Titelbild des Hefts Nummer 36
Intifada weltweit
Heft 36 / Herbst 2001
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Wer von Deutschland reden will, darf vom Islam nicht schweigen. Denn der erneuerte Islam als Weltreligion des Antiimperialismus ist nicht zurückgeblieben hinter der Aufklärung, sondern vielmehr Avantgarde ihres neuerlichen weltweiten Umschlagens in Apokalypse – und damit das antideutsche Thema schlechthin. Wer die BAHAMAS seit längerem verfolgt, wird bemerkt haben, daß die Elemente des Islamismus in vielen Texten bereits zur Sprache gekommen sind, in Texten zu Algerien, Kurdistan, Israel. Die nachfolgenden Thesen sind als Grundlagen einer Ideologiekritik – in konzentrierter und damit notwendig kursorischer Form – zu verstehen. Sie sind alles andere als ein letztes Wort in dieser Angelegenheit, sondern vielmehr der Auftakt zu einer weiteren Schärfung der Waffen der Kritik.

Die Red.

I. „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ Mit diesen Worten leitete Karl Marx seine „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ ein; eine Einleitung, die nur in Quintessenz noch einmal Feuerbachs Kritik des Christentums bekräftigt, um von diesem Fundament zum Kern der Sache fortzuschreiten, zu jenem Umschlagspunkt, an dem sich „die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik (verwandelt).“ Solch umstandsloses Fortschreiten stützte sich 1844, im Jahr seiner Veröffentlichung, zu Recht auf Voraussetzungen, die im Jahr 2001 nicht oder nur noch rudimentär gegeben sind: die Selbstverständlichkeit, mit der der aufgeklärte Bürger die private Autonomie seiner Vernunft gegen die Zumutungen der Religion verteidigt. Selbst scheinbare Rechtfertigungen der Religion als unverzichtbares ideologisches Mittel zur Aufrechterhaltung eines gesitteten Staatswesens, wie sie die Kantische Moralphilosophie dem Bürger auf den Weg mitgab, enthüllten – in Kants Falle sicher mehr volens als nolens – den usurpatorischen Charakter der Religion, ihre Fremdheit im bürgerlichen Recht, ihre allein der Herrschaft dienliche manipulativ-repressive Nutzungsbestimmung. Die religiöse Desillusionierung und das Erwachen einer sich ins Praktisch-Politische wendenden Vernunft fielen ineins: „Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstande gekommener Mensch.“

Das feste Band zwischen Enttäuschung und Zu-Verstande-Kommen ist zerschnitten. Die Selbsterhaltung des Menschen in Warenform, die mitsamt ihrer ökonomischen Grundlagen auch die Überlieferung sprengte und den Verstand aus den Banden von Naturverfallenheit und „Blutsurenge“ zur Vernunft emanzipierte, stiftet kraft eigener Metaphysik eine neuartige Religion, die „Religion des Alltagslebens“ (Marx). Nicht mehr genügt es, den gesellschaftlichen Tatsachen den religiösen Schleier abzureißen; nein, die gesellschaftlichen Tatsachen selber breiten einen nahezu undurchdringlichen Schleier über die Vernunft. Die okkulten Qualitäten der Ware, das Absolute, das im Geld sinnfällig wird, drängen dem Bewußtsein die gerade als „Priestertrug“ (Diderot) enttarnten, religiösen Wahrnehmungsformen erneut wieder auf. Nicht daß das Substrat der Aufklärung damit komplett hinfällig geworden wäre: Die Lösung aus dem naturwüchsigen Gesellschaftszusammenhang, die Konstitution des willensbegabten Individuums ist nicht mehr rückgängig zu machen. Allein: Die verängstigende Erfahrung, daß die höchst private und in diesem Rahmen instrumentelle oder „richtigkeitsrationale“ (Weber) Vernunft der Selbsterhaltung von einem nicht dingfest zu machendem Allgemeinen durchkreuzt wird, daß sich die aufklärerische Hoffnung, die Verfolgung des Eigeninteresses diene dem Gemeinwohl, an seinen Konsequenzen blamiert, stiftet den Typus des „ungeglaubten Glaubens“(Adorno). Höchst rationale Technik, äußerste individuelle Willkür, ausgeprägte Wissenschaftlichkeit verbinden sich mit gesellschafts- wie lebensgeschichtlichen Atavismen. Das gebrochene Versprechen von Aufklärung und Bürgerlichkeit, die Stiftung vernunftgeleiteter gesellschaftlicher Reproduktion durch die jeweilige Vernunft der Einzelnen, der verlorene Preis, den es zu gewinnen galt durch die Herauslösung und den Verzicht auf die viehische Unschuld roher gesellschaftlicher Verhältnisse – das bereitet den Boden für den bürgerlichen Normaltypus des nachbürgerlichen Zeitalters, der aufklärerische Tugenden, Gewitzigtheit und Pragmatismus mit gegenaufklärerischer Sehnsucht und Wahnwitzigkeit amalgiert. Diese gestalten sich tatsächlich im doppelten Sinne atavistisch: Die Ohnmacht gegenüber den über das Individuum hereinbrechenden Folgen seiner warenförmigen Selbsterhaltung ist ihm, dem Herren über sich selbst, nicht nur Panik auslösende Gefahr, sondern auch eine unerträgliche Kränkung. Auf dieses schockartige Einbrechen der Gesellschaft in den Bezirk des eigenen Willens reagiert das gekränkte Subjekt mit Regression: Die zu Gunsten der abstrakten Herrschaft von Gesellschaft über ihre Partizipanten eben erst verworfene Vergemeinschaftung durch unmittelbare Herrschaft, eben die „Blutsurenge“ (Marx), erscheint nun plötzlich in dasselbe milde Licht getaucht, in dem Erwachsenen die Schrecknisse der kindlichen Unmündigkeit als begehrenswerter Zustand erscheinen; völlig ungeachtet dessen, daß damit die eigene Existenz als bürgerliches Subjekt negiert wird, daß der herbeigesehnte unschuldige, unmündige und voraufgeklärte Zustand nichts als den Tod bereithält. Dieses Beanspruchung eines Garten Eden, der doch eigentlich die Hölle ist, verdankt sich der Abwehr dessen, daß das eigene Handeln ununterscheidbar mit der Kälte und Bedrohlichkeit des verallgemeinerten Tausches verknüpft ist. Nach demselben personalisierendem Strickmuster der eigenen Unschuld wird denn auch die Schuld zugemessen. Das Abstrakte kam nicht als solches in die Welt, sondern als konkrete Machenschaft, als Ergebnis subjektiven Fehlverhaltens: Als Machenschaft des bösen Willens, als Abfall vom Glauben und als willkürliche Anmaßung von Herrschaft aufgrund egoistischen Gewinnstrebens. Da dem Abstrakten, dem Geld als „gemünztem Apriori“ diese Konkretion als solche nicht abzugewinnen ist, da aus dem allgemeinen ökonomischen Handeln nicht die besondere Verworfenheit einer Gruppe herauszulesen ist, greift der an sich selbst irre werdende Verstand auf traditionelle Stereotypie zurück: Alle religiösen Mythen, Legenden und Absurditäten, die dem Licht des Verstandes zu Zeiten Kants, Diderots, Marx’ nicht standhalten können, werden zum erwähnten Zwecke wieder aufgeboten: Geglaubt werden sie längst nicht mehr; allein der „unerhellte Trieb“ (Adorno/Horkheimer) zwingt dazu, ihnen wieder Wirkungsmacht zu verleihen. Der Einspruch der praktischen Vernunft, der sich in jedem der regredierten Subjekte rührt, führt in geradezu verzweifeltes Festhalten am Unhaltbaren und zum Überschreien jenes einzig Rettung versprechenden Zweifels.

Darin gründet die Unwiderstehlichkeit der Gegenaufklärung, in deren Zentrum – mehr oder weniger deutlich ausgesprochen – der Antisemitismus steht. Deswegen ist die Kritik der Religion – gerade in Deutschland – im wesentlichen nicht beendigt, sondern hat eine ungleich schwerere Aufgabe als Kritik des „ungeglaubten Glaubens“. Diese Kritik kämpft gegen die Gravitationskraft der Verhältnisse an; sie weiß sie nicht mehr auf ihrer Seite wie in der klassischen Aufklärung. Es ist keineswegs eine kuriose Randnotiz, daß in den Tagen nach dem 11.September 2001 der weltweit meistgesuchteste Begriff im Internet „Nostradamus“ war. Die esoterischen Verheißungen von Auserwähltsein, Verschwörung und Untergang, sie sind die Basisformen jener „Religion des Alltagslebens“, wie sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Bewußtsein bestimmen. Sie sind auch die Gesichtspunkte, nach denen die anschwellende Neoreligiösität des 20.Jahrhunderts, gebe sie sich christlich oder heidnisch, den „ungeglaubten Glauben“ gruppiert: Stets drehen sich die so leicht durchschaubaren, ihren von der Kulturindustrie verliehenen Charakter des Angedreht-Seins nicht verleugnenden, und damit umso wütender festgehaltenen Ideologien um die bedrohte und deshalb verfolgende Gemeinschaft und die Apotheose des Todes.

II.Trotz relativ gut besuchter Kirchentage, trotz der lang anhaltenden gegenaufklärerischen Tradition schwärmerischen Christentums und Mittelalterseligkeit, ist das Christentum einerseits theoretisch von der Aufklärung derart zerlöchert, andererseits in seiner depotenzierten Gestalt so wohl integriert, daß es nur noch sehr eingeschränkt dazu taugt, den antibürgerlichen Impulsen der deutschen Bürger einen Hort zu bieten. So trat der „ungeglaubte Glaube“ par excellence, der Nationalsozialismus, auch dezidiert unreligiös auf, ohne daß es seiner Wirkung Abbruch getan hätte.

Dieser hatte jedoch zu einer anderen Religion ein betont inniges Verhältnis unterhalten – und das nicht nur aus strategischen Gründen der Kriegsführung gegen das britische Empire: dem Islam, speziell dem des arabischen Raumes. Auch die Ansicht, die arabische Welt habe sich dem Nationalsozialismus allein aus ebenso strategischer Motivation heraus angenähert, greift zu kurz. Das große D’accord in der „Judenfrage“ bzw. ihrer „Endlösung“ (Vgl. Bahamas 35, 59ff) reicht tiefer und ist bis heute deutlich zu spüren. Deutschland diente dem jungen arabischen Nationalismus als Vorbild einer Modernisierung, die alle repressiven und regressiven Seiten der bürgerlichen Gesellschaft beerbte, ohne die „widernatürliche“ Umstürzung der Gesellschaft nach französischem Muster, also Säkularisierung und allgemeine Rechtsgleichheit, vollziehen zu müssen. In Deutschland hingegen hatte der romantische Orientalismus seit dem Ende des 19.Jahrhunderts vom „Orient“ jenes Wunschbild einer Zivilisation aufgemalt, die anders als das Abendland sich nicht entfremden mußte, sondern ohne den traditionellen Gemeinschaftszwang aufzuheben, Großes geleistet hätte. Nicht nur ist der Nationalsozialismus in der arabischen Welt sakrosankt geblieben, sondern eben auch umgekehrt der Islam bei den Deutschen. Mehr noch: der Islam hat in der zeitgenössischen deutschen Ideologie geradezu camouflierend den Platz des deutschen Nationalismus eingenommen, wenn es um die feinsinnige Umwandlung des westlichen Egoismus in wahre Gemeinschaftlichkeit geht. War die Orientseligkeit bis 1945 einfach nur die exotische Verkleidung eines antiwestlichen Ressentiments, das man pflegte, um als Volk der Helden gegen das schnöde Albion der Händler zu mobilisieren, um mit den Ideen von 1914 gegen den zerstörerischen Individualismus der Ideen von 1789 ins Feld zu ziehen, so ist das deutsche Bestreben nunmehr auf das gerichtet, was der der freundliche Orientexperte empfiehlt: vom Islam zu lernen. Deswegen ist auch dieses absolut sakrosankt; selbst die schüchternste Religionskritik ist vollkommen untersagt.

Beispielhaft sei ein Prof.Dr.Peter Heine von der Humboldt-Universität herausgegriffen, der von der „modernen islamischen Identität“, von der „Islamisierung der Moderne“, von der „Fähigkeit zu glauben“ schwärmt und sie absetzt von der „westlichen Massengesellschaft, die sich mehr und mehr uniformiert, in der Paris, Rom und Berlin von den gleichen Handelsketten und Fastfoodrestaurants bestimmt werden“ (Berliner Zeitung, 17.9.2001). Identität und Glauben gegen weltumspannende Handelsketten – eine deutschesBekenntnis, das nicht nur in den Köpfen Horst Mahlers und der US-Flaggen verbrennenden Jung-Nazis herumspukt, nicht nur die organisierten Globalisierungsgegener umtreibt (Vgl. in diesem Heft: Marcel Malachowski, Die Gewalt ging nicht vom Volke aus), sondern ein ganzes Kollektiv Strafwütiger und Gemeinschaftsbesessener, die Faschismus meinen, aber es sich nicht laut zu sagen trauen.

Einer der wenigen, ja bislang der einzige, der sich überhaupt traute zu bemerken, welch routinierte Übung das Schönreden des Islam in Deutschland ist, der die höchsteigene deutsch-apokalyptische Grundhaltung bemerkt, die via dieser Schönrednerei sich Ausdruck verleiht, war Henryk M. Broder: „Deswegen zeigt uns Peter Dudzik in der ARD jubelnde Palästinenser und sagt, sie würden es nicht so meinen, wie es aussieht. Deswegen sagt uns Heiko Flottau in der SZ, ‚die winzige Minorität der islamistischen Terrorgruppen‘ habe bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ‚keinen Rückhalt‘, nur um ein paar Absätze weiter zu erklären, ‚kein Politiker in Ägypten‘ habe den Mut gehabt, öffentlich für einen liberalen Professor einzutreten, der, von den Islamisten terrorisiert, ins holländische Exil gehen musste. Solche kleinen Widersprüche nehmen wir gelassen hin, wenn es darum geht, einen Terror schönzureden, dessen irrationaler Furor uns fasziniert, weil er so rein und so selbstlos ist. Wir Abendländer haben keine Probleme, den Fanatismus von Christen und Juden zu verdammen, nur bei fanatischen Moslems neigen wir zu einer Haltung, wie man sie normalerweise gegenüber kleinen Kindern und erwachsenen Autisten annimmt: Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie meinen es irgendwie gut.“ (Spiegel, 16.09.2001) Daß sich ein ansonsten so feinfühliges Milieu wie das der deutschen Bedenkenträger von islamischem Terror so überhaupt nicht beeindrucken läßt, schreibt Broder mit mehr Recht, als er selbst vermutlich ahnt, einer „post-liberalen und pre-suizidalen Grundhaltung“ zu.

Außer Broder irritiert es offensichtlich niemand, in welch schreiendem Mißverhältnis die öffentliche Gesundbetung des Islams als Religion nicht weniger als die Entwicklung in der „islamischen“ Welt zu ihrer sonstigen Phantasie im Erfinden von Greueln steht. Oder besser: In welch unheimlicher innerer Beziehung die Erfindung der serbischen Massaker, von Rampen und ethnischer Säuberung, zu der schier grenzenlosen Rechtfertigungskapazität für die jedermann bekannten Greuel, die im Namen des „rechten Glaubens“ begangen werden, stehen: Die einen handeln „ungerecht“ – im Namen einer gleichmacherischen Diktatur gegen die Minderheit –, die anderen exekutieren hingegen „kulturelle Identität“, reisen also auf dem Ticket, das die Deutschen von je für sich beanspruchten, dem völkischen. Dieses adelt jede Scheußlichkeit: Das Abhacken von Extremitäten wie die Steinigung (sogenannte hadd-Strafen), sei es nun nach den Buchstaben von Koran, Sunna (oder wahlweise schiitische „Vier Bücher“) und der Exempelsammlung der Schari’a oder gleich per Lynchmord nach dem gesunden Volksempfinden (sofern die hadd-Strafen offiziell noch nicht wieder angewandt werden), und seien die Delikte noch so „schwerwiegend“ wie Gotteslästerung, Homosexualität, Besitz westlicher Videos, Ehebruch, Kollaboration mit Israel, Apostasie vom Islam oder Ladendiebstahl. Daß sich Prof. Dr. Heine noch erdreistet, lobend herauszustellen, daß die „Schari’a kein Gestzbuch wie das StGB“, sondern von Fall zu Fall völlig verschieden ausfallen kann, zeigt, wie sehr die Rückkunft der Schari’a in unterschiedlichen islamischen Ländern von Mauretanien bis Malaysia, dem urdeutschen Kritiker des formalen Rechts aus der Seele spricht.

Die Desäkularisierung in allen Ländern mit mehrheitlich moslemischer Bevölkerung schreitet rapide voran (außer in der Türkei: Dort befindet sich der kemalistische Staat in einem ausdauerndem Rückzugsgefecht). Es sind nicht allein der Iran oder Afghanistan, Pakistan oder der Sudan, die die Trennung von Recht und Religion aufgehoben haben. In Saudi-Arabien war das nie nötig, und selbst die Versuche Nassers in Ägypten oder Bourguibas in Tunesien gehören längst der Vergangenheit an. Doch gerade der Schlachtruf „al-Islam din wadaula“ (Der Islam ist eine Religion und ein Staat) bringt die Saiten des deutschen Volkscharakters zum Klingen, die mit Zimperlichkeiten wie Gewaltenteilung und Repräsentationsprinzip schon immer nichts, dafür mit Gemeinschaftsgeist, Disziplin und Volksempfinden umso mehr anzufangen wußten. Die lancierten Befürchtungen, daß ausgerechnet in Deutschland ein sogenannter „Antiislamismus“ viele Anhänger finden könnte, sind vor diesem Hintergrund absurd und nichts weiter als eine weitere Strophe im deutschen Loblied auf den Islam: Erstens hat sich in der langen Zeit, seit der Libanon als Sinnbild westlicher Lebensart im Orient untergegangen ist und es keine Farah Dibahs für die Gazetten mehr gibt, die autoritäre Gefühlswelt komplett von Israel (als perverses Beispiel dafür, daß die Juden ihre Lektion gelernt hätten und nun fleißig arbeiteten) abgelöst und wieder offen dem „gerechten“ Anliegen der wahren Völker zugewandt. Zweitens: Wem, wenn nicht den Brüdern im Geiste in ihrem „gerechtem Kampf“, hätten Volk und Medien ohne weiteres Aufhebens nachgesehen, daß am 11.9.2001 auch etliche Deutsche ums Leben kamen? Drittens verrät allein schon die Wortprägung „Antiislamismus“ die Gesinnung derer, die sie in die Welt setzen: Die beabsichtigte sprachliche Gleichstellung mit dem Antisemitismus will das Schicksal der Juden mit dem angeblichen Unrecht, das den Palästinensern widerfährt, aufrechnen; der Opferstatus der Palästinenser vertritt die Stelle des gewünschten eigenen. Und viertens darf man in Deutschland die organisierten Nazis durchaus als Indikator der allgemeinen Stimmung werten. Und sie zeigen genau die Differenzierungsfähigkeit, die man vom Rest auch erwarten darf: Nämlich säuberlich zu trennen zwischen dem unerwünschten Ausländer hier, der selbstverständlich kriminell ist, und dem völkischen Moslemhelden dort, der das bekämpft, was man selbst nicht mag: die USA, die Juden und die Zumutungen der Bürgerlichkeit.

III. Der Begriff islamischer „Fundamentalismus“ ist absolut irreführend: Er diente ursprünglich zur Bezeichnung pietistischer, protestantischer Strömungen und legt damit den auch oft genug gezogenen Vergleich des Unvergleichbaren nahe, den zwischen christlichem Fundamentalismus und dem Islamismus. Erstgenannter will der säkularen Öffentlichkeit zwar höchst repressive „religiöse Werte“ aufzwingen, steht aber nicht nur in Opposition zu einer säkularisierten Amtskirche, sondern kann sich auch gar nicht auf das perfekte Modell einer gottgemäßen Gesellschaftsordnung auf Erden beziehen, die es nur wieder herzustellen gälte, wie es dem Islamismus vorschwebt. Während der Koran die medinensische Gesellschaftsordnung in Mohammeds Kodifizierung als Ergebnis göttlicher Offenbarung „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ starr festlegt, die gottgefällige Gesellschaft also im Stadium des postantiken gesellschaftlichen Hierarchie des Orients – Privatisierung der Frau, Verachtung der Bauern, Führung durch Händleraristokratie – sistiert, ist das „Reich Gottes“ der christlichen Offenbarung wenigstens „nicht von dieser Welt“, die bloße Wiederherstellung eines gottgewollten, bis ins Kleinste bestimmten Zustandes von Gesellschaft demnach ausgeschlossen.

Mehr noch: „Fundamentalismus“ setzt allein schon begriffslogisch einen Widerpart voraus, den nicht-fundamentalistischen Islam, den es aber der inneren Konsequenz der Lehre nach gar nicht geben kann, außer als Abfall oder Verirrung – oder in den Erbauungsreden deutscher Orientalisten und Gemeinschaftsstifter. Durch die Herauskürzung des Messianischen aus dem Monotheismus Mohammedscher Prägung, die platte Unmittelbarkeit und Identität des Gottgewollten mit dem Bestandhabenden, fehlt dem Islam jegliche Transzendenz. Diese aber ist die Voraussetzung nicht nur dafür, daß sich Religion mit ihrer Beschränkung auf einen eigenen Bezirk, der in der Aufklärung privatisierten Glaubensmoral, bescheiden kann, also fähig ist, mit einer ihrem Einfluß entzogenen Öffentlichkeit zu koexistieren. Mehr noch: Die Nicht-Identität bestehender Herrschaftsverhältnisse mit der Erlösungserwartung, das Offenhalten eines versöhnten Zustandes der Menschheit für eine noch kommende Zukunft, war der Nährboden für das Entstehen revolutionärer Strömungen, ermöglichte nicht nur das Austragen gesellschaftlicher Konflikte im religiösen Rahmen sowie die In-Frage-Stellung von Ungleichheit und Privateigentum, sondern letzten Endes auch die Sprengung des Christentums von innen heraus.

Die gottbefohlene, in diesem Sinne „natürliche“ Ordnung der Gesellschaft steht im Islam also fest. Deswegen ist die Bezeichnung Islamismus für die gesellschaftliche Bewegung, die unter der alle Unterschiede überbrückenden Parole „Der Islam ist die Lösung“ in allen Ländern mit überwiegend islamischer Bevölkerung an Boden gewinnt – um es ganz vorsichtig auszudrücken – die einzig angemessene. Mit dem ganzen Recht, das sich aus dem unverrückbaren Wissen um die Struktur der göttlichen Ordnung auf Erden und die in den Schriften bis ins Detail geregelte Lebensführung ergibt, mit dem ganzen Recht des „Es steht geschrieben“, betreibt der Islamismus die Wiedereinrenkung der Welt in die Offenbarung, während die staatliche Religionsbehörde der Türkei auf verlorenem Posten steht: Allein nur mit durchschaubarer Sophistik laboriert sie an ihrer eigentlich unlösbaren Aufgabe, die Vermittlung des Islam mit Rechtsgleichheit und Religionsfreiheit.

Der Islamismus hingegen ist somit uralt und ganz jung zugleich: Er ist nicht, wie man vor allem in Frankreich hoffte und noch hofft, ein Relikt, das von der Modernisierung irgendwann auch einmal erfaßt würde; er steht noch nicht einmal im unvermittelten Widerspruch zur Moderne, sondern ist – darin dem Archaismus aus zweiter Hand des Nationalsozialismus nicht unähnlich – ein Produkt ihres Scheiterns an sich selbst. Die Ursprünge des Islamismus reichen ins Ägypten der 20er Jahre zurück, auf die Gründung der Moslembrüderschaft 1928. Ihr Gründer, der Lehrer Hassan al Banna, war durch eine westliche Ausbildung gegangen, ebenso wie das Idol des Islamismus, der Schriftsteller Sajid Qutb, den gerade das Studium in den USA dazu brachte, radikal mit dem ehemals eigenen reformerischen Kurs zu brechen: Den Eindruck der Verderbtheit des Westens, der den Islam „kulturell vergiften“ wolle und den Gedanken, daß dieses Übel, das sich in Gestalt „neuer Kreuzfahrer“ in der islamischen Welt breitmache, irgend auf den gottlosen Materialismus der Juden zurückzuführen, der ihnen innewohnt wie der stete Wunsch nach Zersetzung; also kurz die Projektionsfigur, in der die Juden das Geld und die Zirkulation in einem der islamischen Welt wenn nicht unbekannten so doch verpönten Aggregatszustand verkörpern, brachte er mit und damit das Zentrum des heutigen Islamismus, den bis zur Selbstzerstörung militanten Antisemitismus. Bin Ladens Organisation übrigens leitet ihren Namen „Gesellschaft zum Kampf gegen Kreuzfahrer und Juden“ von Qutb ab.

Dieser rasend-hochmoderne Antisemitismus beschränkt sich, wie der Islamkritiker Barreau noch hoffte, weder territorial auf den Israel mehr oder weniger benachbarten arabischen und zentralasiatischen Raum noch läßt er sich notwendig zurückführen auf die Kränkung, daß die drittheiligste Stadt des Islam, Jerusalem, „von Ungläubigen okkupiert“ ist. Selbst der Ferne Osten zeigt sich gerade durch seine galoppierende Islamisierung auf der Höhe der Zeit – sein Antisemitismus ist so ubiquitär wie flexibel. Auf dem Höhepunkt der „Asienkrise“ sprach der malayische Präsident öffentlich darüber, daß der Verfall der Landeswährung auf Machenschaften des Judentums zurückzuführen sei, während gleichzeitig der Mob auf Indonesiens Hauptinsel Java – in Ermangelung von Juden – deshalb grauenvolle Pogrome in den Vierteln der chinesischen Minderheit anrichtete, weil diese angeblich an der Krise verdienten.

Der Einwand, daß sich aber gerade an seinem Antisemitismus das eigentlich Unislamische am Islamismus zeige, enthält wie fast jede Lüge jenes Körnchen Wahrheit, das sie erst glaubwürdig macht. Der Koran ist durchaus zwiegespalten, was die Einschätzung der Juden angeht, wenn auch ein Unterton von Haß aus verschmähter Liebe dominiert. Sie werden einerseits als „Schriftbesitzer“ deutlich von den Polytheisten abgehoben: Haben diese nur die Wahl zwischen Bekehrung und Vernichtung, so dürfen Juden bei ihrem Bekenntnis bleiben, ohne dafür unmittelbar mit dem Tod rechnen zu müssen. Sie werden unter staatliche Kuratel gestellt, die dhimma. Diese garantiert ihnen zwar die private Religionsausübung, stempelt sie ansonsten aber in jeder nur denkbaren Hinsicht zu Bürgern dritter Klasse: Ihr Zeugnis gilt nichts gegen das eines Rechtgläugigen; ihre Geschäftsfähigkeit unterliegt starken Beschränkungen inklusive des Heirats- und Erbrechts; sie müssen Kopfsteuer bezahlen. Öffentliches Kundtun nichtislamischer Ansichten oder Verhaltens ist mit Todesstrafe belegt. Dazu kommt in späterer Zeit noch eine demütigende Kleiderordnung, die Juden sofort als inferiore dhimmis kenntlich macht. (Die neuerdings verordnete Kennzeichnungspflicht für Hindus in Afghanistan folgt übrigens auch der dhimma). Die von Orientalisten vielgerühmte „Toleranz“ des Islam bestand darin, Juden immerhin nur, statt sie zu töten oder zu vertreiben wie beispielsweise die spanische reconquista, in einer exponierten Stellung zu entrechten und zu demütigen, so daß keine Gefahr für die Hierarchie der gottgefälligen Gesellschaft der Rechtgläubigen von ihnen ausgehen konnte, sie vielmehr als Werkzeuge derselben fungierten.

Zugleich legt der Koran auch eine Fährte, die bis zu den jüngsten antisemitischen Brandreden Assads reicht. Die ökonomisch-militärische Konkurrenz zwischen den Stämmen, die Mohammed folgten, und den auf der arabischen Halbinsel benachbarten jüdischen Stämmen und die gleichzeitigen Weigerung der mekkanischen bzw. medinensischen Juden die Stellung Mohammeds als Sprachrohr Gottes anzuerkennen, schlagen sich in Suren und der weiteren Überlieferung (Sunna bzw. „Vier Bücher“) nieder: Die Juden werden der Verschwörung geziehen, einerseits zur Ermordung des Propheten, andererseits zur Fälschung der Thora; sie hätten, um die Gläubigen zu verwirren, alle Stellen, in denen von der Sendung Mohammeds die Rede war, entfernt. Aus an sich banalem Anlaß liegen hier zwei Schlüsselfiguren des modernen Antisemitismus in Vorbereitung: die Mordlust und die Zersetzung.

IV.Was als Rückbesinnung auf die ureigenen Kulturwerte erscheint, ist in der aggressiven Gemeinschaftsideologie europäischen Zuschnitts in der Sache nichts anderes als im Islamismus: Die Abspaltung des verhaßten Abstrakten in ebenso konkretistischer Form, wie man sich auch die eigene Wertegemeinschaft einbildet. Weil aber die Erinnerung an eine Zeit nicht völlig getilgt ist, in der es schien, daß Aufklärung, indem sie über sich selbst hinausschreitet, gelingen könne, ist der neuerlichen Aneignung des Glaubens im „Westen“ ihr absolut willkürlicher Charakter noch leicht anzumerken. Noch gibt es den Maßstab, an dem sie sich blamieren kann. Die islamistische Bewegung hingegen lädt den Glauben, der nie abgelegt war, sondern als bloße Selbstverständlichkeit einfach zum Leben gehörte, sozusagen wieder neu auf. Hier wie dort sind es die kraft blinder Markttätigkeit Freigesetzten, die gerade, weil sie auf diese Weise der Tradition entbunden wurden, so krampfhaft zur Tradition, die nun der Warenfetisch selbst in den Köpfen stiftet, zurückstreben bzw. an ihr festhalten: Ungeglaubter Glauben. In der islamischen Peripherie aber hat die Modernisierung der Ökonomie, die doppelte Freisetzung der Marktsubjekte, das europäische Zwischenspiel, in dem Individuation mit Individualität parallel liefen, gleichsam übersprungen, der postindividuellen Regression ein präindividuelles Gepräge verliehen:

Die dhimma, die derlei Potential natürlich in nuce bereits trug, übernimmt, kaum daß sie im osmanischen Reich offiziell abgeschafft war zugunsten allgemeiner Freizügigkeit und Rechtsgleichheit, sofort den volksgemeinschaftlichen Charakter an. Die natürliche Unterordnung der nicht zum eigenen Schlage Gehörigen gepaart mit dem Anspruch, die enormen Opfer der Ökonomie jenen aufzubürden. Da dies gegen den Weltmarkt weniger noch als im deutschen Nationalsozialismus gelingen kann, sich als Herrenmensch von den Konsequenzen der eigenen Warenförmigkeit zu dispendieren, hält das archaische Material des Koran eben gerade auch die moderne Lösung bereit: Die personalisierte Schuldzuweisung, die Formel von der Verschwörung, die aus geheimnisvollen Zentralen heraus die Welt in Unordnung stürzt, mit einem Wort: Den Antisemitismus. Das Rückwärtsgewandte ist das ganz Moderne; die „islamische Revolution“ teilt das fortgeschrittenste antizivilisatorische Ressentiment, das die Zivilisation gegen sich selbst hegt.

Auch unser Islamexperte Prof. Dr. Stein macht daraus gar keinen Hehl: „Heutigen schiitischen Gelehrten sind die theologischen Werke eines Bultmann oder Karl Rahner genauso geläufig wie der Strukturalismus eines Claude Lévi-Strauss. Der Tübinger Theologe Hans Küng hat unter ihnen geradezu Kultstatus. Auch gesellschafts- und zivilisationskritische Positionen westlicher Intellektueller werden aufmerksam zur Kenntnis genommen“. Der akademische Propagandist des Islam hat hierzulande zu dessen Verteidigung die Formel von der „Islamisierung der Moderne“ geprägt. Gemeint ist, daß der Islam in sich eine andere, zivilisationskritischere Moderne ausbrüte. Tatsächlich aber islamisiert sich die eine kapitale Weltgesellschaft, auch da, wo so gut wie niemand sich zum Islam bekennt. Das so fremd scheinende Bild des Satellitentelefon benutzenden Bin-Laden ist wie das Rätsel um Hochschulausbildung und Discobesuche der Selbstmordattentäter von New York nicht fremdartiger und nicht schwerer zu lösen als das des Horoskope lesenden Börsianers oder des UFO-gläubigen Computerspezialisten. Immerhin aber hat sich letztere Spezies noch nicht zum gemeinschaftlichen Hände Abhacken, Schwule Steinigen und Juden Ermorden zusammengerottet. Das ist der marginale Unterschied, der einer ums Ganze ist.

Uli Krug (Bahamas 36 / 2001)

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