Und Deutschland war natürlich hellwach. Wenn Todenhöfer konstatiert, „täglich verhungern auf der Welt 20.000 Kinder“, obwohl sein Thema doch der Afghanistan-Krieg war, wissen alle Deutschen, was gemeint ist. Sie sehen die Bilder der zusammenstürzenden Türme und reden von 20.000 Kindern. Jede weitere Argumentation ist überflüssig: Keine Heimat, wer schützt uns vor Amerika.
Den Deutschen ist schon das Wort Kapitalismus so verdächtig, daß sie sich quer durch die politischen Lager strikt davon abgrenzen. Als Kapitalist bezeichnet zu werden hat Generationen deutscher Unternehmer schwer gekränkt, und noch der dogmatischste Wirtschaftsliberale will sich als Marktwirtschaftler verstanden wissen. Mit Kapitalismus verbindet man in Deutschland den sozialwidrigen und illegitimen Zugriff egoistischer Bestrebungen auf eine im Kern moralische Ordnung. Er ist ihnen Symbol für die Ellbogengesellschaft und meint keineswegs nur Rationalisierer oder Börsenspekulanten, sondern darüber hinaus jede Äußerung eines die Norm sprengenden Individualismus. Im Grunde sind die Deutschen Sozialisten – Sozialisten im bösen und autokratischen Wortsinn: im Marschtritt und in der Arbeitsfront, in der Wohnküche und der Volkssolidarität, beim Ausforschen und Spitzeln, beim Verraten und Strafen, beim Verbieten und Mäkeln. Anders als in Majakowskis linkem Marsch ist es ihnen egal, ob da jemand nach links oder rechts ausschert, jedes Ausscheren ist Verrat. Die Freundlichkeit, die sie ersehnen, ist die der unhinterfragten Ordnung, der Clubraum im Mietshaus, die Laubenschänke in der entsprechenden Kolonie, die Solidarität unter engagierten Idealisten, die Fremde darauf aufmerksam machen, daß die Parkordnung das Betreten der Rasenflächen nicht vorsieht. Ihr Ideal ist der Gleichheit verpflichtet und die Gleichheit scheinbaren natürlichen Attributen, die wiederum auf die große Ordnung verweisen, die alles richten wird, aber je nach Menschenschlag und Weltgegend eben landestypisch.
Sympathisch waren Sozialisten und Kommunisten hierzulande immer nur dann, wenn sie aus der vorgezeichneten, bürokratisch verwalteten Route ausscherten – also wenn linksradikale Chaoten die Fabrik besetzten, ohne bei der Gewerkschaft nachgefragt zu haben, die FDJ beim Festival der Weltjugend im Sommer 1950 mit ausländischen Gästen in den Büschen Berliner Parkanlagen fraternisierte oder ein parteiloser schwäbischer Handwerker mit KPD-Vorliebe eine bedeutende antifaschistische Handlung vornahm und eine Höllenmaschine zur Detonation brachte, die den Führer um ein Haar erledigt hätte. Das Sympathische war aber die Ausnahme und wurde geahndet. Die Fabrikbesetzer flogen aus Partei und Gewerkschaft, die sinnesfrohe Parteijugend wurde gemaßregelt und Georg Elser fand kein Plätzchen im antifaschistischen Ehrenhain. Es begann alles mit einer preußisch-scholastischen Marx-Exegese, die nicht mehr zu bieten hatte als den Staatssozialismus der deutschen Post, den Lenin so bewunderte, einen Kasernensozialismus voller Notstandsfreude und Hingabebereitschaft. Flankiert von einer grotesk unterwürfigen Volkshochschulhaltung bei der sogenannten Aneignung der Kultur, die in ihrer Erbärmlichkeit noch hinter die Erbauungshaltung des Bürgertums zurückfiel, befragte man die deutschen Klassiker – wie andere ihre Tarotkarten – über den historischen Erfolg der Arbeiterklasse. Organisiert durch Ordnungsungetüme namens Partei oder Gewerkschaft, die wie eine kongeniale Fortsetzung des deutschen Turnerbunds jedem Platz und Aufgabe zuwiesen in einem unbegriffenen Spiel, dessen Regeln auf den Höhen der Parteiführung festgelegt wurden, wo törichte Bürokraten sich bemühten, aus dem Gothaer Programm oder Engels’ populären Spätschriften ewige Wahrheiten herauszulesen.
Dieser Sozialismus, der die Menschen zu befreien vorgab, tatsächlich aber in den Würgegriff von Organisationen nahm, die an Sparvereine erinnern, der ihre Freizeit mit kollektivem Naturerleben bis hin zu den Zumutungen der Freikörperkultur in Beschlag nahm, sie ununterbrochen das Immergleiche schulte – diese auf Ewigkeit angelegte Durchhaltegemeinschaft wußte allerdings und mit Erfolg stets zu warnen: vor Disziplinverstößen und Eigenmächtigkeiten, vor Spontaneismus und Selbstsucht, vor Dekadenz und Korruption, vor Müßiggang, vor zügellosen Frauen und vor allem vor der Ungeduld. So frettete man sich von Wahlergebnis zu Wahlergebnis, von 1. Mai zu 1. Mai, verteilte langweilige Zeitungen und studierte Bücher, die von der Evolution handelten und nicht vom Ausbruch aus dem stickigen Alltag. Noch im Januar 1933 demonstrierte man auf dem heutigen Berliner Luxemburgplatz in scheinbar endlosen Kolonnen stundenlang um das gleiche Haus herum, das damals die KPD-Zentrale beherbergte und heute die der PDS, gegen den Faschismus. Ernst Thälmann, Ausbund eines autoritären Kleinbürgers, stand dort mit gereckter Faust und nahm eine Parade ab, die gleichermaßen Lemmingszug wie Durchhaltesymbol war und einige Tage später stand man nackt da – frei von Waffen, frei vom Angriffswillen und bar jeder gesellschaftlichen Alternative.
Was hatte man jenen anderen, mordenden und grölenden Sozialisten auch entgegenzusetzen gehabt. Auch sie kamen vom Kasernenhof und obwohl man in ihnen leicht den Feind erkannte, verzweifelten die, die darüber nachdachten insgeheim über dem Unterschied. In den Jahren des Faschismus gab die meistverfolgte politische Kraft zugleich keinen wirklichen Grund zur Verfolgung, weil alle für den bewaffneten Aufstand oder den gebotenen antifaschistischen Terror notwendigen Potentiale in den Jahren vor 1933 gezielt abgewürgt worden waren und es den mutigen und entschlossenen Mitgliedern an Kraft und Phantasie mangelte, auf eigene Faust wirkungsvoll zu handeln.
Seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt, sind es keineswegs nur noch die im Antifaschismus kläglich gescheiterten Linken, die den großen Unterschied in der Beurteilungen der beiden ehemaligen Hauptbesatzungsmächte hervorheben. Jetzt wo alles vorbei ist, getraut man es sich zu sagen, daß die Russen den Deutschen immer schon näherstanden als den Amerikanern.
So sehr man die Sowjet-Besatzung haßte, sie war – nach den ersten wüsten Wochen – diszipliniert und arm. Beeindrucken konnte sie allein durch Gewalt und bei allem Sowjetschrecken, sie hatte Ideale. Wie anders und um wieviel bedrohlicher war jene andere Truppe, deren Angehörige sich so eigenartig unbekümmert einrichteten und ein ganzes Arsenal fremder Kulturgüter mitschleppten, die sich einen Teufel um die deutschen Faschisten scherten, die sie besiegt hatten und denen sie sich so überlegen wußten, daß sie eher mit geringschätzigem Schulterzucken auf die bösen alten Männer und verbitterten Durchhalteweiber herabsahen, als daß sie sie haßten. Großzügig gingen sie davon aus, daß den Besiegten von selber einleuchten müßte, welcher einzige Weg ihnen offen stünde. Doch die hatten ihnen ihre blanke Unkenntnis deutscher Kultur nie verziehen, ihre legere Hinwendung zu den deutschen Fräuleins gehaßt, ihren Mißbrauch Alt-Heidelbergs und der finsteren deutschen Kulturlandschaft als pittoreske Staffage für den Fototermin, am besten zusammen mit Fräulein, nie verziehen. Die Angehörigen der US-Army, die den Thomas Mann nie gelesen haben, erkannten instinktiv und spontan das, worauf jener, um es kritisieren zu können, ein langes Leben verwandt hatte: den fauligen Geruch, der aus den mittelalterlichen Gemäuern aufstieg, die engherzige Rückständigkeit ihrer Bewohner, ihre größenwahnsinnige Menschenscheu und den Zusammenhang zwischen kollektivem fanatischem Unbehagen und den fürchterlichen Verbrechen, mit denen sie bei der Befreiung Bergen- Belsens oder Dachaus konfrontiert gewesen waren. Aber sie fürchteten sich nicht vor ihnen und hielten sie sogar für belehrbar. In unerschütterlicher Naivität waren und sind Amerikaner davon überzeugt, daß ihr way of life der einzige von Bestand sei und einen demokratischen Staatsbürger deshalb produzieren würde, weil er einen Privatmann zur Voraussetzung hatte, der sich durchschlagen würde, ohne allzuviel Rückversicherung in nationalen Kollektiveranstaltungen zu suchen.
Die Nachkriegs-BRD sollte allen „amerikanischen“ Innovationen zum Trotz nicht etwa eine Welt ohne Bindungen sein, sondern als Land von Sozialpartnerschaft und „gebundener Ökonomie“ die Fortsetzung finsterer deutscher Tradition. Nichtsdestotrotz brachte die mit US-amerikanischen Finanzspritzen ermöglichte Restitution einer politischen Ökonomie Freiheiten mit sich, die nicht nur die Fassade zersetzten, sondern sich wie Hausschwamm in die Substanz einnisteten. Alles was sich in der nachfaschistischen westdeutschen Gesellschaft wenigstens äußerlich auflöste – die statuarische Autorität der Beamten und Respektspersonen, die paramilitärischen Hierarchien in Betrieb und Schule, die kastengleiche Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten, wurde jedoch nicht begrüßt. Vielmehr begann man bald über die „Amerikanisierung“ des Alltags in Mode, Musik und Medien zu lamentieren – als sei der Verfall von Kunst und Schönheit von außen eingeschleppt worden. Der Kunst hatten die Deutschen aber höchstselbst den Garaus gemacht, indem sie sie zur kulturellen Erbauung in Erhebungskonzerten, KdF, Schönheit der Arbeit instrumentalisierten und mit dem Arbeitsalltag fusionierten, so daß sie ihre Kraft des Einspruchs einbüßte. Was man selber angerichtet hatte, nahm man den Amerikanern so übel, wie sonst nur der Muslem die Zersetzung seiner Werte durch verderbliche westliche Einflüsse.
Der angeblich von außen eingeschleppte Kulturverlust wird heute nicht mehr entlang konkreter Einzelerscheinungen wie dem Rock’n Roll oder dem Hula Hoop-Reifen verhandelt, sondern in abstrakteren Kategorien genereller Sinnkrisen, die zu Verantwortungslosigkeit, Selbstsucht und hemmungsloser „Erotisierung“ des Alltags führten. Diesen drückenden Untergangsvisionen, die die Deutschen als Opfer einer Wertezersetzung wähnen, denen irgendeinmal alles zum Opfer fallen müßte, werden immer wieder Rezepte entgegengehalten, die auf die Quelle der Zerstörung verweisen. In den 50ern und 60ern war die Empfehlung, einfach zu vergasen, was aus der Reihe tanzte, noch durchaus im Volksmund populär; heute sind es eher die Institutionen der Zwangserziehung, die man ja nicht gleich Reichsarbeitsdienst nennen muß, die im Angebot stehen, aber auch präventive Strafen, die längst vor der Kastration nicht mehr halt machen wollen.
Fortan waren es Vernichtungsängste, die zunächst einen linken Protest formierten, der sich über Frieden (50er/60er Jahre), Atom (70er/80er Jahre), wieder Frieden (80er Jahre, 90/91), begleitet von Öko und Altbauschutz, langsam ins Herz der Gesellschaft vorkämpften. Als Vernichtung wurde schon bald nicht nur der „anglo-amerikanische Bombenterror“ verhandelt, sondern auch die Sanierungswut der 50er und 60er Jahre, aufgrund der weit mehr alte Häuser zerstört wurden als im Krieg, wie Anfang der 70er Jahre ganz links und kritisch aufgerechnet wurde – womit über die Sanierer schon alles gesagt war. Bubis und andere hätten von innen heraus Zerstörungen vom Ausmaß der Flächenbombardements eines Sir Arthur Harris angerichtet, hieß es. Was Bubis und andere aus reinem Gewinnstreben in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten der Republik veranstalteten, war zwar gewiß keine Ruhmestat im Städtebau – als Anschlag aufs alte romantische Land bedeuteten die Städtesanierungen aber einen relativen Fortschritt gegenüber einer bereits nachwachsenden Generation, die nicht nur auf Spekulantenjagd gehen würde, sondern noch den unansehnlichsten Wohnsilo in ein heimeliges Idyll zu verwandeln sich anschickte, das jeder fortschrittlichen Vorstellung von Urbanität ins Gesicht schlug. Wie unverständlich und kulturschänderisch mußte den Deutschen die Haltung der Amerikaner vorkommen, die alle paar Jahrzehnte alles umreißen und neu aufbauen, statt das Alte um seiner selbst willen zu bejahen.
Die Angst, die dem kapitalistischen Subjekt von Anbeginn an in den Gliedern sitzt, die drückende und nicht enden wollende Angst vor dem Untergang, dem Versagen der Kräfte, dem Zerfall der so mühsam zusammen gehaltenen Persönlichkeit, begründet keinen Unterschied zwischen den USA und Deutschland. Gerade nach ihrem größten Sieg brach in die USA nicht nur die Kommunistenverfolgung aus, sondern begann auch der mühsame, von hoher Arbeitslosigkeit begleitete Umbau der Kriegsökonomie für zivile Zwecke. In dieser Zeit wurde Hollywood düster. In den Filmen der schwarzen Reihe werden den Akteuren ihre eigenen Handlungen fremd, der sicher geglaubte Boden schwankt, noch das eigene Spiegelbild wird zum feindlichen Gegenüber. Mühsam nur löst sich die Phantasmagorie in eine mit gewohnter Rationalität aufklärbare Kriminalgeschichte. Doch so mühsam die zerfallene Persönlichkeit wieder in eins gesetzt wird, so unbeirrbar ist die Zuversicht, daß dies auch weiterhin möglich sei. Auch die in den USA der 40er und 50er Jahren zu größter Popularität gekommene Psychoanalyse, die kaum mehr als mit ein paar unbegriffenen Begrifflichkeiten an Freud erinnert, spiegelt diese Zuversicht wider. So sehr die Analyse zum Seelenklempnertum verkam, so scharlatanesk mit unverarbeiteten Schlüsselerlebnissen operiert wurde, deren Traumata man durch Elektroschock kurieren wollte, so sehr bleibt auch in dieser rohen Nutzanwendung die alte Zuversicht kenntlich: Es ist Dein Leben, mach etwas draus! Wie anders dagegen die Psychopathologie der deutschen Psychologie und ihrer Klientel: Hier wird auch die aus dem Tritt geratene Persönlichkeit immer als Opfer böser, von außen hereindrängender, den Einzelnen zerstören wollender Kräfte gesehen. Als sei es nicht geboten, auch dagegen den Aufstand zu wagen, steht Innehalten und Insichgehen auf der therapeutischen Tagesordnung. Im larmoyanten Einbekennen, unheilbares Opfer zu sein, gefallen sich nicht nur die Kunden von Therapeuten und Psychologen. Nur noch als Mitglied eines seelisch zerbrochenen Opferkollektivs kann sich der deutsche Mittelständler noch wohlfühlen. Man möchte sich den good guy aus dem amerikanischen Film herbeiwünschen, der seine Angst durch Pfeifen vertreibt und im Zweifel irrsinnig, aber standhaft sagt, was kein Deutscher über die Lippen bringt: I’m the failure. Ein Deutscher würde sagen: Mit uns kann man es ja machen.
Was das kapitalkonstituierte Subjekt in Deutschland und in den USA unterscheidet, ist scheinbar marginal und deswegen grundlegend: seine Stellung zur Objektivität. Das Subjekt erlebt die äußere Welt als Schicksal, als seine Wünsche und seinen Willen willkürlich durchkreuzendes Verhängnis. Die Hochzeit bürgerlicher Emphase, als die Welt noch als zu erobernde „Domäne des Willens“ vor seinen Augen lag, ist zwar hier wie dort vorbei; in den USA hallt sie aber deutlich vernehmbar nach. Während man dort dem Schicksal trotzt, sich herausgefordert fühlt und gegen die erdrückende Übermacht der Verhältnisse auch noch dann anrennt, wenn es als völlig aussichtlos erscheint, ist hier das gesellschaftliche Schicksal etwas, in das man sich murrend und widerstrebend fügt, in das man sich ergibt und dessen Vollstrecker man schließlich spielt, indem man die vermeintlichen Verursacher des eigenen Elends eigenhändig vernichtet. Eigenverantwortung, wie sie in Deutschland gefordert wird, ist die unerbittliche Verneinung jenes unglücklichen Restes von Subjektivität, der sich noch störend in einem regen könnte, um gegen andere umso ungehemmter vorgehen zu können: Dann greift der Deutsche nach seinem Nachbarn aus, dem er seine Disziplinlosigkeiten vorrechnet oder durch die Staatsgewalt sanktionieren läßt oder – wenn er revolutionär gestimmt ist – durch entsprechende Kiezmilizen in die Schranken weist. Eigenständig handelt man hier nur im Auftrag einer höheren Macht, Initiative entwickelt man hier nur als Vollstreckungsbeamter: Dieser Idealismus kennzeichnet das deutsche Subjekt als subalternen Aktivisten, als Charaktermaske des Souveräns, die sich die Gebote des Apparats als eines staatvermittelten Ganzen völlig zu eigen gemacht hat.
In den USA hingegen werden, jeder Evidenz zum Trotz, seltsame Maximen aus längst vergangenen Zeiten gläubig hochgehalten. Wer sich nicht unterkriegen lasse, der werde es schaffen, wer wirklich für sich selbst verantwortlich sei, habe auch das Zeug, seines Glückes Schmied zu sein und könne es schon von daher vom Tellerwäscher zum Millionär bringen. In solchen Glaubenssätzen äußert sich scheinbar ungebrochen die Basisideologie kapitalistischer Vergesellschaftung, die das Individuum als autonom und die Gesellschaft als die Summe der Einzelnen, als ihr für sie auch einsichtiges Produkt vorstellt. Natürlich ist dies eine blanke Lüge, und die Deutschen scheinen demgegenüber der Wahrheit näher zu sein, wenn sie die Welt als unbegreifliches Schicksal und sich selbst als Abhängige begreifen. Dieser Realitätstüchtigkeit verdankt sich ihr spontaner Alltagsantikapitalismus, der zugleich Ausdruck ihres Sozialcharakters ist und damit genau das, woran die Linken immer so gerne „anknüpfen“ wollen, wenn sie Politik machen. Doch dieser scheinbar so illusionslose Antikapitalismus ist durch und durch regressiv und ressentimentgeladen. Deutsche setzten eine Unperson an Stelle des untergegangenen Individuums, an das sie nie geglaubt haben und wissen sich schon deshalb gerade als bekennende Antikapitalisten mühelos einzuordnen in den grauen Schicksalszug ihrer Volksgenossen.
Jegliche Kritik des Kapitals, die von Linken formuliert wird, muß und wird sich daran messen lassen, ob sie diesen deutschen Antikapitalismus bekämpft statt ihn zu bedienen und ihn gar zur Tat zu ermuntern. Das Schicksal, das Verhängnis, von dem die Deutschen raunen, ist die zum metaphysischen Prinzip erhobene Subjektlosigkeit, der die Subjekte sich gleichzumachen haben. Während die Deutschen dem Gegebenen metaphysischen Charakter zusprechen, verleihen die Amerikaner dem individuellen Pragmatismus die Weihen eines dem Calvinismus nachempfundenen metaphysischen Prinzips. Diese schlechte und durch und durch lügenhafte Ideologie ist aber unter den gegebenen Umständen trotzdem der Platzhalter des Besseren und ein Vorschein von Emanzipation. In den USA liegt offen zutage, was den Kapitalismus konstitutiv ausmacht, Illusionen braucht sich da keiner zu machen. Da alle ihr Geschäft offen betreiben, ist wenig Raum für deutsche Projektionen. Es besteht in den USA einfach kein Grund, den Krisen- und Katastrophencharakter des Kapitals zu exterritorialisieren und entsprechend personalisiert nach außen zu projizieren – und wenn dies trotzdem geschieht, nimmt es sich so albern und lachhaft aus, wie Nazis in amerikanischen Spielfilmen regelmäßig geschildert werden. Die Unversöhntheit, der reale Zynismus des Kapitals liegt hier offen zutage – diese Schroffheit und eben nicht ihre sozialstaatliche und kulturelle Einebnung ist aber nach Marx eine Voraussetzung der Revolution.
Dem Schicksal trotzen, auch wenn es unsinnig ist, ist einerseits ein Nachhall bürgerlicher Aufklärung – man läßt sich von Gott, Kirche und anderen Mächten nicht beeindrucken und besteht auf seinem Glück – es ist andererseits pure Verstiegenheit. Verstiegen ist aber auch das Ansinnen jedes Revolutionärs heute, dem es um das Glück, zuvörderst das eigene, das das Glück aller anderen mitmeint, zu tun ist. Sein Vorhaben, schon als Kritik, ist so aussichtslos wie das Bemühen um Glück jedes Subjekts heute. Sein Ansinnen ist verstiegen und aussichtlos, nach dem Maß jeder „realistischen“ instrumentellen Vernunft irrsinnig – und deshalb muß es trotzdem unternommen werden: „Je unmöglicher der Sozialismus ist, desto verzweifelter gilt es für ihn einzutreten“ (Horkheimer). Der Trotz, den solche Verzweiflung mobilisiert, die Sturheit, sich ungeschmälerte Erfahrung und Einsicht nicht abmarkten zu lassen, der Wille, es immer wieder neu zu versuchen – all diese Eigenschaften, die den Rebellen ausmachen, unterscheiden sich vorderhand nicht von der Selbstbehauptung bürgerlicher Subjekte; und von ihrem Vorhandensein zehrt revolutionäre Kritik, die sich schließlich gegen das Subjekt selbst wendet, all diese Momente aufbewahrt. Die letzten Feinde der Bürger sind selber die letzten Bürger – aber garantiert nicht die Kollektivmonaden deutscher Provenienz.
So bleibt, wenn auch schäbig, im Zweifel rücksichtslos und von keiner kalkulierbaren Vernunft gesteuert, bei den Amerikanern und ihrem Staat noch ein Rest des Interesses an seinen Vorteilen, am Fortbestehen und Glück zurück – verrückt bis zum Verbrechen und zur Selbstzerstörung, aber nur dadurch noch nach menschlichem Maß. Der Deutsche aber mißtraut der Hemdsärmligkeit und fürchtet den Ellenbogen. Er erschaudert vor der Lust und fürchtet die Unsicherheit, die mit ihr einhergeht. Er wagt nie etwas für sich und haßt alles, was nicht so geduckt, so wohnküchenmäßig beisammen ist wie er mit seinesgleichen. Er wittert in den Amerikanern übermenschliche Qualitäten und fürchtet ihren Blick, der längst erkannt hat, in welcher selbsteingerichteten Misere seine Neider ihr ressentimentzerfressenes Restleben fristen.
In Deutschland aber bemüht man die 20.000 toten Kinder täglich, wenn die USA angegriffen werden. Ihren Bewohnern wird der bewußte Vollzug einer Weltökonomie unterstellt, die man in Deutschland oder in Saudi-Arabien als schicksalhaft gegeben zu ertragen gelernt hat. Die Amerikaner, die den Egoismus predigen und die Hemdsärmeligkeit, die wahrheitswidrig behaupten, sie hätten die Zügel in der Hand, werden wegen dieser immerhin noch erfreulichen Wunschvorstellung in Verantwortung genommen für alles, was mit ihnen genauso geschieht wie mit den Deutschen oder den Saudis. Die fürchterlichen Folgen kapitaler Vergesellschaftung werden denen, die Individuen sein wollen, von den nachbürgerlichen Lemurenkollektiven als persönliche Schuld zugewiesen. Wenn der Palästinenser bei jeder Gelegenheit den „Kindermörder Israel“ beschwört, weiß der globalisierungskritische Deutsche in größeren Perspektiven zu denken und präsentiert den Kindermörder USA. Als Deutscher hat man stellvertretend einen Karl-Heinz Böhm und einen Rupert Neudeck, einen BUKO und tausend NGOs. Man hilft, wo man kann und ist doch ohnmächtig. Denn die Macht hat Amerika, die Macht ist symbolisiert in Gebäuden wie den Türmen der WTC, sie diktiert Argentinien den Preis und heißt IWF, sie verweigert Afrika die AIDS-Medikamente und beutet Bayer Leverkusen aus, wenn es den Preis für bestimmte Antibiotika diktiert, die gut gegen Milzbrand sein sollen. Alle Fäden laufen in den USA zusammen, hinter allen Schrecknissen lauert der CIA und immer Gewehr bei Fuß die mächtigste Armee der Welt.
Jede Kritik an Kriegen und Kriegsverbrechen – in Vietnam, nicht in Afghanistan – an innenpolitischen Grausamkeiten und Verfolgungen in den USA wird zur abscheulichen Lüge und zum offenen Ressentiment, wenn sie von Leuten kommt, die den Kapitalismus insgeheim gern so barbarisch hätten, wie er im Faschismus schon einmal war. Diese Propheten des Untergangs geben vor, menschlicher zu sein als die Amerikaner, weil diese im Bündnis mit der Unmenschlichkeit stünden. Sie verkennen absichtsvoll die Schrecken des Elends in der Dritten Welt, sie wollen nicht mit Hand anlegen bei der Zertrümmerung der finsteren Kulturen, die Selbstverwaltung ohne Hoffnung auf irdisches Glück moderieren, damit das bißchen Verwertung aufrechterhalten bleibt, das dort das Überleben sichert, aber nicht mehr. Sie fühlen sich solidarisch mit jenen Gegenden, in denen täglich 20.000 Kinder sterben und stehen in Wahrheit doch in Solidarität mit dem dauernden Weitersterben – dem durch Hunger verursachten genauso wie jenem geistigen Kollektivtod, aufgrund dessen neben den 20.000 Kindern immer neue Menschen zum Abschuß freigegeben werden, weil sie ausscheren wollen aus dem moralischen Zwangskollektiv. Deutsche gründen Gesellschaften für bedrohte Völker und verwischen gezielt die Grenze zwischen dem Verschwinden nichtswürdiger Kulturen und der tatsächlichen physischen Bedrohung von Minderheiten. Sie, die schon am Anfang des Tonfilms einen wahren Tierfilm über Eskimos gedreht haben, suchen und fördern nur das mit sich Identische und stehen schon deshalb im Bündnis mit dem Mord. Deutsche haben die Elenden nie geliebt, es sei denn als autochthone Elende und sehen in dem bißchen Wohlstand ohne „eigene“ Kultur, nachdem jene verlangen, den häßlichen Zugriff der Coca-Cola-Zivilisation, von der sie bescheidwissen, daß sie den Völkermord bedeutet.
Der andere, der sanfte Zugriff, den die Verwalter der moralischen Weltökonomie auf die Abgehängten und Hoffnungslosen nehmen, übersteigt an kalkulierter Bösartigkeit das reine Handelsinteresse der USA. Die scheinbare Interesselosigkeit, die gleichwohl ökonomische und ideologische Verfügung beansprucht, will die feste und nachhaltige Anbindung der entlegenen Teile der Welt, die man in ihrem Haß auf alles Amerikanische bestärkt, und aus denen man die Verzichtsideologien, die dort so scheinbar originär gedeihen, reimportiert. Was einen als Linker an der dritten Welt noch interessiert, ist weit entfernt vom Eingriff in die dort wuchernde Barbarei, im Gegenteil: Man will die Verewigung der Dunkelheit, fernhalten, was falsche Begierden stiften könnte, zusammenhalten, was schon falsch war, als es noch nicht durch die Berührung mit Kolonialisten endgültig irre geworden war. All dies geht einher mit zivilgesellschaftlichen Vorhaben in der eignen Hemisphäre, die jeder Individualität und jedem Luxus feindlich sind. Nicht, daß es das alles nicht auch in den USA gäbe, nicht daß manches Übel wie der Kommunitarismus nicht gerade dort ersonnen worden ist. Dort aber treffen Reichtum und Armut noch unversöhnt aufeinander. Dort kämpft der Arme, wenn schon nicht um die Revolution, dann doch um den Reichtum und dort verhandelt man, weil man keine andere Ideologie anerkennt als die des Marktes, wenigstens hemdsärmlig und nicht mit Ellbogenschonern.
Von den USA ist schon lange nicht viel mehr übrig als eine Erinnerung – eine Erinnerung allerdings, die es zu bewahren gilt gegen den kulturalistischen Durchmarsch der europäischen Wertegemeinschaft, die sich noch an den verzweifelten Versuchen ihrer Subjekte stört, ein wenig Luxus und Glück zu ergattern. In ihrer linken Abteilung ist es inzwischen soweit, daß man entweder den Begriff von Aufklärung und Subjekt ganz verwirft, um sich seitwärts in die Büsche des nachbürgerlichen Urwalds zu schlagen, oder aber man vertritt einen aus Heinrich Bölls Verantwortungsprosa und Franz Josef Degenhardts Alterslyrik zusammengebackenen miefigen Kulturpessimismus, der als Heilmittel die Rezepte aus der Lindenstraße feilhält und von dort aus direkt das Paradies dauerhaften Verzichts und unendlichen Unglücks hochleben läßt. Weil man schon lange nichts mehr angreift, weil man nicht wüßte, was es noch zu wollen gäbe, beklagt man den bosnischen Straßenstrich oder einen, der durch die ganze Welt führe (Elsässer in: junge Welt, 10.01. 02), und prangert in einem Atemzug damit die Erotisierung der modernen Jugendkultur an. Die Deutschen ziehen sich scheinbar in einen Schmollwinkel zurück, der aber leider nicht privat, versponnen und harmlos ist, sondern so deutsch, daß gerade von dort die schlimmsten Missiles kommen, die eben zuerst sich gegen Amerika, die lebenslange Herausforderung richten – schon allein wegen der 20.000 toten Kinder.
Justus Wertmüller/Clemens Nachtmann (Bahamas 37 / 2002)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
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