Titelbild des Hefts Nummer 35
Für Israel
Heft 35 / Sommer 2001
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Für Israel – Gegen die palästinensische Konterrevolution

Einen Vorteil haben die Entgleisungen des linken Alleinunterhalters Thomas Ebermann allemal: wie kein anderer steht er für die Vermittlung von bescheidenen Theorieansätzen mit den Bedürfnissen einer sich radikal gerierenden Bewegungslinken. Er braucht nicht zu wissen, was von ihm verlangt wird, weil er Bestandteil und Stimme seines Publikums zugleich ist, so daß ganz unvermittelt aus ihm herausspricht, was wie die berühmten Mühlsteine im Märchen im Bauch des Publikums herumrumpelt und -pumpelt. Deshalb war es weder Zufall noch Kalkül, als Ebermann auf der schließlich im Skandal geendeten Hamburger Podiumsdiskussion der Zeitschrift konkret Anfang Dezember 2000zum Nahost-Konflikt verkündete, er werde sich im Zweifel immer auf Seiten der Unterdrückten engagieren, womit natürlich die Palästinenser gemeint waren. Der gleiche Ebermann polemisierte nur fünf Wochen später in der Hamburger „Roten Flora“ auf einer öffentlichen Aussprache über eine antizionistische Sendung beim freien Radiokollektiv fsk sehr gut und richtig gegen die verantwortlichen Redakteure und rechtfertigte deren Rausschmiß.

Wie bei Ebermann fällt bei tausenden Linken eine zum Glück im letzten Jahrzehnt gestiegene Kritikfähigkeit gegenüber antisemitischen Strickmustern in der „revolutionären“ oder internationalistischen Ideologie und die Beschäftigung mit den „Tatsachen“ in Israel/Palästina ganz auffällig auseinander. Sobald nämlich von den „wirklichen“ Verhältnissen im Nahen Osten die Rede ist, entpuppt sich der mit halbverdauten Bruchstücken aus Texten von Adorno und Postone ausgerüstete Kritiker des linken Antisemitismus als ein erbärmlicher Positivist, der seine Informationen aus der Presse und länderkundlichen Zeitschriften wie den Blättern des iz3w bezieht. Von der Kritik am Antizionismus bleibt dann fast nichts mehr übrig und der scheinbare Kritiker des Antisemitismus verwandelt sich in einen praktizierenden Antizionisten, indem er empört auf „Fakten“ verweist, die doch eine Unterdrückung der Palästinenser bewiesen. Folgendes Zitat etwa hätte jederzeit in der linken Presse stehen können: „Seit Anfang April versuchen Jordanien, Ägypten, Europa und die Vereinigten Staaten, eine Initiative zur Waffenruhe voranzutreiben. Die anhaltende palästinensische Gewalt aber läßt die Chancen für ihren Erfolg gering erscheinen. Von der Nation gewählt, um endlich Waffenruhe zu schaffen, sieht sich Scharon immer wieder gezwungen, militärisch zu antworten. Das bringt neue Vergeltungsakte hervor. Darum wird jetzt gefragt: Will Scharon überhaupt Waffenruhe?“ (FAZ, 5.5.01) Die als Fetisch verehrten Fakten haben das zu illustrieren, was ohnehin für jeden immer schon klar war: zwei bewaffnete Formationen bekämpfen einander und Israel hat die besseren Waffen. Der Israel-Berichterstatter Jörg Bremer von der FAZ, von dem das Zitat stammt, weiß sich mit den Lesern darin einig, daß jede offensichtliche palästinensische Aggression doch nur Vergeltung für israelische Gewalt sei – ein Bündnis zwischen Leser und Lohnschreiber, das umso unverbrüchlicher zu werden scheint, je offenkundiger die zugrundeliegenden Texte aussprechen, daß sie lügen.

Die Opfer der völkischen Mobilisierung

Die Offenheit für die Lüge, die Parteinahme für den täglichen Mord, indiziert, daß viele Linke die antideutsch motivierte Kritik an Volksgemeinschaft, Antisemitismus und reaktionärem Antikapitalismus nur deshalb so schnell und bereitwillig adaptiert haben, weil sie darin die Chance witterten, ihren althergebrachten Antiimperialismus in einer unverdächtigen Form zu konservieren, die zugleich historische Kompetenz, Bescheidwissen und Problembewußtsein signalisiert, ohne daß aus dem Adaptierten Konsequenzen gezogen werden müßten. Reduziert auf die Kritik an einer metropolitanen „Täternation“, d.h. in ihrem räumlichen Geltungsbereich partikularisiert und damit um ihre Tiefenschärfe gebracht, läßt sich selbst eine radikale Deutschland-Kritik wunderbar mit jener traditionellen Haltung vereinbaren, aus welcher heraus unbedingte Parteinahme für die Verlierer und spontane Solidarität mit den „wirklich“ Ausgebeuteten und Unterdrückten gefordert und jede Kritik daran als „eurozentristische“ Anmaßung abgefertigt wird. Aber „deutsch“ ist erstens keine fixe „Eigenschaft“ eines bestimmten Kollektivs, sondern bezeichnet eine gesellschaftliche Konstellation, die zweitens auch nicht auf einen bestimmten Landstrich in Mitteleuropa beschränkt ist: die Mutation einer Gesellschaft zur Selbstmordsekte, die, angefeuert von ihren Einpeitschern, vor dem eigenen ins Auge gefaßten oder zumindest geahnten Untergang zunächst den anderen die Hölle auf Erden bereitet und deren Mitglieder gerade aus der Vergeblichkeit ihrer Unternehmungen die sinistre Energie ihres Handelns beziehen. Man braucht gar nicht auf all die Letten, Ukrainer und eben Palästinenser verweisen, die sich als freiwillige Hilfstruppen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik andienten, um zu erkennen, daß die Deutschen ein der globalen Wertvergesellschaftung immanentes Potential aktualisierten, weshalb sich bis heute allerlei ähnlich disponierte Bewunderer und Nachahmer auf den Plan gerufen sehen, die sich das von den Deutschen erstmals exekutierte Prinzip ebenfalls zunutze machen wollen: Gleiches Elend für alle, während der kalte Haß der Zukurzgekommenen an ausgewählten Volksfeinden sich gütlich tun darf.

Die offensichtliche Zurichtung der Zukurzgekommenen zur rächenden Volksgemeinschaft, eine zu großen Teilen freiwillige Assoziation der einzelnen Verlierer zum Mob, dessen Untaten jeder Vorstellung von Emanzipation spotten wie die Steinigung von Kindern im Mai, der öffentliche Lynchmord im Oktober 2000 oder die gezielte, gewollte und bejubelte Liquidierung eines Säuglings durch Heckenschützen im April – all diese bestialischen Erscheinungen des „nationalen Befreiungskampfes“ sind also keine palästinensische Besonderheit. Der Terror der Gleichen untereinander, der jeden nationalrevolutionären Kampf bis zu einem gewissen Grad immer schon ausmachte, wird zum vollends sinnvergessenen Terror um seiner selbst willen dann, wenn kein wirkliches oder eingebildetes Ziel mehr vorhanden ist, das nach ertragener Entbehrung die Entfaltung des persönlichen Interesses auf höherer Stufe in Luxus und Individualität in Aussicht stellt. An diesem Ende ist die nationale Befreiungsideologie inzwischen weltweit angekommen und der palästinensische Kampf ist dafür das abschreckendste Beispiel überhaupt. In Palästina oder Chiapas, auf indonesischen Inseln oder in der kosovarischen Hölle kommt das Wesen „nationaler Befreiung“ ganz unverstellt zur Erscheinung: die bewaffnete Konterrevolution, die sich am inneren Kollaborateur und am Feindvolk austobt. Die „Völker, die um Befreiung kämpfen“, sind damit endgültig zu dem geworden, was sie potentiell immer schon waren: ein konterrevolutionäres Subjekt. Revolution ist schließlich kein Terminus technicus für das Herumgeballere bewaffneter Banden, die eine Bevölkerung in Geiselhaft genommen haben und irgendeinem völkischen Endsieg entgegeneilen. Revolution setzt sich die Entfaltung der Individuen und ihres je höchstpersönlichen Glücks auf dem geschichtlich längst ermöglichten höchsten Niveau zum Ziel. Jede Levée en masse von Bewaffneten, die diesem Anspruch nicht gerecht wird, hat mit Revolution nichts zu schaffen und ist für Linke, gleich wo sie leben, unter keinen Umständen solidaritätsfähig.

Wenn in der BAHAMAS von den Palästinensern als von dem „derzeit wohl aggressivsten antisemitischen Kollektiv“ gesprochen wurde, dann ist dies, genauso wie die Rede von „den Deutschen“ oder der „deutschen Volksgemeinschaft“, mitnichten eine positive, klassifizierende Eigenschaftszuschreibung oder gar, wie einem in böswilligem Unverstand vorgehalten wird, eine „rassistische“ Qualifikation. Es handelt sich dabei vielmehr darum, einen kritischen Begriff von Verlaufsform und Resultat völkischer Mobilmachung zu gewinnen, bei der nur noch das bedingungslose Mitmachen zählt und die schließlich eine Gesellschaft hervorbringt, die sich nicht mehr nach einander entgegengesetzten Partikularinteressen, Klassen und Fraktionen sortiert, sondern in der ein als Bündnis von Mob und Elite fungierendes volksgemeinschaftliches Kollektiv gegen die äußeren und inneren Feinde in Stellung geht. So ist es also vielmehr die emphatische Rede vom „unterdrückten“ und „kämpfenden“ „Volk“, die diesen barbarischen Mechanismus geistig verdoppelt. Im Gegensatz dazu hätten Emphase und Empathie nicht dem idealistischen Konstrukt eines „palästinensischen Volkes“, sondern denjenigen zu gelten, die bei der völkischen Mobilmachung unter die Räder geraten. Das sind die Opfer ohne Lobby, denen die eigene nationale Interessenvertretung feindselig und mißtrauisch entgegentritt und für die westliche Revolutionsromantiker sich nicht erwärmen können, weil mit ihnen keine Intifada und kein letztes Gefecht zu haben ist. Das sind in den Autonomiegebieten und in den Flüchtlingslagern anderswo nun mal die Frauen, die Schwulen und Lesben, die Unpolitischen, die ein wenig Wohlstand durch Handel mit oder Lohnarbeit in Israel suchen und natürlich auch die sogenannten Kollaborateure. Ihnen wird von den Repräsentanten des palästinensischen Volkes, seien es nun Arafats Autonomiebehörden, die Hamas oder die PFLP, unterstellt, sie sabotierten wegen nationaler Unzuverlässigkeit den Freiheitskampf. In der Tat unterminiert jede der genannten Gruppen auf je verschiedene Art die nationale Sache – nicht weil sie sich verschworen hätten, sondern weil sie nur an sich selbst denken bzw. ihnen unterstellt wird, ihr alleiniges Wollen sei privat. Tatsächlich handeln die Hamas oder die Fatah als Repräsentanten einer streng völkischen Zwangsordnung nur konsequent, wenn sie Frauen, die ihren Körper teilweise unbedeckt auf die Straße tragen und damit anzeigen, daß sie noch etwas anderes außer Mutti sein könnten, unterstellen, private Wünsche zu artikulieren, die quer zur verordneten Entbehrung und zum kollektiven Kampfauftrag stehen. Noch schlimmer steht es um die Schwulen und Lesben, die wiederum für sehr private Begierden und Glücksversprechen einstehen, und das besonders dort, wo die Geschlechter aufs Penibelste geschieden leben und eine gesamtgesellschaftliche Homophilie allein als Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit ausgelebt werden darf, während jeder Verstoß gegen den gesellschaftlich verordneten Triebstau die verrohtesten homophoben Mordtaten nach sich zieht. Den verbotenen Verlockungen der Lust steht, kaum weniger argwöhnisch beäugt, der bürgerliche Eigennutz zur Seite. Gemeint sind jene, die sich unpolitisch verhalten, um des Fortgangs ihrer Geschäfte und des Wohlstands des eigenen Hausstands willen, Leute, die lieber Obst auf die Märkte Israels schaffen wollen als Sprengsätze, die gerne morgens mit dem Auto zur Arbeit auf Jerusalemer Baustellen fahren möchten und bei diesen Verrichtungen ein leicht schiefes Bild vom Feind gewinnen und den landesverräterischen Nachweis führen könnten, daß sich auch anders leben lasse als im selbstverordneten Dauerausnahmezustand. Sie wurden von den kämpfenden Brüdern und Schwestern seit der ersten Intifada von den Quellen des Wohlstands weitgehend abgeschnitten, denn seit der Rest der Familie Bomben auf Busse und Marktplätze wirft, kann kaum mehr geregelter Arbeit in Israel nachgegangen werden und der Handel ist fast zum Erliegen gekommen. Dennoch: Die Erinnerung an private bürgerliche Verhältnisse lebt immer wieder auf, und die Bedrohung für den Kampf, die davon ausgehen mag, wird, wo sie sich laut äußert, zusammen mit den unzüchtigen Frauen und den Homosexuellen der Kollaboration zugeschlagen.

Künstlichkeit als Fortschritt

Angesichts eines gleichermaßen verhärteten wie entfesselten Kollektivs repräsentiert das zur Abseitigkeit und Ohnmacht verurteilte Individuelle das Bessere. Dies ist ein unbedingtes Desiderat jeder Kritik des Bestehenden in revolutionärer Absicht. Jeder Versuch, die erbärmlichen Verhältnisse abzuschaffen, in denen die Menschen heute zu vegetieren gezwungen sind, bezieht sich notwendig auf das universalistische Glücksversprechen bürgerlicher Aufklärung auf ihrem historischen und d.h.: revolutionären Höhepunkt am Vorabend der Etablierung des vermeintlichen Paradieses auf Erden, der bürgerlichen Republik. Dieses Glücksversprechen ist der selbstverständliche Einsatzpunkt kommunistischer Kritik und bestimmt die Form und Richtung der Ideologiekritik bürgerlicher Subjektivität. Das abstrakte Individuum, dessen Glück und vernünftige Selbstbestimmung die bürgerliche Revolution proklamierte, konstituierte sich gegen die blinde und irrationale Gewalt der den Naturzwang unmittelbar repräsentierenden und deshalb weithin selber noch weithin naturhaften vorkapitalistischen Gemeinwesen. Die bürgerliche Gesellschaft emanzipiert die Individuen von unmittelbaren Herr- und Knechtschaftsverhältnissen und setzt sie als freie und gleiche Subjekte. Als gegeneinander vereinzelte Einzelne, die sich immer erst post festum des Produzierens vermittels ihrer Waren aufeinander beziehen, setzt sich ihre Gesellschaftlichkeit als blindes Verhängnis durch sie hindurch und über sie hinweg durch. Das bürgerliche Individuum ist also immer schon Ausdruck und Agent dessen, wogegen es sich seinem Selbstverständnis nach wendet. Damit ist es wahr und unwahr zugleich: wahr, weil es sich vom Naturverband als eine sich in sich selbst reflektierende Instanz losgerissen hat, die mehr und anderes meint als bloß das biologische Einzelexemplar, und unwahr: weil gerade die abgeblendete Partikularität das Prinzip blinder Selbsterhaltung perpetuiert und das Individuum zum Funktionär eines blinden Getriebes stempelt. Daß bürgerliche Individualität demnach scheinhaft bleibt und schließlich liquidiert wird – das ist eine Diagnose, die ein kritischer Materialismus nicht achselzuckend oder mit heimlicher Befriedigung, sondern mit Empörung trifft, in der Absicht und Hoffnung, gegen eine mit Opfer und Zwang notwendig verschränkte Individualität wirkliche Individuation und das größtmögliche Glück für alle endlich durchzusetzen.

Doch auf diesem Niveau der Kritik befand sich revolutionäre Empörung nie. Stets verlangte es die Empörten nach der Identifikation mit der scheinbar archaischen und ursprünglichen Widerständigkeit eines Kollektivsubjekts, das sich nicht auf die Suche nach Glück begibt, sondern der Wiederherstellung vermeintlich uralter Rechtsverhältnisse verpflichtet ist. Die schlechte Identifizierung mit Unabhängigkeitsbestrebungen an der Peripherie ist legitimes Kind einer falschen Kritik an der bürgerlichen Vergesellschaftung, die schon Marx zeitlebens erfolglos bekämpfte, einer Kritik, die an der bürgerlichen Welt nicht die Liquidierung des Subjekts als Individuum bemängelte, sondern nach dem Motto: „Was fällt, das sollt ihr stoßen!“ jene Liquidation nur noch beschleunigen half. An die Stelle von Marxens Kritik an der objektiven Gier des Kapitalisten, die er als charakterliches Introjekt des objektiven Verwertungszwangs dechiffrierte, setzten seine sozialdemokratischen und parteikommunistischen Nachfolger ein der reaktionären und lebensphilosophischen Kulturkritik ebenbürtiges Lamento über den egoistischen Menschen, der Vereinzelung, Anonymität, Gier und Laster über die Welt gebracht habe. Das bürgerliche Individuum wurde hier schon, gleichsam Heidegger vorausäffend, als Kunstprodukt, als ein seinen eigenen echten Bedürfnissen und Gefühlen entfremdetes, sie verleugnendes und ihnen zuwiderhandelndes Subjekt diffamiert, dem der wirkliche Mensch entgegenzusetzen sei. Statt in der Künstlichkeit den Fortschritt zu erkennen, die Ablösung vom Naturzusammenhang zu feiern und die völlige, weil selbstbestimmte Künstlichkeit einzufordern, wurde dem vom Kapitalismus geschaffenen und bisher einzig denkbaren Vorschein von Individualität das kollektivistische Ideal einer organischen Gemeinschaft entgegengestellt, in der von jeher alles zum Glück Erforderliche ruhe, wenn sie nur zur Ursprünglichkeit zurückfände. Hinter dem versachlichten Menschen sollte der eigentliche Mensch und gute Wilde entdeckt werden, dem unter berufener Führung zum Bewußtsein seiner „Eigentlichkeit“ zu verhelfen sei: zu seinem „natürlichen“ Dasein als subordiniertes Glied eines Volksganzen. Der solcherart natürliche Mensch wäre dann nicht mehr länger individuell, d.h. egoistisch, nicht mehr eingebildeter Herr der Welt, sondern Schicksalsgenosse eines in sich geschlossenen Kollektivs. So ist unter tatkräftigem Engagement seiner nur eingebildeten historischen Antagonisten das Weltbürgertum, in dem die Möglichkeit des Kommunismus schon aufschien, in ein Welthordentum umgeschlagen, in dem die Individuen fast schon zoologisch in ihnen zugewiesenen Lebensräumen ihr Dasein fristen.

In dieser reaktionären Kapitalismuskritik, die genausogut unter antiimperialistischen wie faschistischen Vorzeichen Verbreitung finden kann, haben die letzten Bürger keinen Platz – jene also, die ins Staatsbürgerdasein objektiv hineingezwungen wurden und aufgrund ihrer weltweiten Verfolgung, die sie als völlig Unzusammengehörige gleichwohl aneinander kettet, sich ihren weltweit zugänglichen Aufenthaltsort in Form eines Staates gegründet und dabei ein im schönsten Sinne des Wortes künstliches Gebilde geschaffen haben. Als geschichtlichen Grund kennt dieser Staat nur die Verfolgung von Menschen, die sich ansonsten wenig zu sagen gehabt hätten, die – ganz Bürger – einen Streifen Land sich käuflich angeeignet haben, auf dem sie nie zuvor gewesen sind und die in dreißig Jahren einen Staatsgründungsprozeß vollzogen haben, dessen Unnatürlichkeit sich von anderen Nationswerdungen nur deshalb so deutlich abhebt, weil man statt einiger Jahrhunderte eben nur ein Menschenalter sich verordnet hatte.

Israel: kein Stall für Menschenhorden

Die israelische Gesellschaft hat sich vor dem Hintergrund reiner Negativität gegründet. Das Judesein als ontologische Kategorie neu zu stiften mußte den Zionisten oder religiösen Ideologen aller Schattierungen mißlingen. Einziger plausibler Zusammenhalt war das Wissen um die eigene ewigwährende Verfolgung in den bürgerlichen Gesellschaften des Westens, aber auch den arabischen des Nahen Ostens. Aus diesem Zusammenhalt einen gesellschaftlichen zu machen, ein loyales Staatsvolk also, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, hätten die Juden in der Diaspora sich nicht fast automatisch auf der fortschrittlichen Abteilung der alten Gesellschaften eingerichtet, in der egoistischen Hoffnung auf ein persönliches Fortkommen in Wohlstand und ohne Verfolgung. Nicht zufällig schillerte der frühe Zionismus ständig zwischen bürgerlich-nationalen und sozialistischen Ideen und stand als eine separate Unternehmung fortwährend zur Disposition, so lange die Möglichkeit der Weltrevolution greifbar war und damit auch die Aufhebung der jüdischen Sonderrolle in Aussicht stand. Die Niederlage der Weltrevolution in den Jahren 1917 bis 1920 und die Gründung neuer offen antisemitischer Nationalstaaten in Osteuropa (Polen, Ungarn, Rumänien, der slowakische Teil der Tschechoslowakischen Republik und die baltischen Staaten) zwang immer mehr Juden, die Hoffnung auf Normalisierung in der bürgerlichen Gesellschaft oder gar auf sozialistische Aufhebung der antisemitischen Verhältnisse aufzugeben. Der Traum von einer freien Gesellschaft mußte in die zu schaffende Heimstatt übertragen werden, wo in der Tat eine jüdische Staatsgründung in weltbürgerlicher Absicht gelang. Ein buntscheckiges Sammelsurium von – jeweils jüdisch ausgeprägten – nationalen Kollektiveigenschaften polnischer, russischer, deutscher oder holländischer Prägung stieß aufeinander und richtete sich ein in einer Region, in der weder Staat noch Kapital eine entscheidende Rolle spielten, sondern personale Herrschaft und eine agrarische, vom Grundeigentum beherrschte Produktionsweise. Die vollständige Überwindung der einzelnen nationalen Kollektiveigenschaften sephardischer, aschkenasischer, ost- und westeuropäischer sowie orientalischer und afrikanischer Prägung dürfte einzigartig sein und höchstens mit der Entstehung der US-Gesellschaft vergleichbar, allerdings abzüglich der dortigen Dominanz eines angelsächsischen Puritanismus. Das jüdische Weltbürgertum, für das die israelische Gesellschaft mit ihren dauernden Neueinwanderungen steht, hat zu keinem Zeitpunkt jenen miefigen nationalen Provinzialismus aus sich hervorgebracht, wie er in so vielen spätgegründeten Kleinstaaten anzutreffen ist. Denn gerade das, was die antisemitischen Übelwoller Israel dauernd nachsagen: Es sei ein Staat, der seine Staatsbürger allein auf Grundlage des Blutsrechts definiere, trifft in keiner Weise zu. So offen grotesk die Debatten über afrikanische Juden, die jedenfalls schwarz sind, über sowjetische Juden, die möglicherweise gar keine jüdischen Vorfahren haben, sondern lediglich ihre Dokumente fälschten, die Frage, ob ein Großvater väterlicher- oder mütterlicherseits fürs Judesein nun ausreiche, zweifellos sind – es handelt sich dabei lediglich um notwendige und bittere Folgeerscheinungen des tatsächlichen Blutsrechts, das die deutschen Antisemiten zur Perfektion getrieben hatten und das zwischen Mord und Überleben reinlich zu scheiden wußte. Weil die Staatsbürger Israels in ihrer Mehrheit über keine gemeinsame Siedlungstradition mit den dazugehörigen Provinzialismen verfügen, die vom interessierten nationalistischen Ideologen dann rasch zu Kollektiveigenschaften ausgebaut werden können und zugleich Religion und religiöse Gebräuche schon vor der Staatsgründung immer mehr an Bedeutung einbüßten, kann Israel als einziges Land in der Welt für sich beanspruchen, ein kosmopolitisches Staatswesen zu sein, das beständig unter Beweis stellt, daß es noch etwas anderes gibt als die im Stall eingepferchte Menschenhorde – unter feinsinnig Formulierenden auch gerne Heimat genannt. Israel ist damit die einzige nicht zwingende Heimat im Sinne der üblichen Wesenszuschreibungen und doch zugleich eine erfolgreich relativ repressionsfrei angeeignete und komplett neu geschaffene Republik, die sich anscheinend in ihren Widersprüchen wohlfühlt. Nirgendwo sonst wird so offen das Improvisierte und stets neu zu Stiftende des Gemeinwesens betont. Auf keine andere Gesellschaft fällt so deutlich ein Abglanz des bürgerlichen Glücksversprechens, wenn auch der israelische Staat als Staat es nicht wird einlösen können. Kein Staat gemahnt so sehr an die Notwendigkeit, die Welt aus den Angeln zu heben und die auf der Insel Israel geglückte Überwindung des schlecht Partikularen in die Welt hinaus zu tragen. Dieser künstliche Staat mit seiner künstlichen Gesellschaft wird nicht deshalb so befehdet, weil sich in der Region Leute eines höheren Vergesellschaftungsgrads gegen andere durchgesetzt haben, sondern deshalb, weil diesem Staat in aller Offenheit und aller Widersprüchlichkeit noch etwas von der Möglichkeit auf Befreiung aus der kapitalistischen Vergesellschaftung in aufhebender Hinsicht innewohnt.

Daher rührt die dauernde Aggression, der nagende Haß, das tiefsitzende Mißtrauen der traditionellen Linken, die von den Palästinensern nicht lassen können, weil sie das Paradox Israel nicht verstehen wollen. Der Verdacht, die Juden hätten ihren Staat gegründet, um sich illegitimerweise ein Stück des Himmels zu erobern, es besser zu haben als die barbarisch werdenden Nationalkollektive, schlägt um ins Ressentiment. Eine Gesellschaft von Individuen – soweit kapitale Vergesellschaftung so etwas eben zuläßt – die als eine der ganz wenigen in diesem Jahrhundert die Sache mit der nationalen Befreiung ernstnahm und deswegen einen übernationalen Staat gegründet hat; die wegen dieses Ziels auf die Versprechungen des bäuerlichen Sozialismus keinen Pfifferling gegeben hat und nach der sich bald abzeichnenden Niederlage der urbanen kosmopolitanen Revolution sich sinnvollerweise darauf verlegte, als Wiedergänger der sympathischsten Seiten des Bürgertums zu reüssieren – all dies paßt in die primitiven Weltbilder des leninistisch-stalinistisch-maoistisch geeichten Antiimperialismus natürlich nicht hinein. Zwar schmückt sich keiner mehr mit den Ikonen des bäuerlich-völkischen Staatssozialismus, aber seine Essenz, das ethnisch homogene Wertschöpfungskollektiv, das sich nur noch von Schädlingen und Wesensfremden zu befreien trachtet, ist als barbarisches Ideal so sehr in den Köpfen nicht nur der Linken präsent, daß alle Gegenbilder schon zwanghaft der Denunziation anheimfallen. Kein Wunder, daß Israel aus guten Gründen jedem antiimperialistischen Kampf mißtraute und aus der berechtigten Ahnung, daß jede Volksbefreiungsbewegung nach 1945 mindestens so antikapitalistisch wie antisemitisch ist, in Form des allseits gehaßten Geheimdiensts Mossad das seine tat, um solchen völkischen Bewegungen den Sieg zu vermasseln.

Solidarität mit Israel

War Auschwitz das Dementi des aufklärerischen Glücksversprechens, so ist Israel – das Gemeinwesen, das die gerade noch einmal Davongekommenen ins Leben riefen – die Gestalt gewordene Erinnerung an jenes zuschanden gegangene Glücksversprechen, die einer kapitalistischen Welt schon durch ihre Existenz vor Augen hält, daß sie mit der völkischen Barbarei, zu der es sie naturwüchsig treibt, nicht ganz zum Ziel gekommen ist. Auch deshalb zieht Israel wahlweise den Neid oder den Haß aller anderen auf sich: den nachbürgerlichen Gesellschaften des Westens, die in der Verquickung zunehmend kommunitaristisch ideologisierter Bindung der Subalternen an die Standort-Region mit kollektivem Strafbedürfnis gegen gemeinschädliche Egoisten und Abweichler sich die Austreibung einer ohnehin schemenhaften Bürgerlichkeit zum Ziel gesetzt haben, stehen dabei gleichsam als ihre Avantgarde die vollends natürlichen Gemeinschaften zur Selbstverwaltung des Elends zur Seite, deren Mitglieder wohl deshalb, weil sie nie zu bürgerlichen Subjekten sich emanzipierten, zu so hemmungslosen Gemeinschaftserlebnissen fähig sind, wie sie gerade aus den palästinensischen Autonomiegebieten täglich dem innerlich gehemmten Nachbürger auf Sinnsuche per Fernsehen in die Wohnstube gesendet werden. In den Umtrieben dieser Barbarisierten, in deren Kampf voller Solidarität, Fanatismus und Fememord, erkennen die entkernten Subjekte der nachbürgerlichen Gesellschaften, denen das private Interesse nach Erfüllung nur noch in Gestalt eines sturen Überlebenswillens inmitten der Zwangsgemeinschaft vergönnt ist, weit eher eine Projektionsfläche eigener nicht ausgelebter Wünsche als in einem Staat, der sich ein Parlament leistet, das ununterbrochen streitet und in dem Frauen nicht als lebende Mumien herumzustiefeln gezwungen sind. Die Solidarität mit Israel und die Ablehnung der palästinensischen Konterrevolution ist also nicht nur wegen der Verteidigung von mit dem kollektivem Mord Bedrohten eine Notwendigkeit. Darüberhinaus ist die Solidarität mit Israel die Entscheidung für die Erhaltung der Möglichkeit der Revolution, die, sollte das Prinzip Volkskrieg den Sieg erringen und das Ende seines unfreiwillig heftigsten Gegners, Israels, herbeiführen, ebenfalls am Ende wäre. Dieses Ende wäre – gleich wieviel Opfer es kostet – die menscheitsgeschichtliche Besiegelung des Prinzips Auschwitz, das ja nicht nur 6 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, sondern bedrohlich die Weltherrschaft für sich beanspruchte.

Die palästinensischen Massen haben nur eine Chance, die sie nicht ergreifen. Ihre Zukunft im emanzipatorischen Sinn liegt allein an der Seite Israels und gegen ihre Führung und die mit ihr verbündeten Staaten. Sie müßten eine Kulturrevolution radikalsten Ausmaßes veranstalten, die keine nationale Aussprache sein dürfte, sondern eine Selbstkritik in antinationaler Absicht – eine Selbstkritik, die mit der Kritik an jener verrohten und verrohenden Religion beginnen müßte, der man den Schein der Barmherzigkeit vom Gesicht reißen müßte, um das unbarmherzig unmenschliche Wesen dieser Zurichtungsanstalt für willenlose Volksgenossen kenntlich zu machen. Diese Religionskritik müßte anheben mit der schneidenden Kritik von Kollektivismus und Entbehrung und hätte an ihre Stelle das Lob des Individuums zu setzen, das in Luxus und Lust Erfüllung findet – die bittere Erkenntnis, daß dies unerreichbar ist, wäre der Anfang des Aufbegehrens gerade nicht gegen Israel, sondern gegen eine weltweite Vergesellschaftung, die all dies nicht zulassen will. Was den palästinensischen Massen nicht gelingt, ist nicht allein ihre Schuld und liegt möglicherweise auch objektiv außerhalb ihres Könnens. Doch was in den palästinensischen Autonomiegebieten mißlingt, muß nicht im Mißlingen der Kritik an diesen Zuständen enden. Jene, die weit eher in der Lage wären, am Beispiel Israel zu erkennen, wofür die palästinensische Aggression und ihre weltweite Unterstützung steht, denen seit Jahrzehnten vorzuwerfen ist, daß sie ihre zur Kritik nie gereiften Sehnsüchte dauernd auf periphere Aufstandsbewegungen projizieren, statt das Unwesen im eigenen Land zu bekämpfen – die Linke also steht vor einer Entscheidung, deren Ergebnis darüber befinden wird, ob sie unweigerlich Teil der moralischen Weltordnung sein und von Intifada zu Intifada eilen wird, oder ob sie sich auf die Seite der Emanzipation schlägt, also parteilich für ihren prekären, unter dem Zwang der unmenschlichen Verhältnisse Staat gewordenen Ausdruck, Israel, sich einsetzt und damit gegen jedes organisierte Volkstum agitiert, nenne es sich nun deutsch oder palästinensisch.

Redaktion BAHAMAS

Redaktion BAHAMAS (Bahamas 35 / 2001)

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