachdem die UP dieses Ergebnis drei Jahre später noch verbessern konnte, wurden Rufe nach einem "antitotalitären" Eingreifen der Armee laut. Es ist wenig verwunderlich, daß diese Einschätzung in bürgerlichen Kreisen sowohl Chiles als auch in den "Metropolenländern" die gleiche war. Interessant ist aber, daß die Skepsis gegenüber den Erfolgsaussichten einer UP-Regierung auch von radikalen Linken geteilt wurde, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Beide, Anhänger wie radikale Kritiker des Kapitalismus, trafen sich in der Einschätzung, daß am westlichen Vorbild orientierte demokratische Staatlichkeit und eine sozialreformerische Politik zugunsten der Unterklassen unvereinbar sei. Während die einen nach der ordnungstiftenden Lösung riefen, warnten die anderen vor ihr.

Auch dem Sozialisten Salvador Allende schien solche Skepsis nicht ganz fremd zu sein. Als er im September 1970 auch noch die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte und seine Ernennung vom Kongreß ratifiziert war, gestand er dem argentinischen Journalisten Miguel Bonasso seine Verwunderung: "Sehen Sie, wie seltsam. Der Kongreß, der eine Institution des Systems ist, wählt jemand, der vorhat, mit dem System Schluß zu machen."

Das "System" war für Allende, seine Anhänger und Bündnispartner vor allem eines des ungerechten Tausches, der Ausplünderung der armen Länder durch die reichen, ein System mithin, das aus personalisierbaren Koordinaten besteht. Auf der einen Seite die Armen, deren persönliche Existenz mit den sie organisierenden Realabstraktionen wie Binnenmarkt, Nation und diversen politischen Organisationen in eins gesetzt wird, auf der anderen Seite die Reichen, sowohl als Kapitalisten, Händler und Grundbesitzer im Lande selbst als auch in der Gestalt internationaler Konzerne und ihrer "Durchsetzungsmittel" wie Weltmarkt und international agierende Geheimdienste. In einem "Bildnis eines multinationalen Konzerns" entwickelt der uruguayanische Autor Eduardo Galeano am Beispiel des ITT-Konzerns den unheilvollen Zusammenhang von Markt und politischer Repression, wie er für die Vorstellung lateinamerikanischer Sozialrevolutionäre und -reformer lange Zeit typisch war: "Die ITT hat ein Infrarotgerät erfunden, um Guerilleros im Dunkeln aufzuspüren, doch um welche in der chilenischen Regierung aufzuspüren, braucht sie es nicht. Viel Geld gibt das Unternehmen gegen Präsident Allende aus. ... Die ITT verdient viel mehr als Chile. Vierhunderttausend Arbeiter und Angestellte arbeiten in sieben Ländern für das Unternehmen. Im Aufsichtsrat sitzen Männer, die zuvor Direktoren der CIA oder der Weltbank gewesen sind. Die ITT befaßt sich mit einer Vielzahl von Geschäften auf allen Kontinenten." (4)

Wie in der Leninschen Imperialismustheorie, der eine solche Einschätzung viel verdankt, werden Staat, Recht und Politik als unmittelbare Extensionen persönlichen Willens begriffen. Aus dem Umstand, daß das bislang geltende Recht, die bisherige Politik den Willen der "Multis" verkörperte, wird aber keineswegs die Verwerfung staatlicher und politischer Organisationsformen abgeleitet, sondern diese werden als mißbraucht begriffen und sollen ihren eigentlichen, als gerecht und gut unterstellten Zwecken zum Wohle der mit der Nation gleichgesetzten "Volksmassen" zugeführt werden. Allende 1972 vor der UNO: "Die Notwendigkeit, die Gesamtheit unserer ökonomischen Reserven in den Dienst des Volkes zu stellen, geht einher mit der Wiedererringung der Würde Chiles. Wir mußten mit der Situation Schluß machen, daß, während wir gegen Armut und Stagnation kämpfen, gleichzeitig große Kapitalsummen aus Chile abgeführt wurden zugunsten der mächtigsten Marktwirtschaft der Welt. Die Nationalisierung der Bodenschätze war eine historische Forderung." (5)

Die UP-Regierung verstaatlichte die wesentlich in US-amerikanischen Händen befindliche Kupfer-, Salpeter-, und Kohleförderung, darüberhinaus die Eisen- und Stahlindustrie, Teile der Elektroindustrie und die zum ITT-Konzern gehörende Telefongesellschaft ebenso wie Ford Motors. Durch die Verstaatlichung der meisten bisher vom US-Kapital kontrollierten Banken sicherte sich die Regierung die Kontrolle über 90% des Kreditwesens. Allerdings wurde die Verstaatlichung der Banken größtenteils durch Kauf von Bankaktien – und nicht, wie von als "dogmatisch-dokrinär" beleumdeten "Marxisten" eigentlich zu erwarten, durch Enteignung – durchgeführt. Auf strengste Legalität wurde bei allen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der UP-Regierung äußerster Wert gelegt. In diesem Zusammenhang noch einmal eine Kostprobe von Allendes Visionen über den "wahren" Charakter der nationalen wie internationalen Rechtsordnung: "Die Nationalisierung des Kupfers erfolgte unter peinlicher Beachtung der inneren Rechtsordnung und der Normen des Völkerrechts, das an sich ja nicht mit den Interessen der kapitalistischen Großbetriebe identifiziert werden kann." (6)

Ein national-demokratisches Entwicklungskonzept war es also, was die Unidad Popular da auf den Weg bringen wollte. Und äußerst volksfreundlich obendrein. Zwar wurde die angestrebte Erhöhung der Durchschnittslöhne um 30–40% kaum vollständig erreicht, doch nach traditionellem keynesianistischem Muster wurde die Geldumlaufmenge erhöht. Dies führte bald zu Inflationserscheinungen. Trotz des "antimonopolistischen" Charakters der Umgestaltungen zeigten sich die kleinen und mittleren Unternehmer wenig angeregt, ihre Chancen wahrzunehmen. Sie verweigerten nicht nur die Investition des nun vermehrt zur Verfügung stehenden Geldes, sie entwickelten auch politische Formen von Klassenbewußtsein. Ab Mitte 1972 kam es zu so eigenartigen Erscheinungen wie Unternehmerstreiks; Fuhrunternehmer und Einzelhändler bis hin zu Architekten verweigerten organisiert ihre unternehmerische Tätigkeit. Beim Staatsbesuch Fidel Castros im Herbst ’72 kam es zu Demonstrationen "hungernder" Mittelstands-Hausfrauen gegen die "sozialistische Mißwirtschaft". Ergänzt wurden diese Aktivitäten durch eine von CIA und rechten Gruppierungen geschürte "Strategie der Spannung" in Form von bewußt unberechenbaren Anschlägen und Attentaten.

Die UP-Regierung stand allerdings nicht nur unter dem Druck der wirklichen und eingebildeten Nutznießer des freien Marktes. Ihre eigene Klientel, Industrie- und Landarbeiter, nahm die antikapitalistische Programatik ernster, als es Staatsreformern lieb sein konnte. Auf die notwendig erfolgenden Zugeständnisse der Regierung an die "nationale Bourgeoisie" antworteten sie zunehmend mit Selbstorganisation und eigenständigen Fabrik- und Landbesetzungen und versuchten, die durch die traditionellen Eigentümer verschleppte Verteilung von notwendigen Dingen selbst zu organisieren. Dadurch gerieten sie in Konflikt mit den traditionellen "Arbeiterparteien", vor allem der KP. Diese setzte auf unbedingte Legalität des "Reformprozesses" und scheute sich nicht, staatliche Repression gegen Linksradikale und auch gegen Fabrik- und Landbesetzer aus den eigenen Reihen einzusetzen.

Chile und die deutsche Linke

Als das chilenische Militär dann zu seinem demokratierettenden Blutbad schritt, gab es zwar für kurze Zeit militanten Widerstand, doch insgesamt bestätigte sich auf blutige Weise die Warnung der Linksradikalen: Die UP hatte durch ihre obskure Option, das kapitalistische "System" mit seinen eigenen demokratischen Mitteln aushebeln zu wollen, seine Klientel den demokratisch-militärischen Schlächtern waffenlos ausgeliefert. In der Geschichte der "Arbeiterparteien" war dies nicht das erste und nicht das letzte verhängnisvolle Versagen. Für die am Realsoz orientierten KPen galt die Geschichte der UP bis zum Putsch als Beweis für die Möglichkeit des "friedlichen Weges zum Sozialismus". Nach dessen Ende war allerdings nicht Selbstkritik angesagt, sondern verdruckstes Schweigen. Während Pinochets Schergen im ersten Jahr ihrer Machtergreifung mindestens 30.000 Linke umbrachten (7), erging sich die "internationale Solidarität" in Folklore. Zu den Liedern des im Stadion von Santiago ermordeten Victor Jarra stopfte man massenhaft Empanada in sich hinein und ließ mit Nerudaschem Pathos die Demokratie hochleben.

Für kurze Zeit – in der Spätphase der UP-Regierung und in den ersten ein, zwei Jahren nach dem Putsch – waren die chilenischen Ereignisse für die deutsche Linke von einer prinzipiellen Bedeutung. Allendes "friedlicher Weg zum Sozialismus" schien das Theorem vom "friedlichen Übergang" in einer Zeit des historisch sowieso angesagten "Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus", wie es von der KPdSU und ihren Bruder- und Schwesterparteien vertreten wurde, zu bestätigen. Für diejenigen, die dieser Vorstellung anhingen, war Pinochets Putsch ein herber Rückschlag. Für die sog. "antirevisionistische Linke", deren Spektrum von den autoritären ML-Gruppen bis zu staatsfeindlichen Anarchisten reichte, war klar, daß ohne eine gewaltsame Zerschlagung der bürgerlichen Institutionen kein Sozialismus zu haben war. Was also in Chile Folter und Tod für Linke, unabhängig von ihrer "revisionistischen" oder "antirevisionistischen" Orientierung, bedeutete, führte in der BRD zu einem Aufschwung "revolutionärer" Positionen. Am 11. September 1974 – dem ersten Jahrestag des Putsches – gelang es dem "revisionistischen" DKP/Juso-Spektrum nicht einmal, 5.000 Teilnehmer für eine Solidaritätsdemo in Frankfurt zu mobilisieren. Drei Tage später brachten die "Antirevisionisten" an die 30.000 Teilnehmer am gleichen Ort auf die Beine; es war die größte linke Demonstration seit den Kampagnen gegen die Notstandsgesetze.

Doch obgleich "Revisionisten" und "Antirevisionisten" sich in ihrer Beurteilung der bürgerlichen Legalität und den Schlußfolgerung eines sinnvollen Umgangs mit ihr fundamental unterscheiden mochten, in der Favorisierung eines national(staatlich)en Entwicklungsmodelles (8) in Konfrontation zur Weltmarktökonomie, begriffen als der Wille von Konzernen und Staaten zur "Ausplünderung" des bewußt in Armut gehaltenen größten Teils der Welt, war man sich einig. Selbst die theoretisch am meisten fortgeschrittenen "antirevisionistischen" Positionen ergingen sich, was die Schlußfolgerung aus dem chilenischen Staatsmassaker betraf, in den abgenudeltsten "marxistischen" Weisheiten, wie das folgende Zitat aus einer linkstrotzkistischen Schrift, die ansonsten viel Kluges über die Entwicklung vor dem Putsch enthält, belegt: "Die größte Tragödie Chiles ist, daß eine kampfbereite sozialistische Arbeiterklasse voll von reformistischen Illusionen keine marxistische revolutionäre Führung fand, die fähig gewesen wäre, eine proletarische revolutionäre Perspektive anzubieten." (9) Wäre also die Unidad Popular nicht revisionistisch und reformistisch gewesen, sondern hätte sie sich als wahrhaft revolutionäre Führung erwiesen, hätte demzufolge auch ihr volksfreundliches Programm Aussicht auf Erfolg gehabt. Der gleiche spielerische Wettkampf zwischen "Revisionisten" und "Antirevisionisten" erfuhr dann noch eine Neuauflage, als 1974 in Portugal das autoritär-protektionistische Regime gestürzt wurde und vor der endgültigen Integration des Landes in den Weltmarkt als "Armenhaus Europas" vorübergehend ein Aufschwung der Klassenkämpfe stattfand. Nachdem der "internationalistische" Einsatz, der aufgrund der geographischen Nähe Portugals mit größerem personalen Aufwand geführt wurde, ähnliche – wenngleich weniger blutige – Ergebnisse als in Chile gezeitigt hatte, widmeten sich die Kontrahenten fortan der gemeinsamen Sorge um die von den "Supermächten" mit "atomarem Holocaust" bedrohte europäische Zivilisation.

Deutsches Lob für Pinochet

Pinochets demokratische Karriere war, anders als die seiner UP-Vorgänger, eine echte Erfolgsgeschichte. Er holte die "chicago boys" um den Nobelpreisträger Milton Friedman ins Land und ließ sie Chile zu einem neoliberalen Musterstaat mit dem inzwischen hinlänglich bekannten Elend umwandeln. Der Demokrat Friedman wußte Pinochets Bemühungen von Anfang an zu würdigen. Den Katharsisidealen des Generals von der im Blutbad gewaschenen Demokratie sekundierte er mit einer dem Ökonomen typischen, für auschließlich am politischen Ideal orientierte Zeitgenossen vielleicht etwas trockenen Feststellung: "Das Majoritätsprinzip ist in erster Linie ein Hilfsmittel und kein Grundprinzip." (10)

Deutschen Demokraten war diese Weisheit schon länger geläufig. Als Pinochet und die Seinen am 11. September 1973 die Macht ergriffen und mit ihrem blutigen Säuberungsprogramm begonnen hatten, bekundeten deutsche Journalisten, Politiker und Industrielle Genugtuung über die Wiederkehr der Ordnung in dem Andenstaat. "3 Jahre Marxismus und Chile war kaputt", titelte die BILD-Zeitung schon am 12. September. "Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang", säuselte der CSU-Vorsitzende Strauß in seinem Partei-Organ "Bayernkurier". Der damalige CDU-Generalsekretär Bruno Heck hatte sich gleich nach dem Putsch zu einer Besichtigungsreise in das Renovierungsgebiet aufgemacht und auch das zum Konzentrationslager umfunktionierte Fußballstadion von Santiago besucht. Bei gutem Wetter, teilte er nach seiner Rückkehr mit, sei das Leben der dort Internierten ganz erträglich. Und was das Wetter betraf, brauchte man sich kaum Sorgen zu machen. Obwohl der deutsche Überseetourismus sich damals noch in den Anfängen befand wußte man hierzulande, im September beginnt in Chile der Frühling. Im Stadion von Santiago de Chile wurden damals Hunderte ermordet und mißhandelt, für viele war es Durchgangsstation zu Folter, Hinrichtung oder jahrelanger Inhaftierung.

Die gleichen Blätter, die heute Pinochet als blutrünstigen Schlächter anprangern, waren seinerzeit des Lobes voll ob des demokratischen Verantwortungsbewußtseins der chilenischen Armee. Beispielsweise die FAZ am 12.9.73: "Den Versuch, einen dogmatisch-doktrinären, marxistischen Sozialismus auf demokratischem Wege einzuführen, hat Chile mit schweren wirtschaftlichen und politischen Schäden teuer bezahlen müssen. Anarchie und Chaos breiteten sich in den letzten Wochen immer schneller aus. Im Augenblick der höchsten Gefahr konnten sich die Streitkräfte ihrer Verantwortung nicht mehr länger entziehen. Die politischen Spannungen, die Allendes mißglücktes Volksfrontexperiment in Chile erzeugt hatten, drängten mit Macht zur Entladung." Das Blatt konnte seinerzeit wohl noch nicht wissen, daß es 25 Jahre später noch ein weiteres Lob den chilenischen Streitkräfte aussstellen würde. In Ausübung ihrer Verantwortung hatten diese nämlich für neuen rechtsstaatlichen Handlungsbedarf gesorgt. FAZ vom 26.11.98: "Daß es Pinochet fast doch gelungen wäre, dem Zugriff des Rechts zu entgehen, sollte den Bestrebungen, ein wirksames System supranationaler Strafgerichtsbarkeit zu etablieren, Auftrieb geben."

Was heute ein Fall für die "supranationale Strafgerichtsbarkeit" sein soll, war vor 25 Jahren die Rettung des demokratischen Abendlandes vor der bolschewistischen Bedrohung. Diese Einschätzung wurde auch durch die kompetenten Urteile von Vertretern der deutschen Wirtschaft gestützt. Ein Brief des Leiters der chilenischen Filiale der Farbwerke Hoechst an seine Zentrale, der damals in verschiedenen linken Zeitungen (11) zum treffenden Nachweis publiziert wurde, wozu diese Leute fähig sind, enthielt den Kommentar: "Wir sind der Meinung, daß das Vorgehen des Militärs und der Polizei nicht intelligenter geplant und koordiniert werden konnte und daß es sich um eine Aktion handelte, die bis ins letzte Detail vorbereitet war und glänzend durchgeführt wurde. ... Die Regierung Allende hat das Ende gefunden, das sie verdiente ...".

Schon im Oktober ’73 kam der Staatsminister im Auswärtigen Amt Wischnewski mit einem "gemäßigten Urteil" (FAZ 2.10.73) aus Chile zurück und konnte im Jahr darauf einem schon der Allende-Regierung gewährten 21-Millionen-DM-Kredit in Pinochets verdiente Hände legen.

Als 1975 die Teilnahme des deutschstämmigen Oberstleutnants Helmut Kraushaar bei einer Offiziersausbildung der Bundeswehr bekannt wurde, rechtfertigte sie SPD-Verteidigungsminister Leber als Erfolg sozialdemokratischer "Realpolitik". Kraushaar revanchierte sich in seinem Abschiedsvortrag vor Ausbildern und Kameraden, indem er die Vorzüge der chilenischen Militärherrschaft für die Demokratie unterstrich. In diesem Sinne enthielt sich auch die SPD/FDP-Bundesregierung ihrer Stimme, als selbst die UNO 1976 auf Initiative von sozialistischen und 3.-Welt-Staaten sich zu einer Verurteilung des chilenischen Regimes durchrang.

Einer ähnlichen Haltung zur chilenischen Miltärdiktatur befleißigten sich andere europäische Staaten, die heute in die juristische Schmierenkommödie involviert sind. Einige standen in ihrer damaligen Herrschaftspraxis dem chilenischen Schlächter nicht viel nach. Als Beispiele sollen hier nur Großbritannien und Spanien genannt werden.

Pinochets Verhaftung hat bekanntlich in Großbritannien selbst nicht nur Begeisterung in den politischen Herrschaftsetagen ausgelöst. War er doch bislang ein gerngesehner Gast nicht nur bei der Ex-Regierungschefin Thatcher. Pinochets Chile galt und gilt als einer der besten Kunden der britischen Rüstungsindustrie. Zum Zeitpunkt des Putsches kam das größte Kontingent europäischer Waffenlieferungen in den Andenstaat aus Großbritannien. Mit britischen Kampfflugzeugen wurde 1973 die Moneda, der Regierungssitz Salvador Allendes, bombadiert, 1982 stellte Chile der britischen Armee sein Territorium, vor allem seine Atlantikhäfen, für den Krieg gegen Argentinien zur Verfügung. "Ohne Pinochet hätten wir den Falkland-Krieg nicht gewinnen können", argumentieren heute, vielleicht etwas übertreibend, aber nicht ganz zu Unrecht, britische Gegner seiner Auslieferung an Spanien.

In Spanien fanden zum Zeitpunkt des chilenischen Putsches nicht nur die letzten Exzesse der Franco-Herschaft statt (Folterungen, Hinrichtungen all inclusive bis 1975), Spanien ist heute neben der Türkei, eines der beiden europäischen NATO-Mitglieder, in denen die Folter zum Alltag der Auseinandersetzung mit staatsfeindlichen "Extremisten" zählt. Dieser Vorwurf wird dem spanischen Staat nicht nur von seinen erklärten Gegnern gemacht, sondern auch durch diverse "seriöse" Menschenrechtsorganisationen von amnesty international bis zum United Nations Human Rights Committee unterstützt. Spanien ist heute neben der Türkei das europäische Land mit den meisten politischen Gefangenen. Auch nach dem Abschied der ETA vom bewaffneten Separatismus sitzen immer noch mehr als 600 linksnationalistische Basken in den Sondergefängnissen. Noch Ende vergangenen Jahres hatte der Chef der Staatsanwaltschaft am spanischen Sondergerichtshof für "Terrorismus und Finanzverbrechen" die ersten eingehenden Strafanzeigen mit der Begründung zurückgewiesen, die chilenische Miltärdiktatur sei nichts anderes als "eine vorübergehende Suspendierung der verfassungsmäßigen Ordnung" gewesen, "um die Unzulänglichkeiten dieser Ordnung zu beheben und den Frieden zu wahren" (12) – eine Interpretation, die lange Zeit auf einen Konsens in der westlichen Welt vertrauen durfte.

Auch hatte Eduardo Frei, der christdemokratische Präsident Chiles, nicht ganz unrecht, als er kürzlich die Verbrechen des chilenischen Militärs mit "einigen illegalen Aktionen der spanischen Polizei im Kampf gegen den Terrorismus" verglich. Das war in den quantitativen Dimensionen reichlich übertrieben. Schließlich hatten die 1983 von der sozialdemokratischen PSOE-Regierung unter Felipe González gegründeten Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) "nur" 28 ETA-Anhänger und solche, die sie dafür hielten, ermordet. Was aber die qualitative Beurteilung des staatlichen Mordens betrifft, ist Frei durchaus zuzustimmen: Das Prinzip der physischen Auslöschung politischer Feinde als effektivste Form der staatlichen Auseinandersetzung mit ihnen ist das gleiche.

"Richter der Rache"

Wo die GAL erwähnt werden, fällt heute notwendigerweise auch der Name Baltasar Garzón, jener "Superrichter" am spanischen Sondergerichtshof, der nun Pinochets Auslieferung fordert. Garzón war bis vor einigen Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, Linke und baskische Nationalisten in die Isolationshaft zu befördern. Auch seitdem er "Staatsverbrecher" verfolgt, übt er diese Tätigkeit noch gelegentlich aus. Auf sein Konto gingen im vergangenen Jahr die Kriminalisierung und Inhaftierung des gesamten Herri-Batasuna-Vorstandes und das Verbot der Zeitung EGIN. Auf seinen Posten gelangte er über das sichere Ticket einer PSOE-Mitgliedschaft, dem Entrebillet für ehrgeizige Opportunisten im nachfranquistischen Spanien bis in die frühen 90er Jahre. 1993 konnte er sich berechtigte Hoffnung auf den Posten des Innenministers machen. Als sich diese Hoffnung im Zuge einer PSOE-internen Intrige zerschlug, verzichtete er auf das zunehmend verfallende PSOE-Ticket und wechselte bald effektvoll die Seiten. Er unterstützte die von der konservativen Partido Popular (PP) eingeleiteten Ermittlungen gegen PSOE-Funktionäre, denen nun ihre Rolle beim Aufbau der GAL angelastet wurde.

Baltasar Garzón war nun für die spanische Öffentlichkeit der "Richter der Rache", seiner persönlichen Rache. Schon während der Voruntersuchungen zum GAL-Prozeß, der in erster Instanz mit der Verurteilung prominenter PSOE-Funktionäre endete, ließ Garzón Unterlagen, aus denen die Beteiligung der PSOE-Führung an den Morden hervorging, nicht nur der PP zukommen, sondern schickte einen Großteil auch an die konservative Madrider Zeitung El Mundo. Diese Aktivitäten verschafften ihm auch außerhalb der spanischen Grenzen eine noch größere Popularität, als ihm seine "antiterroristischen" Aktivitäten bereits eingetragen hatten. Sein bislang größter Coup wird nun wohl die Auslieferung Pinochets werden, falls er sie erreicht.

Das Prinzip der aktuellen europäischen Demagogie in Sachen Pinochet und "Menschenrechte" geht, ungeachtet aller antiamerikanischen Intentionen, dennoch auf eine amerikanische Intervention zurück. Als Ende der 70er Jahre nach dem verlorenen Vietnamkrieg und weiteren geopolitischen Niederlagen in Nicaragua und Iran die US-Außenpolitik in einer Art "Sackgasse" zu stecken glaubte, wurde eine "Menschenrechtsoffensive" gestartet. Nun konnten auch vom Westen ausgehaltene autoritäre Regimes unter propagandistischen Beschuß geraten. In den US-Medien erschienen verstärkt Berichte über die Unterdrückung in Lateinamerika; US-Politiker profilierten sich gelegentlich als "ausgewogene" Freiheitsapostel, indem sie nicht nur die Verhältnisse in kommunistischen Ländern oder solchen, die sie dazu erkärten, geißelten, sondern ebenso beispielsweise die in Südafrika, Chile und Argentinien.

In Deutschland hatte man schnell den Nutzen dieser Politik begriffen und versuchte, sie auf eigene Weise fortzusetzen. Die alte antikommunistische Hetze konnte effektiver und vor allem "glaubwürdiger" werden, kritisierte man auch (ein wenig) die Schweinereien im eigenen Lager. Die perfide Logik dieser Aktivitäten erhellt ein Blick auf die "Menschenrechtskampagnen" der Konrad-Adenauer-Stiftung und führender CDU-Politiker in den 80er Jahren. (13) Die Konrad-Adenauer-Stiftung legte Dokumentationen zur "Lage der Menschenrechte" (sog. "Reports") in Chile und Südafrika – aber auch zu Afghanistan (damals unter sowjetischen Einfluß) – und zum sandinistischen Nicaragua vor. Im Juli 1986 reiste der damalige CDU-Generalsekretär Geißler nach Südkorea und Chile um sich dort mit Oppositionspolitikern zu treffen. Höhepunkt dieser Reise war ein "Beschwerdebrief" an US-Präsident Reagan. Ein Jahr später reiste sogar ein Regierungsmitglied, Norbert Blüm, nach Chile und traf sich dort publicityträchtig mit Vertretern der damals noch illegalen Christdemokratie. All diese Aktivitäten waren für deutsche Politiker seinerzeit sinnvoll bei der Erledigung des bereits in seinen letzten Zuckungen liegenden Ostblocks und der noch mit ihm sympathisierenden Staaten der 3. Welt.

"Unteilbarkeit der Menschenrechte" lautete der damalige Slogan. Damit wurden unterschiedliche Staaten wie beispielsweise die DDR und Chile, Nicaragua und Südafrika, Argentinien und die Sowjetunion auf eine (moralische) Stufe gesetzt und der "menschenrechtlichen" Disposition anheimgestellt. In jene Zeit fällt auch die Kohlsche Bemerkung, "bekanntlich" existierten in der DDR "Konzentrationslager". Es handelte sich dabei nicht um einen "Lapsus", wie gelegentlich beschwichtigt wurde, sondern um die "menschenrechtliche" Formulierung eines imperialistischen Anspruchs.

Die derzeitige Pinochet-Kampagne der europäischen Regierungen und ihrer juristischen und publizistischen Helfer weist eine ähnliche Zweckorientierung auf wie die "Menschenrechts"-Kampagnen der 70er und 80er Jahre. Nur vordergründig geht es um die Person des Ex-Diktators. Diese dient vielmehr als Chiffre für das, was die neue europäische Großmacht zu bekämpfen vorgibt. Eine Vorgerichtstellung Pinochets soll den Anfang für eine Reihe von ähnlichen Maßnahmen gegen andere Politiker eröffnen, die – anders als Pinochet – von der deutsch-europäischen Weltmacht als Störfaktoren ausgemacht werden. Und dies wird auch offen ausgesprochen. Pinochet müsse als der "Karadzic der Anden" begriffen werden, sagte der frühere chilenische Bischof Frenz dem Tagesspiegel (21. 10. 98) und sprach damit offen aus, wohin die Reise gehen soll – in Richtung Belgrad. Inzwischen wird offen Milosevics Verhaftung gefordert. Auch andere versuchen auf den Fahrt gewinnenden Zug aufzuspringen: Litauische Nationalisten fordern die Verhaftung des seit längerem überflüssigen Gorbatschow. Andere machen Vorschläge, den amerikanischen Konkurrenten vorerst einzubinden: In der europäischen Presse werden Texte des Exkommunisten und neoliberalen Peruaners Vargas Llosa veröffentlicht, der Fidel Castro an den Kragen möchte.

Pinochet könnte zufrieden sein

Pinochets mögliche Verurteilung in einem europäischen Staat wegen "Menschenrechtsverletzungen" wäre eine späte Demütigung seiner Opfer, gleichgültig, ob dies in Spanien, Großbritannien oder absurderweise – wie gelegentlich auch gefordert wurde – in Deutschland stattfindet. Gleichgültig auch, daß sich einige der Opfer Pinochets bzw. deren Angehörige an der juristischen Kabbale beteiligen. Denn durch sie wird in gewisser Weise Pinochets Werk bestätigt. "Das einzige, was noch bleibt, meine Freunde", sagte der General am 22. Jahrestag seines Putsches vor chilenischen Unternehmern, "ist das Vergessen". Das Protokoll vermerkt, er habe jede Silbe des Wortes einzeln betont. "Dies ist das Wort, und um das zu erreichen, müssen beide Seiten vergessen." (14) Und da liegt der alte Bluthund ja auch nicht ganz falsch. Zumindest die eine Seite hat vergessen, was sie damals wollte. Sozialismus und ähnlich idealistische Sachen will heute keiner mehr. Demokratie und Marktwirtschaft wollen jetzt alle, einschließlich seiner früheren Opfer, zumindest soweit sie publicityträchtig in Erscheinung treten.

Pinochet selbst hat verlauten lassen, man plane gegen ihn einen "Schauprozeß", dem er sich zu verweigern gedenke. Wäre der chilenische Schlächter ein wenig geschichtsbewußter, würde er sich das möglicherweise noch einmal überlegen. Vielleicht würde er wie manche Angeklagte in stalinistischen Schauprozessen die Vorwürfe akzeptieren, wissend, daß auch eine Verurteilung sein Werk bestätigt. Denn der geplante Prozeß krönt in gewisser Weise Pinochets Lebenswerk: die Rettung der Demokratie durch nahezu vollständige Demoralisierung der antikapitalistischen Opposition. Pinochet hat schließlich nicht (nur) aus sadistischen Machtgelüsten morden lassen: Seinen eigenen Worten zufolge wollte er die Demokratie retten, indem er sie in Blut badete. Mit brutalster Repression und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik hat er das erreicht und konnte so, nachdem kaum jemand mehr da war, dies infragezustellen, als die Mehrheit nur noch Demokratie und nicht mehr Sozialismus wollte, gelassen abtreten.

Wer aber heute diesen traurigen Tatbestand benennt, riskiert, als moralisches Schwein in die Ecke geschickt zu werden. "Obszön" sei es, die Opfer [Pinochets] wegen ihres Wunsches nach einer Verurteilung anzuprangern", schrieb ein Kommentator in der Jungle World (18.11.98). Den gar nicht so feinen Unterschied zwischen Bedauern und Anprangern übersah er geflissentlich. Schließlich sollte dem Kritiker in traditionell stalinistischer Manier ein objektives Komplott mit dem Feind angehängt werden: "Gutgemeint holt die Kritik weit links aus, um anschließend ganz rechts zu landen. Denn was soll aus diesen Attacken gegen die Anti-Pinochet-Kampagne resultieren? Vielleicht eine Kampagne ,Freiheit für Pinochet‘? Mit den letzten Patriarchen der Linken an der Spitze, in unliebsamer Gemeinschaft z.B. den sich derzeit antiimperialistisch gebärdenden chilenischen Faschisten?"

Mit dieser Kombination aus stalinistischer Rhetorik und demokratischer Dienstfertigkeit kommt der deutsche Antiimperialismus zu sich selbst. Schon in seinen radikal-militanten Hochkonjunkturen waren ihm die vielbeschworen "Völker" und andere Kollektivsubjekte, an die er seine Solidarität adressierte, nichts anderes als Projektionsflächen für eigene Machtambitionen. Machtambitionen, die damals notwendig hilflos bleiben mußten, heute aber, da die Verschmelzung der deutschen Linken mit der Nation weitgehend abgeschlossen ist, ihre Wirksamkeit entfalten können. Die Berufungsobjekte, in diesem Fall die Opfer der Pinochetschen Herrschaft, sind deutschen Antiamerikanern nichts anderes als hin- und herschiebbares Material. Indem nämlich eine inhaltliche Kritik für nicht legitim erklärt wird, weil die Kritisierten Opfer waren, wird ihnen die Anerkennung als politische Subjekte verweigert. Was Folter und Gefängnis erreichen sollten – die Auslöschung ihrer politischen Subjektivität und die Herabstufung ihrer Existenz aufs bloße "an sich" – wird nun durch ein paternalistisches In-Schutz-Nehmen bestätigt. Wer die moralische Abqualifizierung von Kritik und Diskussion als Respekt gegenüber den Opfern verkauft, setzt sich dem berechtigten Verdacht aus, nachträglich von den diesen Menschen zugefügten Greueln profitieren zu wollen. Nicht zufällig erinnert die formelhafte Beschwörung der "Opfer" daran, wie etablierte deutsche Politiker sich auf "die Menschen" berufen.

Die Berufung auf die Opfer gehorcht keiner anderen Notwendigkeit als der, die Zurückdrängung US-amerikanischer "Definitionsmacht" zugunsten deutsch-europäischer Definitionen mit empirischem Material zu "unterfüttern". Bestünde die globale Konkurrenz der zivilgesellschaftlichen Wahrheitshüter nicht, hätten windige Opportunisten auch andere Möglichkeiten, sich im Fall Pinochet zu profilieren. Einen Vorgeschmack lieferte der in den 70er Jahren noch nicht so prominente CDU-Abgeordnete Elmar Pieroth kurz nach Pinochets Machtergreifung: Pieroth formulierte die damalige deutsche Haltung zum chilenischen Massaker in fast schon genialisch zu nennender Vorwegnahme der späteren Bürgerbewegungs-Rhetorik: "Der Mut breiter Schichten der chilenischen Volkes und des Militärs, auch in einer verunsicherten und manchmal schon feige gewordenen Welt eine drohende kommunistische Diktatur zu verhindern, verdient Respekt." (15) Im gleichen Sinne würdigte kürzlich nicht nur der Vatikan des Generals Verdienste bei der Zurückdrängung des bolschewistischen Atheismus und setzte sich für Pinochets sofortige Freilassung ein. Auch ehemalige tschechische und polnische Bürgerrechtskämpfer stellten sich an die Seite des Retters der chilenischen Demokratie. In einem Brief an die Londoner Times verteidigten Anfang Februar zwei Charta 77-Veteranen und sechs Politiker aus dem Solidarnosc-Umfeld die antitotaltären Verdienste des arrestierten Schlächters: "Die Schritte des Generals Pinochet im Jahre 1973 waren ein Hilfsmittel zur Rettung seines Landes vor den Schrecken der kommunistischen Diktatur." (16)

Solche Sätze offenbaren die ganze monströse Niederträchtigkeit bürgerlich-demokratischer Staatsauffassung. Doch gegenüber der Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik linker Zeitgeistritter haben sie einen unschätzbaren Vorteil: Sie sind, um im Bürgerrechts-Jargon zu bleiben, "wahrhaftiger".

Horst Pankow (Bahamas 28 / 1999)

Anmerkungen:

  1. Wolfgang Pohrt, Anti-Amerikanismus, Anti-Imperialismus, in: derselbe, Stammesbewußtsein, Kulturnation. Pamphlete, Glossen, Feuilleton, Berlin 1984, S. 80/81
  2. Pohrt, a.a.O., S. 81
  3. o. V., Editorial, in: Lateinamerika Nachrichten Dezember 1998
  4. Eduardo Galeano, Bildnis eines multinationalen Konzerns, in: derselbe, Erinnerung an das Feuer 3. Das Jahrhundert des Sturms, Wuppertal 1988, S. 263
  5. Aus einer Rede Salvador Allendes vor dem Plenum der 27. UN-Vollversammlung am 14.12.72, in: Werner Balsen/Karl Rössel, Hoch die Internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte Welt-Bewegung in der Bundesrepublik, Köln 1986, S. 307ff.
  6. Allende a. a. O., S. 309
  7. Heute ist in der Regel nur noch von 3.000 bis maximal 4.000 Toten die Rede. Es sind dies Zahlen, die vor allem von offiziellen chilenischen Institutionen oder/und der spanischen Gerichtsbarkeit unter Mitarbeit des dubiosen Untersuchungsrichter Garzón ermittelt wurden. Die Texte der Soldaritätsgruppen aus den 70er und 80er Jahren sprechen eine andere Sprache. In einer Sammlung von Texten aus dem Jahre 1975 ist unter Berufung auf das chilensche Verteidigungsministerium von 12.000 Toten allein in der ersten Woche nach dem Putsch die Rede. Vgl. Helios Prieto, Chile: Die Gorillas sind unter uns, Frankfurt/M. 1975
  8. Zum endgültigen "geschichtsmächtigen" Scheitern solcher Konzepte vgl. den Artikel von Carlos Kunze und Uli Krug in dieser BAHAMAS.
  9. Prieto a.a.O., S. 100/101
  10. Milton Friedman in seinem auch auf deutsch erschienen Buch Kapitalismus und Freiheit, München 1979, S. 47
  11. Und nicht nur linksradikalen Zeitungen. Die Empörung über dieses freie (und deshalb als "zynisch" bewertete) Bekenntnis ging bis in die linksliberale Szene. Hier wird aus dem sozialdemokratischen Vorwärts vom 6.12.73 zitiert.
  12. laut TAZ vom 12.12.97
  13. Zur Menschenrechtspolitik der CDU-Regierungen in den 80er Jahren vgl. den zwar aus einer deutschen Untertanenhaltung heraus entstandenen, dennoch sehr informativen Artikel von Claus Leggewie, "Macht wird durch Überzeugung erst schön". Bautzen - Santiago - Bautzen: Stationen konservativer Menschenrechtspolitik, in: Dietmar Dirmoser u.a. (Hrg.), Lateinamerika. Analysen und Berichte. 11, Hamburg 1997, S. 41ff.
  14. zitiert nach amnesty international, Chile. Übergang am Scheideweg, o. O. 1996, S. 39
  15. zitiert nach Urs Müller-Plantenberg, Die Bundesregierungen nach dem Putsch vom 11. September 1973: Fünfzehn Jahre Beziehungen zur Militärdiktatur in Chile, in: derselbe, Vorschläge: Ausgewählte politisch-soziologische Arbeiten 1961-1966, Münster 1997, S. 319/320
  16. zitiert nach junge Welt vom 5.2.1999

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