Im April 1999, auf einer der täglich im Brüsseler NATO-Hauptquartier stattfindenden Pressekonferenzen, stellte der Le Monde-Korrespondent Luc Rosenzweig dem NATO-Sprecher Jamie Shea eine interessante Frage. Rosenzweig: „Wörter sind bedeutsam, wenn Krieg herrscht. Die Bezeichnung für das, was gerade im Kosovo passiert, ist in den Ländern der Allianz nicht einheitlich. Ich erkläre es Ihnen. Herr Robertson und Herr Scharping sprechen von Völkermord. Das ist stark. Sie, Jamie, reden von ethnischen Säuberungen, von Verbrechen etc. Für mich ist das ein grundlegender Unterschied. Völkermord beinhaltet etwas viel Schwerwiegenderes als das, was da passiert. Die Kriegsverbrechen rechtfertigen Ihr Handeln. Würden Sie von Völkermord sprechen?“ Darauf die diplomatische Antwort des NATO-Sprechers: „Nun, wir sind eine Allianz von 19 freien, demokratischen Ländern. Jeder Minister beschreibt die Situation, wie er oder sie sie sieht. Das ist ihr Recht. Ich habe die Begriffe verwendet, von denen ich glaube, daß die Allianz sie weitgehend akzeptiert. Aber ich möchte betonen, daß wir eine Situation erleben, die uns jeden Tag zu einer dramatischeren Wortwahl zwingt. Nur so können wir die immer grausamere Realität wiedergeben.“ (1) Und weiter ging’s zur nächsten Frage.
Vielleicht hat der promovierte Historiker Shea an poststrukturalistische Diskurstheorien gedacht, denen zufolge die Beschreibung realer Abläufe immer eine heikle Angelegenheit darstellt und möglicherweise schon der Versuch einer solchen Beschreibung – zur Verfügung stehen schließlich nur die diversen Mittel der „Erzählung“ oder/und „Symbole“ – ein vergeblicher ist. Vielleicht hat er aber nur zum Ausdruck bringen wollen, daß der pluralistische Meinungswettbewerb auch in einem kriegführenden Staatenbündnis produktiv wirkt, vorausgesetzt das Kriegsziel wird geteilt und die vorgetragenen Meinungen dienen einer Effektivierung der Kriegsführung.
Auf den produktiven Effekt der deutschen Rede vom „serbischen Völkermord“ ist schon wiederholt hingewiesen worden, auch von dem oben zitierten Luc Rosenzweig: „Was bei den Deutschen ankommt, ist eben die Erinnerung. Das hilft ihnen auch. Denn es bedeutet, daß es da jemand gibt, auf den man dieselben Begriffe verwenden kann wie auf Hitler. Sagen wir mal, das enthebt den historischen Fall, den man miterlebt hat, seiner Einmaligkeit.“ (2) Aber was bedeutet es in diesem Zusammenhang, daß für das Gros der deutschen Politiker und Journalisten der „Serbenführer“ Milosevic nicht nur als „Faschist“ sondern zugleich auch als der „letzte Kommunist“, „Stalinist“ aber auch als mafiotischer „Clanchef“ figuriert? Und wie sind die auch innerhalb der NATO-Mitgliedsstaaten – jedoch nicht in Deutschland – auf zumindest Befremden gestoßenen Erzählungen Rudolf Scharpings einzuordnen? „Um den Krieg zu legitimieren, unterstellt er [Scharping, d. Verf.] in einem Vortrag an der ,European Business School‘ dem serbischen Kriegsgegner, mit abgeschnittenen Kinderköpfen Fußball zu spielen und Schwangeren den Fötus aus dem Leibe zu reißen, ihn zu grillen, um ihn dann wieder in den Leib der Schwangeren zu stoßen.“ (3)
Betrachtet man die unterschiedlichen kritischen Einschätzungen medialer Darstellungen der blutigen Auflösung des ehemaligen Jugoslawien, stellt man bei fast allen Autoren ungeachtet ihrer inhaltlichen und methodischen Differenzen eine übergreifende Gemeinsamkeit fest: Der nationale Kriegskonsens innerhalb der Staaten der „westlichen Wertegemeinschaft“ sei ein Produkt der Kommunikation zwischen Staat und seinen Bürgern bzw. zwischen Medienproduzenten und -konsumenten, einer Kommunikation, die vom Staat bzw. den Medienproduzenten mit dem Mittel des Betruges geführt werde. Bereits während des Golfkrieges Anfang 1991 – aber vor allem danach – entstand die kritisch gemeinte Argumentationsfigur, daß durch den geschickten Einsatz neuer technologischer Medien eine gezielte Desinformation und Manipulation der Öffentlichkeit stattgefunden habe. Man denke nur an die seinerzeit mit Akribie betriebene Enthüllung, daß der auf den TV-Schirmen präsentierte, an seinem ölverklebten Gefieder krepierende Kormoran nicht Opfer eines Husseinschen Umweltfrevels, sondern eines Jahre zurückliegenden Tankerunglücks war, oder an die Aufdeckung der Fälschung eines „Überlebendenberichts“ von einem Überfall irakischer Truppen auf ein kuwaitisches Krankenhaus, bei dem angeblich Säuglinge aus den Brutkästen genommen und einem qualvollen Sterben ausgesetzt worden waren (die Rolle der „überlebenden“ Krankenschwester spielte die Tochter eines kuwaitischen Botschafters). (4) Mit solchen Inszenierungen habe gewissermaßen ein Mißbrauch des guten Willens der Medienrezipienten und ihres Interesses an der Herstellung gerechter Zustände stattgefunden, hieß es. Die Vorgauklung eines sauberen Krieges, der nur den Schurken treffe und die Opfer schone, habe diesen Missbrauch noch unterstützt. Der seinerzeit erstmals inszenierte digitale TV-Krieg sei ein Krieg der glaubwürdigen Lügen gewesen, so die Auffassung der bis ins Lager der späteren Befürworter eines antiserbischen Krieges reichenden Kritiker des antiirakischen US-Krieges.
Daß in der medialen Kriegsdarstellung gelogen und gefälscht wurde, kann wohl niemand bestreiten. Aber: Die Annahme, daß es dieser Tricks überhaupt bedurft hätte, um eine sonst potentiell kriegskritische Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, ist blauäugig – das gilt für deutsche Verhältnisse noch mehr als für andere. Vielmehr wäre angesichts der Gleichgültigkeit, mit der diese Öffentlichkeit Enthüllungen entgegentritt, in denen die serbischen „Massaker“ als Potemkinsche Dörfer aufgedeckt werden, zu fragen: Welche Bedürfnisse des Publikums erfüllten diese „Massaker“?
Während hierzulande niemand von der Notwendigkeit eines Krieges gegen Jugoslawien überzeugt werden brauchte, weil seit 1991, dem Beginn der völkischen Sezessionen, fast alle darauf warteten, daß es endlich richtig losgehe, war dies in anderen westlichen Ländern bekanntlich nicht so. Die militärische Vormacht USA beispielsweise konnte lange der Zersplitterung des Balkans kein rechtes Interesse entgegenbringen. Im Gegenteil: Eine jugoslawische Föderation schien sowohl dem Kalkül der US-Außenpolitik als auch dem medialen common sense dienlicher. Erst durch eine wechselseitige Kette sich ablösender Manipulationen und „Enthüllungen“ änderte sich diese Haltung. Man denke nur an die inzwischen ausreichend dokumentierte Arbeit der Public-Relations-Agentur Ruder-Finn, die in der amerikanischen Öffentlichkeit erst das Bild des blutgierigen Serben als Errichter von Konzentrations- und Vergewaltigungslager verbreitete. Oder man denke an die Nachforschungen des US-Journalisten Peter Brock, der sein Journalistenhandwerk auf so unzeitgemäße Weise ernstnahm, daß er schließlich die Unwahrheit der von Ruder-Finn verbreiteten „Tatsachen“ nachweisen konnte. (5) Die Wirkungslosigkeit der Brockschen Bemühungen aufgrund ihres Zuspätkommens erhellt aber schlaglichtartig den Charakter jener „Öffentlichkeit“, an die Enthüllungen in den USA erfolgreich adressiert werden können. Ruder-Finn hatte ihre getürkten Informationen nämlich gezielt unter einflußreichen „Multiplikatoren“ verbreitet und war laut Aussage ihres Chefs mit der folgenden Methode vorgegangen: „Es ist nicht unsere Aufgabe, Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen ... Unsere Aufgabe besteht darin, Informationen, die unserer Sache dienlich sind, schnell unter die Leute zu bringen und zu diesem Zweck ausgewählte Zielpersonen anzusprechen.“ (6) Die Agentur konnte zu Recht davon ausgehen, daß die US-amerikanische Öffentlichkeit, wie die jeder funktionierenden Demokratie, die Entscheidungen ihrer Elite mittragen würde.
Gerade in den USA, dem klassischen Land des Enthüllungsjournalismus stellt dieser immer wieder seine Wirkungslosigkeit unter Beweis. Seine Resultate mögen zwar manchmal eine gewisse Wirkung erzeugen, wenn, wie beispielsweise beim Watergate-Skandal, sie als Waffen zum Einsatz im Binnenmachtkampf Verwendung finden; jedoch nicht, wenn es um national bedeutsame Dinge wie Krieg oder Frieden geht. Erst im Mai dieses Jahres veröffentlichte The New Yorker einen 32seitigen Bericht über US-Kriegsverbrechen im Golfkrieg, den die Berliner Zeitung (17./18. 6. 2000) wie folgt zusammenfasst: „US-Soldaten sollen im Golfkrieg wehrlose Iraker – Soldaten und Zivilisten – hingerichtet haben. Ohne ernsthaft angegriffen zu werden, habe General Barry MacCaffrey von seinen Truppen in mindestens drei Fällen Hunderte Iraker mit Maschinengewehren niedermetzeln lassen, obwohl sie sich ergeben hatten. Ein anderes Mal hätten seine Soldaten einfach wild in eine Gruppe Zivilisten gefeuert.“ Sy Hersh, der Autor des Berichts, hatte „sechs Monate lang recherchiert, mehr als 300 Personen interviewt. Sogar ein Tonband von einem der Gemetzel hat er aufgetrieben; einer der Soldaten hatte es für seine Freundin aufgenommen.“ Viel Arbeit, (vielleicht) etwas Ruhm, aber die Vorstellung, daß die von Sy Hersh aufgedeckten Kriegsverbrechen trotz ihrer Brutalität in den USA etwas anderes bewirken würden als das Warten auf die nächste Enthüllung, müsste – würde sie denn überhaupt jemand äußern – als realitätsferne Träumerei bezeichnet werden. Hersh hatte bereits im Vietnamkrieg das My-Lai-Massaker aufgedeckt, er hatte die von den US-Medien verschwiegene Bombardierung Kambodschas ebenso enthüllt wie die CIA-Beteiligung am Pinochet-Pusch. Was er damit bewirkt hat? Nichts, außer Anerkennung. Und die wird von der Berliner Zeitung auf schon fast maliziöse Weise in einem Satz zusammengefaßt: „Sy Hersh gilt seit 35 Jahren als Amerikas bester Enthüllungsjournalist: Diesmal hat er Kriegsverbrechen im Golfkrieg aufgedeckt.“ Woraus sich die Frage ergibt, was er wohl als nächstes aufdecken wird. Was immer es sein mag, fürs Konsumentenglück ist gesorgt.
Enthüllung à la Hersh besitzen den Vorteil, die Lust auf sinistre Vorgänge „hinter den Kulissen“ zustimulieren, die Anziehungskraft des Skandalösen für sich nutzen zu können. Viel schlechter ist es da um Enthüllungen bestellt, die nachweisen, daß hinter dem Skandal („serbisches Massaker“) nichts steckt: Ein Nicht-Geschehen ist viel langweiliger als eine monströse Lüge. Insofern aber enthüllt die Inszenierung des sogenannten Medienkrieges selbst – seine Greuel wie die saubere Lösung nach dem Vorbild des Computerspiels – mehr als jeder noch so ehrenwerte und unbedingt notwendige Enthüllungsjournalismus.
Letzterem kann es zwar gelingen, den Widerspruch zwischen dem, was an den Orten des Geschehens plausiblermaßen überhaupt vorgegangen sein konnte – in der Regel zumeist nicht viel Schurkiges – und dem skandalisierenden Unisono der kriegswilligen Medien aufzuzeigen. Doch oft steht am Ende Hilflosigkeit, wie sie die folgende Feststellung des im Kosovo unfreiwillig zum Enthüllungsjournalisten gewordenen Le Figaro-Korrespondenten Renaud Girard dokumentiert: „Wir waren an die Lügen der Serben und Albaner gewöhnt, aber das die NATO log, eine Organisation, die von unseren Steuergeldern finanziert wird, hat uns doch sehr überrascht.“ (7) Und schließlich kann auch der engagierteste Enthüllungsjournalismus nur dann ein solcher sein, wenn er die Augen davor verschließt, daß sowohl jenes Unisono ebenso wie die Resistenz der Rezipienten gegen die Aufklärung durch Fakten oder gegen schlichte Plausibilitätserwägungen deutlich davon Zeugnis ablegen, daß die mediale Inszenierung nicht allein dem Betrug zugunsten der staatlichen Kriegsinteressenten, sondern auch kollektiver Wunscherfüllung des Publikums gedient hatte.
Aber Deutschland ist keine Heimstatt des Enthüllungsjournalismus. Die medialen Eingeständnisse, daß die hierzulande als zentrale Anlässe der „humanitären Intervention“ gehandelten Ereignisse bzw. Vorhaben wie das „Racak-Massaker“ und der „Hufeisen-Plan“ niemals stattfanden bzw. geplant waren, wird ebenso beiläufig vermeldet wie das NATO-Eingeständnis der Verwendung von uranhaltiger Munition. Eine Studie von amnesty international – deren frühere Veröffentlichungen, soweit sie antiserbischer Verwendung dienlich waren, ganz hoch im Kurs standen – wurde höchstens in den „Keller“- und Seitenspalten der Zeitungen erwähnt. (8) „Dass es in Racak möglicherweise kein Massaker gab, habe sie ebenso wenig überrascht wie der Umstand, daß der Hufeisenplan wahrscheinlich nie existierte“, sagte eine der Verantwortlichen für die realen Massaker, die „verteidigungspolitische Sprecherin“ der Grünen im Bundestag, Angelika Beer, laut Berliner Zeitung (25. 3. 2000). Und weiter: „Allerdings seien der Hufeisenplan und Racak für sie persönlich ohnehin nicht der Grund für die Rechtfertigung der Nato-Angriffe gewesen.“ Soll man dankbar sein, daß man nichts über die persönlichen Beweggründe einer Täterin erfährt, die zwar guten Gewissens ob ihres Handelns, aber nach einem angeblichen „Messerattentat“ mit „Narben auf der Seele“ (Berliner Morgenpost 9. 7. 2000) durch die Welt läuft.
Ein anderer Täter, der auch nach gewöhnlichen bürgerlichen Rechtsvorstellungen sofort einer Aburteilung wegen Beteilung an vielfachem Massenmord zuzuführende Rudolf Scharping, will wenigstens aus seinem Herzen keine Beersche Mördergrube machen und outet sich offen als Vollstrecker des Volkswillens: „Ich meine, ich bin sehr gegen geschlossene Weltbilder. Aber ich glaube, daß Demokratien auch diese Orientierung brauchen, und da können wir uns lange unterhalten über manches. Da wird dann immer gesagt, ja, die Legitimation des Krieges, dahinter steckt doch was anderes. Da wird doch eigentlich die Botschaft vermittelt, sie wollten den Krieg legitimieren, der Außenminister, der Bundeskanzler und so, auf gut deutsch: die Öffentlichkeit übertölpeln und auf einen Weg ziehen, den die Menschen eigentlich nicht wollen. Erstens halte ich nichts von dieser Art Vertretungsmacht die behauptet, das wollten die Menschen eigentlich gar nicht, und zweitens gucke ich mir dann einfach an, was man in Umfragen sehen wird. Mit Verlaub, es hat überhaupt keinen Bedarf gegeben, manipulativ Legitimation zu besorgen.“ (9) (Hervorhebung von uns, d. Verf.) Das liest sich wie die Einlassung eines geständigen Täters vor Gericht. Das Plädoyer „Unsere Manipulationen waren eigentlich keine, weil sie den Umfrageergebnissen entsprachen“, würde zwar das hier imaginierte Gericht nicht gelten lassen, dennoch kommt man an ihrem Wahrheitsgehalt nicht vorbei. Denn Manipulation setzt als Beeinflussungshandlung mit Täuschungsabsicht – ähnlich wie Betrug – eine ursprüngliche Willensdifferenz von Subjekt und Objekt der eingesetzten Mittel voraus, welche zugunsten des manipulativen Willens überwunden werden soll. Wenn aber die – manchen Außenstehenden vielleicht aus guten Gründen – als manipuliert Erscheinenden schon vor dem Agieren des scheinbaren Manipulateurs dessen Auffassungen teilten und seiner konkreten Äußerungen als nachgereichte Bestätigung harrten, ja bedurften, dann kann nur von einem einverständigen Akt die Rede sein. Dann bleibt Scharping zwar Mittäter an einem Massenmord, er war aber auch Dienstleister an der deutschen Gesellschaft und diese seine Dienstleistungsempfängerin.
Die relativ gelassen und unengagiert erscheinende Zustimmung der deutschen Öffentlichkeit während des Krieges gegen Jugoslawien, die manchmal schon wie Gleichgültigkeit erschien – wie auch ihre explizite Gleichgültigkeit gegen die nachherigen Enthüllungen über die Lügen der Kriegspropaganda – ist in dem Umstand begründet, daß hierzulande zwecks Erreichung eines weitgehend bereits im Vorab bestehenden Kriegskonsenses nur noch durchsichtige Lügen erfunden werden müssen.Kein Greuelmärchen war abstrus genug, um nicht geschluckt zu werden und riß doch niemanden – vielleicht von Habermas mal abgesehen – richtig vom Hocker. Daß nun das Dementi von einer größeren Öffentlichkeit schlicht ignoriert wird, überrascht nicht, denn es waren projektive Greuel. Der psychoanalytische Terminus der Projektion trifft im doppelten Sinne auf die antiserbische Propaganda und ihre Rezeption zu: verbotene Lust an dem unterstellten (projizierten) Tun zu empfinden und die dem Verbot folgende Bestrafung, die sich ja gegen die eigene Lust richtet, am projektiven Täter gleich mit abzureagieren (also zugleich „Völkermord“ zu goutieren und einem zweiten „Nürnberger Gerichtshof“ vorzusitzen). Die Mischung aus Gier nach den „Massakern“ und relativer Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg lassen nur einen Schluß zu: Absender und Empfänger der Meldungen über – erwiesenermaßen erlogene – serbische Greueltaten würden diese am liebsten selber begehen, ohne sich als „Verteidiger der Zivilisation“ Zügel – also auch in Form von propagandistisch geheuchelten Sympathien für Albaner – anlegen zu müssen.
Jedes „J’accuse“ wird mit einem lapidaren „ob der Plan nun Hufeisen hieß oder gar nicht existiert, interessiert höchstens die Historiker“ (Süddeutsche Zeitung 6. 4. 2000) beschieden, und ein als Lügner überführter Kriegsminister wie Scharping ist erst recht ein moralischer Held, dem die demokratische Solidarität zu gelten habe. Wer ihn nämlich der „Selbstinszenierung“ zeihe, droht der Tagesspiegel (17. 5. 2000) rein präventiv, der gerate „selbst in Gefahr, zynisch zu werden“. Das nach realen und nicht nach eingebildeten Opfern der Serben fragende „Leichenzählen“ erwecke den Eindruck, „als wolle man Milosevic und nicht seinen Opfern zu Hilfe eilen.“
Wo die größte Sünde „Zynismus“, sprich Distanz zu den moralischen Protagonisten ist, dort konstituieren Massenmedien keine Öffentlichkeit im hergebrachten Sinne mehr, sondern eine erweiterte Privatheit, gebildet nach dem Muster der hoch emotionalen Beziehungen in der Kleinfamilie, die durch keine vernünftige/berechnende Überlegung mehr gegründet noch zusammengehalten wird, sondern nur noch durch die Angst vorm Alleinsein. Die Maßstäbe, an denen öffentliche Figuren gemessen werden, sind nicht mehr die mehr oder weniger vernünftigen, die man einmal an Fremde anlegte, sondern solche, wie sie im Nahbereich gelten: Gemeinschaft um jeden Preis. Je weniger die Mitglieder dieser Zwangsgemeinschaft sich wechselseitig ausstehen können, um so mehr benötigen sie die Exterritorialisierung des Feindes, der man sich selber ist, aber nicht sein darf. Ein Beleg dafür ist die hypertrophe Hysterisierung der Sexualität („serbische Vergewaltigungslager“): Wären die Verhältnisse im privaten, wie im „öffentlichen“ Bereich nicht schon längst der „Tyrannei der Intimität“ (Sennet) erlegen, herrschte in ihnen nicht ständig latente Inzestuösität, so wäre die Figur des von „außen“ kommenden Schänders – der „Serbe“, „der Kinderschänder“, der „Kampfhundbesitzer“ – nicht so bedeutsam: Ob es ihn gibt, und falls ja, was ihn tatsächlich ausmacht, ist nicht so bedeutsam wie die Tatsache, daß es ihn mit all seinem Bedrohungspotential geben muß. Natürlich wissen es alle: Es ist eine phantastische Produktion, gegen die da zu Felde gezogen wird. Gerade darum, und das ist nicht zuletzt ein TV-Spezifikum, überwiegt die moralische Glaubwürdigkeit des Schurkenjägers die längst veraltete Glaubhaftigkeit der von ihm vorgebrachten Rechtfertigungen. Das Fernsehen produziert diese Stereotypie nicht in dem Sinne, daß es sie ohne TV nicht gäbe. Es ist aber durch seine Nähe und Vertrautheit herstellende Bilderproduktion das Leitmedium einer intimisierten Öffentlichkeit, nach dessen Vorbild auch die Print-Medien diese Wahrnehmungsform (Personalisierung, Moralisierung) zu bedienen versuchen. Die „Glaubwürdigkeit“ Scharpings entspringt dem „moralischen“ Charisma einer Person, mit der man via Telebeziehung auf Du und Du ist: Intimität macht immun gegen Enthüllung.
Die mediale Inszenierung des „Milosevic-Clans“ (Alkoholismus, sexuelle Ausschweifungen, Allmacht) ist das Ab- wie Zerrbild der herrschenden Intimität. Der impulshafte Glaube an die wüstesten Vernichtungspläne eines Staates, der als identisch mit einem Familien-Clan gedacht wird, zeigt nicht nur, daß die Grenzen zwischen öffentlich und privat wirklich komplett eingerissen sind, die „Tyrannei der Intimität“ komplett ist, sondern auch, daß die deutsche „Schurkenstaat“-Obsession alles andere als zufällig sich an Jugoslawien heftet, weil hier die Projektionen von Mob und Elite (10) in moderner medialer Form zusammenfließen können.
Keineswegs regiert Empathie mit den projizierten Opfern, vielmehr Austauschbarkeit und Ambiguität von Kroaten/Moslems/Albanern als Opfer des Schurken einerseits und andererseits selber als potentielle Schurken (z. B. Albaner als Heimatvertriebene und „Hütchenspieler“ zugleich). Der kaum verhohlene Genuß an den zusammenphantasierten und wider alle Plausibilitätserwägungen unterstellten Vernichtungsplänen der Serben mündet in dem ebensowenig verhohlenen Genuß, es ihnen – den Serben – mal so richtig zu zeigen. Zurückhaltend wirkt diese Freude gelegentlich nur deshalb, weil man „es“ auch ihren Gegnern bzw. Opfern lieber zeigen würde als ständig Mitgefühl mit ihnen heucheln zu müssen. Das gilt nicht nur für die Albaner, denn auch das unabhängige Kroatien war gegen Ende der Tudjman-Ära von einem Sympathieträger schon fast zu einem „Schurkenstaat“ mutiert; nur der Machtantritt einer neu-sozialdemokratischen Regierung bewahrt es derzeit vor Sanktionen.
Ein wirklicher Unterschied zwischen „Serben“ und „Kosovaren“ wird denn aktuell kaum mehr gemacht. Beispielhaft führt das Beute-Mitarbeiter Mark Terkessidis mit seinem im Tagesspiegel (24. 04. 2000) veröffentlichten Jugoslawien-Reisebericht vor: „Angesichts ethnischer Gewalt und steigender Verbrechensraten beginnt der ideelle Gesamtalbaner langsam wieder dem Vorkriegsklischee vom südländischen Kriminellen zu ähneln.“ Der „Pop-Linke“ formuliert die Haltung der Mehrheit seiner Kollegen und Leser: „Die Bewohner des imaginären (!) Jugoslawien sind psychologisch am Ende.“ Es gibt nichts mehr, worin sich die als psychisch, moralisch und sexuell als völlig depraviert beschriebenen „Serben“ von den „Kosovaren“, deren signifikantes Merkmal für Terkessidis der „im Westen gestohlene Neuwagen“ ist, noch qualitativ unterscheiden. Es sind wohl vor allem zwei Gründe, die noch für eine Parteinahme sorgen: Einerseits das Bedürfnis, deutsche Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Terkessidis: „Organisierte Wiederaufbau-Maßnahmen sind nur im deutschen Sektor zu beobachten. Ansonsten wirkt die internationale Gemeinschaft chaotisch und ineffektiv.“ Andererseits geht es um die moralische Legitimation des real stattfindenden Tötens von Serben durch völkisch fanatisierte Albaner; denn für das, was derzeit im Kosovo geschieht, ist die Anwesenheit der KFOR-„Schutztruppe“ eine unabdingbare Voraussetzung. Die noch stattfindende Parteinahme ist allerdings eine ziemlich unengagierte, die in Äquidistanz zu den beteiligten Parteien umkippt.
Diese Äquidistanz drückt sich vor allem in der Forderung nach einer effektiven „reeducation“ aller Beteiligten aus. Eine solche Forderung war in Deutschland zum ersten Mal von Daniel J. Goldhagen in der Süddeutschen Zeitung (30. 4. 99) erhoben worden, damals allerdings nur bezüglich der Serben „Die serbischen Schreckenstaten unterscheiden sich von denen der Nazis grundsätzlich nur durch die geringeren Dimensionen“, hatte der Autor von „Hitlers willige Vollstrecker“ einer dankbaren Leserschaft verkündet. Hatte er sie drei Jahre zuvor durch die Katharsis der Konfrontation mit den kollektiven Menschheitsverbrechen ihrer Eltern und Großeltern geschickt, um ihnen kurz darauf die Unbedenklichkeit aufgrund erfolgreich absolvierten alliierten wie selbstverordneten Demokratietrainings zu attestieren, erhielten sie nun durch den Meister der Austreibung ihrer NS-Gespenster höchstpersönlich die licence to kill überreicht – freilich zum hehren Zweck der Erziehung anderer. Aber schon damals war die allgemeine Freude darüber von einer Prise Skepsis getrübt. „Kann man Menschen überhaupt umerziehen?“ fragte der Tagesspiegel (4. 5. 99). „Der Glaube an die Umerziehbarkeit unserer Gattung ist, seit den Tagen der Französischen Revolution, ein Kennzeichen der großen Ideologien gewesen. Wahrscheinlich überschätzt Goldhagen den Effekt der Reeducation ein wenig, und er unterschätzt den Anteil, den das Wirtschaftswunder an der Domestizierung der Nachkriegsdeutschen gehabt hat. Er unterschätzt auch den Generationenkonflikt von 1968 und den Wunsch der Deutschen, von den anderen Völkern wieder gemocht zu werden.“ Hier wird einerseits völlig zutreffend darauf verwiesen, daß ohne „Wirtschaftswunder“ (Herausbildung der materiellen Kriegspotenzen) und „1968“ (Auffrischung des deutschen Elitepersonals, das sich nun gegenüber seinen Vorgängern durch eine zeitgemäß flexible Skrupellosigkeit auszeichnet) wohl kein deutscher Angriffskrieg möglich gewesen wäre. Andererseits spricht aus dem Verweis auf den unglücklichen, sonst im gleichen Blatt oft als „töricht“bezeichneten Liebeswunsch der Deutschen und der Kennzeichnung der Goldhagenschen Forderung als gläubige und ideologische ein fundamentaler Unwille, Aggression und Destruktion Zwecken unterzuordnen, die über die unmittelbare Gewaltanwendung hinausweisen.
Wenn aber die Vorstellung einer erfolgreichen Umerziehung dem Bereich des Glaubens und der Ideologie angehört – auf deutsch: unrealistisch ist –, dann wird wohl auch nicht mehr lange an der in den letzten Monaten erhobenen Forderung nach reeducation von „Serben“ und „Kosovaren“ festgehalten werden. Wenn grundsätzliche Zweifel an der „Umerziehbarkeit unserer Gattung“ angesagt sind und nur die Deutschen vom Wunsch nach Liebe und Anerkennung getrieben werden, dann wäre es einzig hilfreich, den gesamten Erdball unter von Deutschland geleitetes pädagogisches Kuratel stellen. Doch nicht die faktische Unmöglichkeit eines solchen wahnwitzigen Projektes, das bald zur rapiden Dezimierung der nichtdeutschen Weltbevölkerung führen würde, sorgt dafür, daß – wohl zunächst von einem der bewährten „Vor- und Querdenker“ – der Alptraum einer ewig währenden pax germania bloß „angedacht“ wird.
Es ist vor allem das Bedürfnis nach und das libidinös geprägte Einverständnis mit dem spasmisch wiederkehrenden Kriegstheater, was die deutschen Medien und ihre „Öffentlichkeit“ antreibt.Spasmisch will in diesem Zusammenhang sagen, daß die Notwendigkeit des Kriegstheaters mit seiner stereotypen Rollenverteilung sich als Konsequenz eines binnengesellschaftlichen Zwanges auf die Aggressoren selbst darstellt. Ein Zwang, der stets erneut nach Abfuhr sucht: Nicht mehr die romantische Parteinahme für die Opfer, sondern die Lust an deren imaginierter Vernichtung regiert das, was man – zu Unrecht – immer noch „Öffentlichkeit“ nennt, deren mediale Infrastruktur aber inzwischen so intim ist wie Familienfeier und Bierzelt. Und diese Lust lässt man sich nicht durch nachgereichte Enthüllungen wie der, daß die Vernichtung gar nicht stattgefunden habe, verderben. Sie werden ignoriert, oder – falls dies nicht so einfach geht – der Enthüller dem Feindeslager zugerechnet. Denn Vernichtung wünscht man um jeden Preis. Das drückten übrigens schon die von Karl Kraus in den „letzten Tagen der Menschheit“ festgehaltenen STIMMEN AUS DER MENGE (11) aus: „Bravo! So ist es! – Serbien muß sterbien! – Ob’s da wüll oder net! – Hoch! – A jeder muß sterbien!“
Uli Krug/Horst Pankow (Bahamas 32 / 2000)
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