Titelbild des Hefts Nummer 32
Im Visier des Volkszorns:
Heft 32 / Sommer 2000
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Infantile Inquisition

Vergewaltigungsdebatten in der Szene: Verdränger werden Verfolger

Mit dem nicht eben originellen Slogan „Sie können Deutschland jetzt ausschalten“ riefen Plakate der Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) zum alljährlichen Kreuzberger 1. Mai-Kiez-Rundlauf auf. Zur gleichen Zeit war es schon nicht mehr möglich, den Aufruftext in einschlägigen Infoläden zu bekommen. Statt dessen verkündete das Szeneblatt Interim: „Sie können die AAB jetzt abschalten.“ Seit dem Jahreswechsel 1999/2000 rufen linksradikale und autonome „Strukturen“ zum Boykott der AAB auf, und Infoläden, Szenekneipen und ein Berliner AStA schlossen sich eilfertig an. Der Vorwurf: Die AAB dulde einen Vergewaltiger in ihren Reihen oder habe sich doch nicht in gehöriger Weise von ihm distanziert. Ein Reizgas-Überfall auf eine Friedrichshainer Kneipe in der mutmaßlich Angehörige der AAB zusammen mit dem geouteten Vergewaltiger ihre Bierchen trinken sollen, war der Höhepunkt einer Kampagne, die interessierten Lesern in den Spalten der Interim wieder einmal eine sogenannte Vergewaltigungsdebatte bescherte.

„Täterschützerorganisation“ und somit Objekt des Hasses ist diesmal einer der erfolgreichsten politischen Gruppierungen innerhalb der Berliner Szene, deren Aktivisten überwiegend zwischen 16 und 25 Jahre alt sind und die als sogenannter gemischter Zusammenhang nicht nur einen unüblich großen Frauenanteil vorzuweisen hat, sondern nachweislich unter den entscheidenden Genossen eher Frauen als Männer präsentiert. Es mag am Rande von Bedeutung sein, daß sich die AAB in den letzten zwei Jahren immerhin auch von allzu öder Vereinsantifa emanzipiert und inzwischen recht beherzt den Antisemitismus und vor allem das deutsche Täterkollektiv als Gegner ausgemacht. Aber der Neid auf die relativ Erfolgreichen im Heer der Loser, die noch nicht einmal ein halbes Hundert für die EXPO-NO-Kundgebung mobilisieren konnten, ist wahrscheinlich nur zufällig Hintergrund eines exemplarischen Falles, der statt AAB jeden anderen Namen tragen könnte.

Vergewaltigung – wir lernen definieren

„Thomas (1) hat mich im Dezember 1998 vergewaltigt! Obwohl ich ihm mehrmals gesagt habe, daß ich nicht mit ihm schlafen will, hat er mich gefickt. Hinterher fragte er, ob ich das als Vergewaltigung ansehe, und daß es doch in Ordnung sei, mir trotz eines Neins Lust zu machen. Es ist eine Vergewaltigung Thomas! Es ist in keinster Weise o.k. einer Frau ‚Lust machen‘ zu wollen und erst recht nicht, wenn die Frau nein gesagt hat.“ Das war der Startschuß, veröffentlicht in Interim Nr. 471 am 11.3.1999. Was war da vorgefallen? Der Autoren Neugier ging nicht so weit, dem wirklichen Sachverhalt hinterherzurecherchieren. Sie beziehen sich aber auf ein kursierendes Gerücht, das einen Ablauf beschreibt, der inner- und außerhalb der Szene bekanntlich schon abertausendmal vorgefallen ist. Diesem Gerücht zufolge haben ein Mann und eine Frau sich getrennt und sind noch nicht ganz darüber hinweg, daß sie sich jetzt versagen, was sie einander längere Zeit gewährten: Sexualität. Man versucht Freundschaft zu stiften, wo früher Liebe war, und wie die Zufälle in „Zusammenhängen“ eben so spielen, führen etwas Alkohol auf einer Fete und etwas Einsamkeit, Sehnsucht und viel Erinnern zum Bruch des Vorsatzes. Man tauscht Zärtlichkeiten aus und irgendwann gehen sie zu ihr oder zu ihm. Hier kommt es zu dem, wovon beide wissen, daß sie danach mit Katzenjammer aufwachen werden. Weil sie besser weiß, daß sie es bereuen wird, appelliert sie an ihn, nicht mit ihr zu schlafen. Er läßt nicht von ihr ab. Sie schläft mit ihm, er mit ihr. Am nächsten Tag wird Niedergeschlagenheit zur Wut gegen sich, weil sie eben doch mitgemacht hat, und mehr noch gegen ihn, der es doch hätte ernst nehmen müssen, daß sie zunächst nicht wollte.

In einer Broschüre des Titels „Mein Körper gehört mir“ hat die OllaFa (Offene Linke Liste für Alle des Göttinger AStA) 1996 auf relativ pragmatische Weise versucht, ein akzeptables Fundament für eine antisexistische/antipatriarchale Praxis der Politszene zu legen. (2) Wissend, daß der Vergewaltigungsbegriff in den Szenediskussionen völlig aus seinen begrifflichen Fugen zu geraten droht, stellen sie fest, „daß jenseits des subjektiven Empfindens der Opfer (relativ) objektive Kriterien für die Heftigkeit des Angriffs notwendigerweise zu finden sind, um einen adäquaten Umgang mit dem Täter zu ermöglichen.“ Die Ollafa unterscheidet deshalb zwischen „Vergewaltigung“, „sexuellen Übergriffen“, „sexueller Belästigung“ und „sexueller Ausbeutung von Kindern“. „Unter Vergewaltigung fassen wir jede Form von analer, oraler oder vaginaler Penetration mit Gegenständen oder Körperteilen, die gegen den Willen oder ohne Rücksichtnahme auf das Wohlergehen der Betroffenen erfolgt.“ Allein damit wäre die zitierten Berliner Bezichtigung hinfällig. Dabei läßt die hobby-juristische Definition der Ollafa ein Merkmal, das die wirkliche Justiz setzt, noch beiseite, nämlich die Penetration „mit Gewalt oder Drohung (zu) erzwingen.“ Diese Definition zugrunde gelegt, könnte vom Brechen des Willens der Anklägerin erstrecht keine Rede sein.

Der szeneeigenen Interpretation zufolge jedoch wurde der Wille der Friedrichshainer Anklägerin gebrochen, ohne daß sie etwas befürchten mußte, ja ohne in irgendeiner Weise bedroht worden zu sein. Die Anklägerin nennt auch ganz klar einen völlig anderen Grund, ihr „wurde Lust gemacht“. Gemeinhin nennt man das Verführung, und Verführung hat, wenn sie gelingt, zur Folge, daß aus einem Nein ein Ja wird. Die ursprüngliche Intention, nicht mit dem Mann schlafen zu wollen, ist einem neuen Willen gewichen.

Die Autoren der Ollafa-Broschüre haben diese Konstellation gesehen und wußten nicht damit umzugehen. In einer Fußnote schreiben sie: „Unser Diskussionsergebnis lautet zunächst insofern anders, als daß wir statt ,gegen den Willen oder das Wohlergehen der betroffenen Frau‘ anfangs ‚unter Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt‘ als Definitionsbestandteil von sexueller Gewalt und ihren verschiedenen Ausformungen als sinnvoll betrachteten. Damit waren wir jedoch insofern unzufrieden, als daß hier der Gewaltbegriff einfließt, was weitere Schwierigkeiten in sich birgt.

So stießen wir bei der Diskussion dann auch auf das Problem, was in unseren Augen eigentlich ‚psychische Gewalt‘ bedeutet. Relativ klar ist die verbale Drohung in aggressiver Weise (...) (z.B. ‚wenn du nicht mit mir schläfst, knall ich dir eine‘). Uneinig waren wir uns aber darüber, ob eine verbale Drohung/Erpressung auf emotionaler Ebene (‚wenn du nicht mit mir schläfst, will ich nichts mehr von dir wissen‘) als Gewalt anzusehen ist, wenn keine ökonomische Abhängigkeit gegeben ist.“ Die Überlegungen dieser Fußnote auf den unterstellten Verlauf der zur öffentlichen Anzeige gebrachten Vergewaltigung angewandt, würden den Tatbestand „psychische Gewalt“ ebenfalls als nicht erfüllt ausscheiden lassen.

Definitionsmacht und Täterschutz

Die eingestandenen Unsicherheiten der Ollafa mit dem Willensbegriff hätten ihr andernorts bereits einen zünftigen Täterschützervorwurf eingetragen. In der Interim Nr. 500 (20.4.00) geht eine FrauenLesben-Gruppe aus Berlin in einem mehrseitigen Papier, immer noch am Friedrichshainer Vorfall anknüpfend, aufs Ganze: „Das Grundprinzip einer Vergewaltigung, nämlich den Willen in Bezug auf Sexualität und körperliche und geistige Integrität zu übergehen, findet auch oder gerade in heterosexuellen Beziehungen statt und muß nicht unbedingt dem herkömmlichen Bild von Vergewaltigung entsprechen (...) Die Forderung nach einer eindeutigen Definition einer Vergewaltigung setzt sich über die Wahrnehmung der betroffenen Frau hinweg.“ Die Konstruktion juristischer Tatbestände führe „zu einer Verschleierung der alltäglichen Gewalt von Männern gegen FrauenLesben: Die Frau muß sich rechtfertigen und die herrschende patriarchale Definition von Vergewaltigung akzeptieren und nachweisen, daß der Mann wirklich ihren Willen gebrochen hat.“ Ein Berliner FrauenLesbenbündnis hat bereits am 25.3.99 in Interim Nr. 472 Gruppen wie der Ollafa vorgeworfen, „die Definitionsmacht als Tatsache“ nicht anerkannt zu haben. Schlimmer noch, die AAB habe „wie in einem bürgerlichen Gerichtsverfahren versucht, die ‚Wahrheit‘ herauszufinden.“ Die Autorinnen fordern dagegen ganz unbürgerlich und gerichtsfern: „Vergewaltiger lebenslänglich raus aus allen linken Zusammenhängen!!!“ (Hervohebung von den Verf.) In der Interim vom 20.4.00 wird die Forderung nach Ausschluß des Vergewaltigers noch erweitert um die nach Ausschluß der AAB. Dort spielt sich ein Bundesweites Antifatreffen (BAT) als veritables Zentralkomitee der Antifa auf. In einer „Stellungnahme zum Umgang mit sexistischen Übergriffen“ heißt es: „Es ist in linksradikalen Zusammenhängen nicht akzeptabel, Gruppen zu unterstützen, die das alleinige Definitionsrecht der betroffenen Frauen nicht anerkennen (...). Die AAB hat durch seit über einem Jahr andauerndes Täterschutzverhalten für uns jeden linksradikalen Anspruch verloren.“ (3)

Den durch nichts bestimmbaren Willen, ersetzt man also durch eine dogmatische Setzung: Wie du es erlebt hast, so sei es. Der zaghafte Versuch der Ollafa und anderer, objektive Kriterien zu fassen und es nicht beim ausschließlich Subjektiven bewenden zu lassen, zielt in die richtige Richtung, mußte aber scheitern, denn wie ihre Kontrahenten argumentiert sie juristisch und damit falsch: Eine juristische Kategorie wird das, was subjektiv erlitten wurde, niemals fassen können. Juristisch im Sinne von Standrecht und Sippenhaft geriert sich aber auch der antisexistische Mainstream. Er setzt das subjektiv Erlebte als Strafe nach sich ziehenden Bruch des Willens und kürt die Trägerin dieses Willens per gewährter „Definitionsmacht“ zur Richterin oder besser zum Racheengel und bereitet so eine antisexistische Strafprozeßordnung vor. Das hierin hypostasierte Selbst kann jedoch unmöglich einen Begriff von Realität vermitteln – und will es auch nicht. Unentwirrbar werden Tatsache und individuelle Verarbeitung. Statt kritischer Bemühung oder emanzipatorischer Absicht wirkt hier ein selbstherrliches Subjekt, dessen Integrität und Unbestechlichkeit jeder Verunsicherung durch die Außenwelt widersteht. Dabei ist nichts so unsicher wie die individuelle Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen Ich und dem anderen: „Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen kennen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird oder die Grenzen wirklich unsicher gezogen werden; Fälle in denen uns Teile des eigenen Körpers, ja Stücke des eigenen Seelenlebens, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle wie fremd und dem Ich nicht zugehörig erscheinen, andere, in denen man der Außenwelt zuschiebt, was offenbar im Ich entstanden ist und von ihm anerkannt werden sollte. Also ist auch das Ich-Gefühl Störungen unterworfen, und die Ichgrenzen sind nicht beständig.“ (Freud 1994, 33) Damit ist genau der seelische Vorgang beschrieben, der aus einer Verführung, die ja an irgendeinem Mindestinteresse beim anderen ansetzen muß, eine Vergewaltigung neuen Typs werden läßt. Der Außenwelt, dem anderen, wird zugeschoben, „was offenbar im Ich entstanden“ ist: die Lust nämlich.

Am Ende einer Debatte, die nie eine war, weil die Teilnehmer gegen das Argument genauso resistent sind wie gegen die zur Verhandlung stehende Realität, herrschen Haß und Feigheit; das Begriffsarsenal ist auf zwei Wörter, Partriarchat und Definitionsmacht, zusammengeschrumpft. Der ganze Jammer des Geschlechter- und Liebeskrieges – auch unter Gleichgeschlechtlichen – bleibt verborgen, ja wird entsorgt durch eine Haltet-den-Dieb-Rhetorik, die im als „Vergewaltigung“ rubrizierten „Lust-Machen“ das Böse schlechthin sieht und eine Gemeinschaft der Unbefriedigten geschmiedet, die im „Täter“-jagenden Halali sich einigt. Eine Minderheit ist es nur, die dieses Ritual regelmäßig wieder aufleben läßt und eine große Mehrheit zollt entweder distanzierten Beifall oder schweigt unauffällig und tut hinter vorgehaltener Hand kund, für wie hohl und überflüssig man die Veranstaltung halte. Auch das war schon immer so. Männer und Frauen, Heterosexuelle, Schwule und Lesben, die das Treiben als degoutant empfinden haben geschwiegen und werden weiter schweigen – bis zum großen Tabubruch, der sich schon vielfach abzeichnet.

Von einer nunmehr gänzlich bewußtlosen Jungmännerwelt – mit weiblichen Anhang – wird gegen die triefende Verlogenheit bereits jetzt das gesamte Arsenal des Herrenwitzes in Anschlag gebracht. Dieses steht in seiner Verdruckstheit der Verfolgungshysterie in nichts nach und wird auf die Eiferer genauso zurückfallen wie auf die schweigende Mehrheit, der das Patriarchatsgeschwafel längst bis obenhin steht, die sich aber feige duckt. Feige gegenüber einer angemaßten Hegemonie, feige gegenüber der eigenen Hilflosigkeit in der großen Frage: Lust. Denn es ist nicht bloß die Auswirkung des gesamtgesellschaftlichen, antifeministischen roll-back, die sich in der Szene, gerade unter jungen Männern, langsam als Tabubruch abzeichnet: Der Kerl, der Sexmagazine liest und sich dabei einen herunterholt wird durch sein Tun keineswegs automatisch unsympathisch. Das öffentliche Eingeständnis, mehr noch, das Bekennertum dazu berechtigt weder zur Rüge noch zum gewalttätigen Überfall, wie vor kurzem in Friedrichshain geschehen. Man hätte sich von unserem Prahlhans lediglich etwas weniger Hausbackenes gewünscht als das mit Siegessicherheit Vorgetragene: So tun es doch alle. Das Entzücken jedoch über manch 17jährigen Jüngling, zum Beispiel aus der AAB, wird einem sofort verleidet durch roh männerbündlerisches Verhalten, das von „fetten Fotzen“ schwallt (4), wenn eine Polizistin einmal nicht dem Typus der ranken, sportlichen Berliner Prügelbulette entspricht. Das ist die Reaktion, die sich als „Tabubruch“ an der Hysterie derer augenzwinkernd rechtfertigt, die allen Ernstes an der Selbstbefriedigung Anstoß nehmen oder ihr Bilderverbot auferlegt. Sie tun nicht, was alle tun, sondern verlangen Schlimmeres: Das, was im religiösen Internat alle zu tun hatten, nämlich die Hände auf der Bettdecke lassen. Wenn Männer ihren inneren Politkommissar mit ins Bett nehmen, wie Thomas – „hinterher fragte er mich, ob ich das als Vergewaltigung ansehe“ –, wird Vorbereitung und Ausführung des Sexualakts für die Beteiligten zum peinigenden, Angst- statt Lustschweiß produzierenden Erlebnis. Der wilde Ausbruch in verrohte Stechermentalität muß da angelegt sein.

Lust

Verbannt im Giftschrank der Seele wuchert die Lust. Sie tritt per se aggressiv, grenzüberschreitend, ungesittet auf. Wie sollte sie anders sein, wo doch schon das Krähen des Kindes nach wollüstiger Aufmerksamkeit keineswegs unaggressiv ist oder das versunkene An-den-eigenen-Zehen-Lutschen eben kein besonnenes oder soziales Verhalten vorstellt? Die ganze Triebgeschichte eines jeden, Männlein wie Weiblein, ist von Kindesbeinen an eine Geschichte frustrierter Allmachtphantasien, schreckerregender Vorstellungen, Versagungenen und Entsagungen, aber auch einer Lust, die sich ständig gegen die ihr – mit einigem Recht übrigens – auferlegten Verhaltensformen wehrt. Das Spiel schließlich wird zur Form lustvollen Agierens, ohne – zumindest unter aufgeklärteren Verhältnissen als sie momentan in der Interim herrschen – sofort Strafe fürchten zu müssen. Erwartet jemand ernsthaft, daß das Verbotene und vordergründig Gezähmte dieses Spiel nicht bestimmt: die Freuden der Passivität wie der Furor der Überwältigung? Nur Lügner oder große Zuchtmeister ihrer Libido können von sich behaupten, im Liebesspiel nicht schon Figuren der Überwältigung mit der begehrten Person gespielt zu haben, oder so etwas könne keinen Spaß machen. Besser an seine kindlichen und jugendlichen Doktorspiele und an manche mit Schulgdgefühl belastete Erfahrung des Erwachsenenlebens sollte sich derjenige erinnern, der von sich behauptet, er habe in Phantasie und im Liebesspiel nicht manches Mal die große Überrumpelung, das Genommenwerden vom "wilden Mann“, der durchaus von einer Frau gespielt werden kann, nicht schon lustvoll durchlebt. Keinen nachvollziehbaren Grund gibt es auch dafür, warum Schwulen oder Lesben diese Grauzone des Spiels mit masochistischem „Es“-mit-sich-geschehen-Lassen und sadistischer Gewalt fremd oder dieses eine exklusive Domäne der „Männlichkeit“ sein solle. Gerade dieser Stereotyp von der besonderen und naturgegebenen Moralität der Frau – so wie also seit den 70er Jahren ökopaxfeministisch schwadroniert wurde und wird – erscheint wie eine politisch-korrekte Variante des Gebärmaschinen-Feminismus der katholischen Kirche (wenngleich diese per definitionem die homoerotische Variante des genannten Stereotyps „Nur Frauen-Liebe ist wahre Liebe“ zugunsten der Mutterliebe verwerfen dürfte). Hier wie dort wird ein passives Frauenbild kultiviert, das die Lust, das Gemeine, den Schmutz nur als von außen kommende Anfeindung des reinen, sanften, engelsgleichen Wesens kennt.

Die genannten Figuren im Liebesspiel mit Vergewaltigung umstandslos zu identifizieren geschieht absichtsvoll, denn bekanntlich stößt Vergewaltigung, also der bewußte Bruch fremden Willens unter Ausübung von Gewalt oder ihrer Androhung zum Zweck der Benutzung eines Körpers zur Befriedigung der eigenen Lust, in linken Kreisen nirgends auf Zustimmung. Dem Täter wird seine Handlung bei Anzeige vor den Strafbehörden oder Information des Umfelds Bestrafung und/oder Ausschluß einbringen. Weil das „Hab dich nicht so, ich dachte, du bist emanzipiert“ der späten 60er längst nur noch in der Kino-Retrospektive gesagt wird, meint die Vergewaltigungsdebatte in der linken Szene längst etwas anderes. Das ganze redundante Pochen auf die „Definitionsmacht“ soll die Grenze zwischen „dem herkömmlichen Bild von Vergewaltigung“ wie Eine FrauenLesben Gruppe aus Berlin sich unfreiwillig ehrlich ausdrückt und ganz anderen Formen der „Grenzüberschreitung“, von der Anmache bis zum – wie es auf Amtsdeutsch heißt – „geduldeten“ Geschlechtsverkehr, gezielt verwischen helfen

Die genannten Formen des sexuell motivierten Übergriffs aber schillern mehr, als es denen lieb sein kann, die sie anklagend ins Feld führen. Die alltägliche „aggressive Anmache“ als ausgesprochen penetrante Form eines Verführungsversuchs, der auf das Einverständnis des begehrten Objekts schon nicht mehr abzielt, ist völlig intolerabel und tatsächlich ein Gewaltakt, der die Bewegungsfreiheit von Frauen in der Öffentlichkeit gelinde gesagt einschränkt, hat aber deswegen mit Verführung nichts zu tun (was selbstverständlich für die „Duldung“ unter Drohung nicht minder gilt). Die Abscheu vor der Anmache meint jedoch mehr als die nur allzu begründete Angst vor gewalttätigen Übergriffen. In ihr schwingt häufig die Selbststilisierung zum Opfer von Angriffen aus der feindseligen, penetrierenden Außenwelt mit, wodurch unfreiwillig die klassische Geschlechterrolle der Frau reproduziert wird: Wo Männer- und Frauenzusammenhänge sich auf die Brandmarkung jeder „Anmache“ einigen, spricht aus ihnen geschlechtsunabhängig die Angst vor der eben zur Sexualität gehörenden „Genzüberschreitung“, die man sich selber aktiv nicht zutraut und passiv nicht erleben will: Rigider Selbstschutz, der die Zurückweisung eigener Annäherungsbemühungen genauso fürchtet wie fremdes Begehren.

Verdrängung und Verfolgung

Was aber führt eine ganze Szene seit 20 Jahren und mehr dazu, niemals strafbewährte Übergriffe, Verführungen also, zu sanktionieren, Pamphlete zu verfassen, in der Anlageschrift, Verurteilung und Vollstreckungsanweisung aufs Mal enthalten sind? Selbst dann, wenn sie wirklich als die Unbestechlichen unter sich wüteten, bis sie sich in einen Haufen apathischer Subjekte verwandelt hätten, die sich unter Sexualität nur noch Angst- oder Abscheu-Erregendes vorstellen können, selbst dann, wenn sie zu einer Klosterbrüder und -schwesternschaft mutiert sind, die ihre durch Verzicht und Verfolgung teuer erkaufte Unfehlbarkeit in einer lauwarmen, aber ewigwährenden Gemeinschaft zu etablieren wissen, selbst dann werden sie das Unreine, das Verlangen, die Begierde und die Aggression nicht ausrotten können. Das heimlich Begehrte und Ersehnte, aber autoritär Verdrängte führt seine wüsten Veitstänze in den Anklageschriften und Verurteilungen auf, die stets von dem Vorsatz geleitet sind, so stillgelegt wie man selber möge die Welt außen herum sein. Wenn zum Beispiel Verführung als „Lustmachen“ apostrophiert wird, das „in keinster Weise o.k“ sei, wie im Berliner Outing geschehen, dann muß, wenn eine ganze Gruppe das mitträgt, notwendig und regelmäßig die Sau durchs Dorf getrieben werden. So maßlos wie der unterdrückte Trieb ist, so maßlos wird der verdrängende Verfolger.

Als wiederholten sich die eingeübten Verhaltensweisen des ganz normalen, öffentlichen Umgangs mit Sexualität und Gewalt, wird auf der Grenzlinie von Kitsch und Obszönität formuliert, wobei das Unbewußte das offizielle Bilderverbot über dem Sexuellen unterläuft. Wenn z.B. in der Interim Nr. 500 zustimmend eine Barabara Kavemann zitiert wird: „Zentral für das Erleben von Gewalt ist das persönliche Empfinden von einer Grenzüberschreitung, von einer Enteignung des Körpers und der Seele, von einer Beschneidung der Persönlichkeit, bis nur noch ein Rumpf übrig ist“, verrät die Bildersprache, die mit keineswegs zufälligen Analogien zu Zwangsprostitution, Verstümmelung der Genitalien und Zerstückelung des Körpers, wie ihn sonst nur splatter-Videos präsentieren, arbeitet, viel über die Seelenverwandschaft zum klassischen Inquisitor oder Zensor. Eine verwandte Sprache kennt man aus den periodisch auftretenden Mißbrauchs und Vergewaltigungsserien der Regenbogenpresse: Interim und Schlüsselloch bieten beide ein lustvoll ausgemaltes Szenario einer durch brutale Aggression zerstörten Schuldlosigkeit, Reinheit und ergötzen sich am Ausgeliefertseins der vergewaltigten Frau oder des Mädchens. In diesem obsessiven Vergnügen scheint der Wille zur Tat auf, der sich umstandslos in furchtbares Strafbedürfnis verwandelt.

Körper

Die eigentlich inhaltslose, rein kulturalistische Abgrenzung von hie Szene da Mehrheitsgesellschaft, zieht Nahrung aus dem scheinbaren Widerspruch zwischen marktschreierischer Ausstellung attraktiver Körper in den Massenmedien und dem bereits in den offiziellen Witz eingegangenen Hang der „Alternativen“ zu Verhüllung und Verhäßlichung. Dieser ist aber dem gesellschaftlichen Trend zur Enthüllung und – gleichwohl asexuellen – „Fit-For-Fun“-Kultes verwandter, als es scheint.

Die Mehrheitsgesellschaft verordnet sich schweißtreibendsten Hedonismus. In seinem zeichen gleichen sich die Geschlechter in der vom Kulturbetrieb veranstalteten Transformation des Körpers zur Ware an. Dem Druck, sich dem Ideal annähern zu müssen, kann längst auch kein Mann mehr entgehen. Das zweifelhafte Privileg, sich gehen zu lassen, brandmarkt die Loser, die sich vielleicht schon deshalb, am deutlichsten in den USA, gleich selber sichtbar entwerten: Sie werden fett. Dem Druck, Leistungsfähigkeit zu zeigen, also auch in Sachen sexueller Attraktivität dauernd im Kurs stehen zu müssen, korrespondiert nicht nur die dauernd abfallende wirkliche Lustkurve. In den 60er und 70er Jahren als die feministische Bewegung mit einigem Recht auf die einseitig auf den weiblichen Körper abzielende Vermarktung zum reinen Objekt hinwies, beinhaltete die gleiche Vermarktung noch einen Rest von Utopie: Sie transportierte die wenn auch verdinglichte Huldigung der Schönheit, weckte mehr als die unmittelbare Begierde das quälende Bewußtsein von der Unerfüllbarkeit der eigenen Sexualität. Damals noch im Widerstreit mit der Moral bürgerlicher Askese stehend und in der „sexuellen Revolution“ einen scheinbar fortschrittlichen Ausbruch verheißend, stand die Präsentation des nackten (weiblichen) Körpers jedenfalls noch im Zwiespalt von Lusterweckung und Anpassungsdruck. Die Ausnahme wurde zur Regel, die Dauerkonkurrenz im Schönheitswettbewerb beider Geschlechter, hat die Schönheit als Versprechung fast völlig entwertet, und mit ihr die Lust. Nachdem alle Tabus gebrochen sind und man sich im Fernsehen gepflegt über sogenannte Perversionen unterhalten kann, kämpfen die einen hausbacken um den Erhalt der ehelichen Sexualität von deren durchaus gesundheitsfördernder Funktion man sich einiges verspricht. Andere überbieten Beate Uhses Konzept „Appetit kann man sich woanders holen – gegessen wird zu Hause“ durch die noch hausbackenere Praxis, bei entsprechenden Vereinen sich ein anderes Ehepaar ähnlichen Alters und gesellschaftlicher Stellung zwecks Partnertausch und Gruppensex vermitteln zu lassen. Solches Tun bestätigt, daß die anderen genauso langweilig sind wie man selber, und fällt damit hinter die Versprechungen noch des ödesten Pornofilms zurück. Andere dagegen haben sich den Kick jenseits von Eheleben und Swinger-Club gesichert und vervollkommnen die Bemühung um die allseitige Sexualisiertheit durch den konsequenten Verzicht aufs immer wieder enttäuschende Objekt; sie betreiben zumeist schmerzverursachende Autoerotik in ihren vielfältigen Betriebsformen. Eine solche Abschottung gegen frustrierende Außenerfahrung, gar mit den Qualen der Liebe, der Grenzauflösung, treibt auch die autonomen Sittlichkeitsapostel um: In der Askese des Fitneßstudios wie in der der geschwätzigen Moralität erfährt sich das Selbst als unversehrtes und unversehrbares. Letzterer Variante von Askese kommen nur zwei Dinge in die Quere: Eines von „außen“ – das sogenannte Patriarchat – und eines von „innen“ – die Verliebtheit.

Patriarchat

Die Angleichung der Geschlechter in der Ungeschlechtlichkeit des keinen physischen oder sozialen Ballast mehr duldenden Konkurrenzkampfes hat der traditionellen Familie und ihren Rollenzuweisungen den Garaus gemacht. Die Erkämpfung der Gleichheit aber hat den Verzicht auf das „Besondere“, die bedrohliche Eigenmächtigkeit des Sexus, gefordert. Der „Feminismus“ der Szene ist nicht mehr wie zu Simons de Beauvoirs Zeiten Avantgarde einer gesellschaftlichen Bewegung zur Überwindung der repressiven Ungleichbehandlung von Mädchen und Frauen, vielmehr scheint er eine Veranstaltung zur Niederhaltung der Ansprüche, die der verdrängte Sexus periodisch und nahezu übermächtig dem souverän sich wähnenden Subjekt auferlegt.

Vieles von dem was de Beauvoir in ihrem Standardwerk „Das andere Geschlecht“ in den späten 40er Jahren beschrieb und kritisierte, ist in den Metropolen fast restlos verschwunden und derzeit nur bei manchen migrantischen, insbesondere islamischen Communities anzutreffen: die Bindung der Mädchen und Frauen ans Haus, das Verbot sexuelle Erfahrungen auch vor der Ehe zu machen, die Reduzierung auf die Gebärerin. Vieles von dem, was Beauvoir forderte, ist erfüllt, ohne daß Erfüllung sich einstellen wollte: gleichberechtigte Bildungsschancen, der allgmeine Zutritt in die männliche Domäne des Berufslebens bis hinauf zu Führungspositionen, das Verschwinden des Eheknasts traditionellen Zuschnitts. Man kann die immer noch nicht durchgesetzte völlige Gleichstellung der Geschlechter beklagen, daß die Entwicklung ungebremst auf diese Gleichberechtigung zueilt, läßt sich einfach nicht widerlegen. Daß das Patriarchat im Beauvoirschen Sinne heute noch existiere und eine ganz perfide Säule des metropolitanen Systems sei, wird zwar unverdrossen behauptet, aber niemals nachgewiesen. Tatsächlich sind sich die Geschlechter bis auf den genitalen Unterschied immer gleicher geworden und trotzdem bleibt die gesellschaftliche Gewalt, die immer auch die Vergewaltigung mit einbeschließt, bestehen.

Was sich da gegen Frauen wendet ist nicht Ausdruck eines den Kapitalismus begründenden besonderen Ausbeutungssverhältnisses, sondern ein Ausdruck des gesellschaftlichen Unglücks der warentauschenden Gesellschaft, die Individuation verlangt, ohne Individualität zu ermöglichen. Wenn Linke den kritischen Anspruch formulieren, bestimmte private Gemeinheiten, die Männer Frauen antun, oder bestimmte, zumeist bei Männern auftretende unangenehme Verhaltensweisen nicht einfach hinnehmen zu wollen, dann ist das mit der Leier vom ewigen, bestenfalls sozialisationsbedingt unterschiedlichen Geschlechtscharakter der Männer hier und der Frauen dort nicht zu haben. Mehr als die Setzung bestimmter Standards untereinander, die im wesentlichen verhindern helfen sollen, daß nicht jedes Verhalten als Privatangelgenheit hingenommen wird und die im Beziehungskrieg Geschädigten frühzeitig Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren, ist nicht möglich. Die Voraussetzung für Festlegung solcher Standards ist die für alle verbindliche theoretische Arbeit, die nicht auf die Schaffung guter Menschen, sondern auf die Abschaffung der auch im Einzelnen wirksamen falschen Verhältnisse zielt.

Die linke Mehrheit begnügt sich damit, die Restbestände der immer schon problematischen Patriarchatsdiskussion mit gerade einmal drei Schlagworten – „gegen sexuelle Gewalt“, „gegen patriarchale Unterdrückung“ und „die Definitionsmacht über Vergewaltigung liegt bei der Frau“ – zu verwalten. Als wollte man sich der ohnehin nur noch kulturalistisch definierbaren Szenezugehörigkeit durch rigiden Ausschluß von Fehlverhalten und Tätern versichern, konzentriert sie sich leidenschaftlich nur auf das eine: „Vergewaltigung“. Statt nun aber dieses Thema nüchtern vor dem Hintergrund der befremdlichen Zumutungen des Eros zu behandeln, vollzieht die Szene mit ihrem autoritären Dauerbrenner „Vergewaltigung“ in, wenn auch völlig verrückter Weise die vollzogene Gleichberechtigung der Geschlechter im Zeichen der Desexualisierung aller Körper nach. Schon in mancher Vorgängerdiskussion, etwa der Porno-Debatte, wurden die Grenzen vernünftiger Kritik überschritten, traten Relikte prüden Eiferertums zu Tage: Nicht die Vermarktung der Lust und der Körper etwa wurde in aufhebender Weise kritisiert, sondern der zugleich hochmoderne Rückzug in eine ältere Vergesellschaftungsstufe, die der ihr Verfallsdatum lange überschritten habenden engen bürgerlichen Moral der innerweltlichen Askese, vollzogen. Regressive Gleichheit bedeutet so: Zwar sind die Täter immer Männer, die Ankläger dagegen sind alle. (5)

Das verärgert zwar Frauengruppen immer aufs Neue und verunsichert und sensibilisiert die entsprechenden Männergruppen. An der Tatsache, daß die Mehrheit der Linken die genannten Kritikpunkte entweder immer brav ins Spiegelstrich-Glaubensbekenntnis aufnimmt oder sich mit keinem Wort den Kampagnen entgegenstellt, ändert das nichts. Längst hat sich der selbstbezüglich-desexualisierte Konsens der Mehrheitsgesellschaft eingeschlichen, der das dem Selbst fremde Objekt nicht mehr leidet und sich in „Selbstbestimmung“ gefällt, wie es die Linke seit Jahren vorgesagt hat. „Mein Körper gehört mir“, einst wichtiges Schlagwort der Anti-218-Kampagne und als Schlagwort gegen „Benutzungsrechte“ in Ehe oder Beziehung einsichtig, meint längst weit mehr. Im individualistischen Pochen auf die körperliche Integrität steckt eine ganz andere Losung: „Ich gehöre mir“ oder, vielleicht klassisch, aber noch überzeugender: „Der Einzige und sein Eigentum“.

Verliebtheit

„Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt.“ Laut Freud eine Selbsttäuschung, denn: „Daß dieser Anschein ein Trug ist, daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient ... Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man aber nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, daß Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen.“ (Freud 1994, 33) Weil einem der eigene Körper, die eigene Perönlichkeit eben nicht mehr ganz gehören soll, wenn Liebe in ihrer materiellen Gestalt, der entfalteten Sexualität zum Höhepunkt kommt; weil im Gegenteil die Unmöglichkeit der völligen vereinigung über kurze Augenblicke hinaus als schmerzlich empfunden wird; weil also in der ausgelebten Sexualität der Mensch sich ausliefert und eben kein höheres Ziel kennt, ist das Gerede von der Autonomie und der unbedingten „Selbstbestimmung“ bedenklich. Sich auszuliefern um der Lust willen, die man am anderen hat und darum an sich selbst hat, berührt alle Grenzen, die Realitätsprinzip und Zivilisation als Selbstschutz aufgerichtet haben. In der Liebe erscheint der Ichpanzer eine kurze Weile lang wie geborsten und die Liebenden wähnen sich aus dem Sicherheitstrakt Ich entlassen. Sich auszuliefern aus freien Stücken, dem Realitätsprinzip eine kurze Weile den Laufpaß zu geben, im bewußt erlebten ozeanischen Gefühl aufzugehen ohne die Errungenschaften von Zivilisation aufzugeben, deren höchstes das Zwangsgehäuse Ich eben ist: das ist Erfüllung und könnte Vorschein sein. Was Freud redlich, aber mit Sorge beschreibt, denn unheimlich ist ihm alles, was jenseits seines „normalerweise“ liegt, ist den Antisexisten schon kein Nachdenken mehr wert. Dem schrankenlosen Ich, das seine Schwäche einpanzert, setzen sie die „Gewalt“ gegenüber, solchermaßen für jedes persönliche Scheitern, Leiden, Unglücklichsein eine ominöse Penetration des in sich ruhenden Selbst durch die in ein abstraktes Schlagwort verwandelte Außenwelt verantwortlich machend. Diese als „Patriarchat“ plus „Staat und Kapital“ gesetzte Außenwelt wird mit dem stumpfen Recht einer individuellen Persönlichkeit, die „gegen alles andere gut abgesetzt“ ist, abgewehrt. „Auf der Höhe der Verliebtheit droht“, Freud zufolge. „die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.“ Freud selber hielt es mehr mit der in vernünftigen Bahnen verwalteten Triebregungen, als mit den Wagnissen des Aufgehens im Anderen, hoffend, eine Mitte aus Triebverlangen und gelungener Sublimierung zur Stärkung des Ichs und damit der Zivilisation könne Schlimmeres verhüten.

Das Schlimmere ist eingerteten. Der von Freud als „Normal“-Zustand angesehene relativ Ich-starke, zur Objektbeziehung befähigte Mensch ist am Verschwinden. Die Pathologien hören auf als Ausnahmeerscheinung an einer gesellschaftlichen „Normalität“ meßbar zu sein. Damit scheint es so zu sein, daß die Höhe der Verliebtheit zugleich die Absturzstelle in die Pathologie sein muß, samt der dazugehörigen Höllenangst davor. Diese Angst vor der Grenzüberschreitung, die man nicht wagt, produziert die Halluzination der Fährnisse, die aus der verdrängten Lust sich nähren, und endet schließlich bei der wirklichen Begegnung mit dem anderen Körper, dem Objekt der Begierde, katastrophisch. Dem zu entgehen, kann nur über das typisch sozialdemokratische Projekt der Sexualhygiene gelingen: Die Antwort auf das nicht gewagte Risiko ist die Desexualisierung der Sexualität, die Binnenmoral des Reihenhausbewohners – und damit die des Todesstrafenforderers.

Das, was man im szeneeigenen Sexualitätsdiskurs aufgegeben hat, die Verführung, die Beunruhigung, bleibt als Gefahrenmoment zurück. Der entsinnlichte Mensch bezieht sich positiv auf die Gemeinschaft derer, die ihm gleich sind und die er wegen der wechselseitig auferlegten Versagung so verabscheut wie sich selber. Er formt Erotik in desexualisierte Nähe um und wird mit dem selbst produzierten namenlosen Unglück auf Tätersuche gehen müssen.

Es klammert sich der Einzelne an die Fiktion der Subjektivität, die ihm so abstrakt gerät wie Rechtsnormen, womit über die „Substanz“ schon das letzte Wort gesprochen ist. Sich seiner selbst nur noch in der Abwehr jedes identitätsstörenden Angriffs von außen versichernd, die konstitutive Wechselwirkung des Ichs durch die Objektfixierung langsam abstreifend, in nunmehr bloß noch regressiver Art sich ins ozeanische Gefühl des um seine selbstreferentielle All-Sinnlichkeit ringenden Säuglings zurückfliehend, konstituiert sich der neue Mensch. Zur „Gewalt“, zum unglaublichen Wagnis, wird jede rückversicherungsfreie Bewegung auf einen anderen zu; als persönliche Katastrophe wird nicht nur der Sprung ohne Sicherheitsnetz erfahren, den kaum einer mehr wagt, sondern schon die bloße Ahnung der abgedichtete Panzer könnte von außen Schaden nehmen.

Die Angst vor dem Leiden potenziert sich in der Angst vor dem Leiden in der Liebe. Die Lust weiß, daß sie wagen muß, will sie zum Höhepunkt kommen, das schwache Ich aber baut der Katastrophe vor. Die immer unerotischere Formalisierung des Umgangs der Geschlechter miteinander, das beständige Sich-Wappnen, erschwert nicht unbedingt das, was man als eine Beziehung zu verharmlosen gelernt hat, es untergräbt aber nachdrücklich das triebhafte Erlebnis und sinnt unfreiwillig auf die Liquidierung der Lust zugunsten von Beziehungen, die mit den schon anrüchigen Vokabeln „Zuneigung“ und „Nähe“, die der „Sexualisierung von Bedürfnissen“ (OllaFa, S.6) entgegengesetzt werden, lauwarm belegt sind. Die Bedürfnisse sind aber nicht sexualisiert sondern durchaus sexueller Natur. Der in der Szene geachtete Männerrundbrief, ein Selbstverständigungsmagazin autonomer Männergruppen bringt es in seiner 12. Ausgabe im Mai 1999 genauso komisch wie bedrohlich auf den Punkt: „Ich denke, es ist nötig, mehr zu reflektieren, was Sexualität und sexuelle Phantasien für uns bedeuten (...) Dafür würde ich anregen, es einmal zu probieren, für längere Zeit keine Sexualität auszuleben, erstmal vielleicht nur nicht mit anderen, aber ich meine auch mit euch selbst. Und zu beobachten, was das mit euch macht. Und wenn das nicht vorstellbar ist für euch, dann finde ich es wichtig, zu erkennen, daß ihr in einem Suchtmuster gefangen seid, und da wünsche ich mir dann einen bewußten Umgang mit (...) Wenn ihr in einer Beziehung lebt, warum das so schwierig ist mit der Vorstellung, diese ohne Sexualität weiter zu führen (...) Und wie ist das mit euren sexuellen Phantasien, mit denen es euch auch nicht gut geht, die andere als Sexualobjekte erscheinen lassen, seid ihr bereit, auch diese vollständig aufzugeben? (...)“ (Hervorhebungen im Original)

Schutzräume

Einen Schutzraum hat man zunächst Häuser und Einrichtungen genannt, in die vergewaltigte und mißhandelte Frauen sich vor ihren Peinigern flüchten können. Zu diesem Konzept gehört die Stiftung einer Atmosphäre relativer Geborgenheit auch für die geschundene Seele. Das Unmaß von Angst und Streß, das oft jahrelang erlitten wurde, soll zunächst durch eine Phase der Entspannung abgelöst werden, in der die Frauen nicht nur frei von Männern sind, sondern auch frei von den Herausforderungen des täglichen Lebens. Diese Auszeit wird als Voraussetzung dafür angesehen, allmählich wieder Selbständigkeit zu gewinnen und sich die Welt zurückzuerobern. Die beabsichtigte Wiederherstellung des völlig erschütterten Ichs mißlingt häufig und die Nähe zwischen Geborgenheit und Infantilität wird gerade in der künstlichen Welt des Schutzraumes deutlich, wenn sich der Wille zur Überwindung der Wohlfühl-Phase nicht einstellen will.

Schutzraum ist jedoch zugleich auch ein im Szenesprech negativ besetzter Begriff, der Anwendung findet, wenn ein geouteter „Vergewaltiger“ nicht sofort von seinem Umfeld verstoßen wird. Im selben Atemzug taucht strahlend positiv der gleiche Gedanke auf, wenn man sich auf seine einst erkämpften Häuser, Infoläden, Kneipen bezieht und sein Umfeld als Freiraum abfeiert, dessen Bewohner sich als „Zusammenhänge“ definieren. Schon diese Selbstbezeichnung gemahnt an Blutsbande; wie diese dienen solche Zusammenschlüsse nicht einem objektiv-bestimmbaren und damit auch diskutierbaren Ziel, wodurch sie sich übrigens negativ von jedem Sport- oder Hobbyverein der Normalbürger unterscheiden. Als Zusammenhang etabliert sich eine Wohlfühlgemeinschaft Überforderter und Enttäuschter, die sich gegen die Anforderungen des Denkens und des Handelns abschotten. Unter sich aber dulden sie keine Schutzräume für abweichendes Verhalten; mehr noch, um den identitären also inhaltslosen Zusammenhang stets aufs Neue zu befestigen, sind sie genötigt, den Schutzraum für den Vergewaltiger auch dann auszuräuchern, wenn es keine Vergewaltigung gab. Ziel der autoritären Veranstaltung ist Erhalt und Festigung des identitären Schutzraums per se, des eingepanzerten Ich, das zu schwach ist, die Andersartigkeit und Eigenmächtigkeit der Außenwelt zu ertragen oder gar sich an ihr zu entwickeln. Ein solches Ich hat mit dem, was der Begriff einstmals meinte nur noch die Außenfassade gemein. Weil es blankes Nichts und absolutes Prinzip zugleich ist, muß es stammeln. Es grenzt sich kollektiv als Zusammenhang gegen „patriarchale Denkstrukturen“ ab und behauptet sein Recht, jederzeit und allseits respektiert seine Meinung zum besten zu geben. In der Figur von der patriarchalen Denkstruktur ist das Zentrum der Vergewaltigungsdebatte aufbewahrt. Als geistige Überwältigung erscheint der abstrakte und unpersönliche Charakter des reflektierten Gedankens, der sich das Recht herausnimmt, ohne Ansehen der eigenen wie der anderen Person einen gesellschaftlichen Zustand zu analysieren, dessen Teil alle Diskutanten selber sind. Gegen diese Zumutung wird die Meinung in Anschlag gebracht, die einer bloßen Haltung entspringt, für die der Zusammenhang einsteht. Solche Meinung fordert gerade, weil sie nicht begründet ist, gegen den reflektierten Gedanken hysterisch Respekt für sich ein. Diese Schwäche des Meinens wird durch Authentizität auszugleichen versucht: Wofür „ich“ mit meiner ganzen Person, also letztlich mit meinem Körper, einstehe, ist der Maßstab des Absoluten. Schon in Anreden wie „brothers and sisters“ wird der Wunsch nach einem familiären Zustand wie ihn sich das in seinem primären Narzißmus gekränkte Kind wünscht, deutlich. Um seiner selbst willen, das heißt, wie man eben ist, will man für voll genommen werden, ja geliebt werden ohne Risiko, ohne Mühe, ohne Anstrengung. Das Pochen auf die Anerkennung der nicht am Außen gemessenen, eigenen Meinung (6), die „aus dem Bauch“ zu kommen hat, erinnert fatal an das frustrierte Kind, dem kein Lob für das zuteil wird, was ohne großes Dazulernen aus seinem „Bauch“ kam und im Töpfchen landete. Denkfaulheit und Sexualabwehr ruhen auf dem selben infantilen Fundament.

Justus Wertmüller/Uli Krug (Bahamas 32 / 2000)

Literatur:

  1. Adorno,T.W. 1964: Meinung, Wahn, Gesellschaft, in: ders.: Eingriffe, Frankfurt
  2. Freud, S. 1994: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt
  3. Anmerkungen:
  4. Natürlich haben wir den Namen geändert. Wer sich für Namen, Alter und frühere Anschrift dieses Mannes interessiert, muß schon in den einschlägigen Fachblättern für Menschenjagden nachschlagen.
  5. Diese Broschüre ist auch als ein Resümee der Göttinger Vergewaltigungsdebatte von 1995 zu lesen. Damals hat die dortige Szene einen Vorfall in der Autonomen Antifa M, also der einst mitgliederstarken und schlagkräftigen Göttinger Antifa-Gruppe, diskutiert und sich auf ein Prozedere bei der Ermittlung des Tatbestands und des „Umgangs“ mit dem „Vergewaltiger“ geeinigt. Den Grundsatz der Ermittlung, also einen Vorwurf nicht einfach zu übernehmen, sondern den dahinter steckenden tatsächlichen Vorgang aufzuklären (inklusive der Anhörung der beiden Betroffenen), hat die Berliner AAB übernommen und auch bei der Auseinandersetzung über den Friedrichshainer Vorfall versucht, zu verwirklichen.
  6. Noch kann sich der stalinistische Gestus in der Praxis nicht voll ausleben, noch ist die AAB zu stark. Man behilft sich mit Ehrabschneiderei: „Das heißt, daß der Umgang der Einzelgruppen des BAT mit der AAB nur noch punktuell auf Ebene eines Bündnisses, vergleichbar mit bürgerlichen linksliberalen Organisationen mit großer inhaltlicher Distanz geführt wird. Diese Distanz von BAT-Gruppen zur AAB muß erkennbar sein.“
  7. So zu beobachten im Herbst 1997 in einem Bus auf der Fahrt ins brandenburgische Dolgenbrodt, wo das Einwohnerkollektiv gerade eine Asylbewerberunterkunft hatte abbrennen llassen. Die im übrigen verdienstvolle Protestkundgebung war von der AAB veranstaltet worden, die auch die Busse gechartert hatte.
  8. Besondere Radikalität bei den periodischen Säuberungen legen Männergruppen oder sogenannte Männerplena an den Tag. Gleichwohl bleibt ihnen der Dank versagt und der Verdacht, sie heuchelten lediglich, bestehen. In Berlin traf es die siebengescheiten Jungs von der Gruppe Venceremos, die sich bereits im März 99 mit Pauschal-Verdächtigungen der AAB hervorgetan haben
  9. „Meinung, als die von ihrem Gegenstand noch getrennte ratio, gehorcht einer Art von Kräfteökonomie, folgt der Linie des geringsten Widerstands, wenn sie undurchbrochen der bloßen Konsequenz sich überläßt. Diese erscheint ihr ein Verdienst, während sie vielfach nur Mangel dessen ist, was Hegel die ,Freiheit zum Objekt‘ nannte, nämlich die des Gedankens da-zu, in der Sache selbst sich zu vergessen und sich zu verändern ... Bloße Meinung neigt zu jenem Nicht-aufhören-Können, das pathische Projektion heißen darf.“ (Adorno 1964,

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