Der Schrecken über den 11. September hielt in Deutschland nicht lange an. Man wußte einfach, daß ein vergleichbarer Angriff auf Deutschland nicht erfolgen würde. Wozu hätten die so gutnachbarlich angepaßten jungen Männer, die sich in aller Ruhe auf den Showdown vorbereitet hatten, in ihrer zweiten Heimat ein Blutbad anrichten sollen? Schließlich hat noch nie ein faschistisches Täterkollektiv, weder das einheimische noch ein ausländisches, seine Opfer unter erklärten Deutschen gesucht. Obwohl die Gefahr einer islamistischen Kriegserklärung vergleichbar der gegen Amerika nie bestand, wurde sie im linksbürgerlichen Feuilleton – etwa von Jürgen Todenhöfer in der SZ vom 29./30.12.01 – immer wieder beschworen. Allerdings nicht, um vor dem Islamismus zu warnen, sondern um ein ganz anderes Angstobjekt der Deutschen zu präsentieren. Routiniert griffen die deutschen Meinungsmacher auf die 20 Jahre alten Muster der Friedensbewegung zurück, verwickelten ihre Gedankengänge in Gewaltspiralen, verdrehten systematisch die Zusammenhänge und kamen über den Umweg der Gleichsetzung von Bush mit Bin Laden endlich auf ihren wahren Feind, der gerade zum Gegenschlag ausholte und deshalb als der eigentliche Angreifer ausgemacht wurde: Amerika.
In Reinkultur durfte diese verkehrte Logik aber nur von den Repräsentanten des ohnmächtigen Bürgers vertreten werden, die sich wochenlang als mediale deutsche Friedensbewegung aufbliesen. Als da wären: Moderatoren und Talkshow-Prominenz, die linksradikale, rechtsradikale und liberale Presse, die PDS, die kritischen Stimmen aus den Regierungsparteien und die hierzulande besonders widerwärtige Zunft der Islamwissenschaftler, das intellektuelle Gesindel mit einem Wort, das sich am nächsten Tag um sein Geschwätz von gestern nicht mehr zu kümmern braucht. Schon ein verbeamteter Pädagoge oder ein Nachrichtensprecher des Staatsfernsehens dagegen konnte nach einem unüberlegten Spruch in die Verlegenheit kommen, sich später selbst dementieren oder den Hut nehmen zu müssen. Auch die Repräsentanten der bürgerlichen Macht, die Regierung und die staatstragenden Parteien mußten vorsichtiger sein als sonst. Sie, die nicht nur ihr Privatinteresse, sondern Deutschland vertreten mußten darauf achten, nicht allzu früh die deutsche Sau raus zu lassen. Denn zunächst erschien es keineswegs opportun, sich mit „der einzigen Weltmacht“ offen anzulegen.
Der deutsche Außenminister hatte seine Kritik an den amerikanischen Kriegsvorbereitungen deshalb unmittelbar nach dem 11. September in Unterstellungen gekleidet. Angesichts der aus Washington angekündigten Vergeltungsschläge warnte er im Namen Deutschlands, „wir sollten einen Krieg der Zivilisationen nicht zulassen“. Die zu Grunde liegenden Konflikte dürften nicht weiter verschärft werden, damit die Instabilität in der Region nicht weiter zunehme. So geht sie also, die Gewaltspirale: Faschisten greifen an, ihre Sympathisanten in aller Welt, fallen sich vor Freude um den Hals, aber die Ermahnung, er solle sein Blut nicht in Wallung bringen und nicht „unüberlegt“ handeln (1) ergeht an Rambo. Auch die FAZ schreckte zunächst davor zurück, im Leitartikel Verurteilung und Isolierung der USA zu empfehlen, wie noch im Sommer, als es um Klimapolitik ging. Wie gut ist es doch in Zeiten, in denen es nicht ratsam ist, die eigene Meinung offen auszusprechen, dass es einen Ort des freien Diskurses gibt, das FAZ-Feuilleton.
Dort durfte Susan Sontag stellvertretend den Angriff auf Amerika mit dem antiimperialistischen Argument rechtfertigen, dieser habe sich nicht gegen die Zivilisation, sondern gegen „die einzige selbsternannte Supermacht der Welt“ gerichtet und sei „als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen“ worden. Das seien die wahren Gründe, weshalb „Amerika sich nun im Krieg befindet“. (2)
Nicht nur in der FAZ versteckte man sich wochenlang hinter frechen Andeutungen und den Produkten fremder Federn, um die im Lande längst verbreitete Überzeugung zu bedienen, die Amerikaner hätten weder einen Grund noch das Recht zur Selbstverteidigung, sondern folgten bloß ihrem Hang zur Kanonenboot-Politik. Man traute Bush allenthalben zu, daß er die Menschheit geradewegs in einen dritten Weltkrieg treiben wolle, und Fischers Appell zu Besonnenheit an den amerikanischen Präsidenten diente allein dazu, die Berechtigung der german angst vor dem Weltkrieg amtlich zu bekräftigen. Jedermann in Deutschland hatte die Botschaft verstanden: George W. Bush ist mehr zu fürchten als Osama bin Laden. Diese Stimmung bildete fortan das unumstößliche ideologische Fundament der Fischerschen Afghanistan-Diplomatie.
Als Washington noch seine Armee zum Gegenschlag in Stellung brachte, arbeitete Berlin schon an den Plänen für ein Nachkriegs-Afghanistan. In aller Eile wurde für den 27. September die Afghanistan Support Group, die von den 15 gewichtigsten Geberländern Afghanistans gebildet wird und deren Vorsitz bis zum Jahresende von Deutschland geführt wurde, zu einer Sondersitzung nach Berlin zusammengetrommelt. Auf der Tagesordnung stand die Vorbereitung einer Geber-Konferenz, die am 5. Dezember in Berlin stattfinden sollte. Fischer, der die Sitzung eröffnete, nutzte auch diese Gelegenheit, um seinen Warnungen vor der skrupellosen amerikanischen Außenpolitik weitere hinzuzufügen. Mit den amerikanischen Kriegsvorbereitungen kündige sich bereits neues Elend an. Die Afghanen, die vor dem kommenden Krieg flüchteten, seien die lebendigen Zeugen dafür, daß die „zerstörende Kraft“ des 11. September fortwirke und „mittlerweile auch Millionen unschuldiger Menschen in Afghanistan“ träfe. (3) Zu dieser Zeit war noch keine Bombe gefallen und trotzdem waren große Teile der Bevölkerung auf der Flucht – vor dem Hunger. Später wurde dasselbe Argument der neuen militärischen Lage angepaßt und die Flüchtlinge durch andere Zivilisten ausgetauscht, die unter den als wahllos hingestellten Flächenbombardements und Splitterbomben der Amerikaner zu deren Opfern geworden wären. Die Forderung nach dem Ende der Bombardierungen, den die Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, von ihrer Reise zum Kriegsschauplatz noch im Oktober mit nach Hause brachte, lag ganz auf dieser Linie. Nach der deutschen Ideologie geht Amerika bei der Durchsetzung seiner egoistischen Interessen über Leichen, während Deutschland nur für den Frieden und die Menschenrechte in den Krieg zieht: „Wir werden die Menschen Afghanistans in ihrem Hunger und ihrer Not nicht allein lassen.“ (4)
Gerhard Schröder setzte scheinbar ganz andere Akzente. In seiner Regierungserklärung nach Kriegsbeginn bezeichnete er die „gezielten Militärschläge“ gleich im ersten Satz als „Teil der notwendigen Antwort auf die terroristischen Anschläge von New York und Washington“, die deshalb „unsere uneingeschränkte Solidarität“ verdienten. (5) Nicht der leiseste antiamerikanische Unterton war aus dieser Rede herauszuhören. Dahinter steckte keine Meinungsverschiedenheit zwischen Kanzler und Außenminister, sondern Arbeitsteilung. Deutsche Außenpolitik, die doch die Ambitionen einer Weltmacht durchsetzen soll, verfügt nicht über das dazu notwendige militärische Rüstzeug. Noch nicht. Der scheinbare Gegensatz zwischen Schröder und Fischer reduzierte sich bei näherer Betrachtung auf den unterschiedlichen Zeithorizont, den sie jeweils vor Augen hatten. Während Fischers unterschwelliger Antiamerikanismus die ideologische Duftmarke beim Ausloten von aktuellen außenpolitischen Optionen war, die Deutschlands zum Frieden mahnende Stimme in der Welt Gehör verschaffen sollte, widmete sich Schröder bereits den Bedingungen für robustes, also militärisches friedenspolitisches Auftreten, die es erst zu schaffen gelte. Dafür, daß Deutschland in der aktuellen Situation seine Präsenz zeigen müsse, gäbe es Gründe, „die mit der Positionierung Deutschlands in der Zukunft zu tun haben. Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen.“ (6)
Deutschland will längst engagiert Krieg führen, aber eben die Kriege einer Friedensmacht, für die es eigene weltweit einsetzbare militärische Strukturen erst aufbaut. Keinesfalls mochte Deutschland sich im konkreten Fall einem von Amerika geführten Krieg anschließen, einem Krieg, dessen Ziele es weder selbst bestimmen konnte noch teilte. Auch nach Schröders folgenloser Solidaritätserklärung blieb es bei der beharrlichen Ausarbeitung einer deutschen Alternative zum amerikanischen Feldzug, und die konnte erst nach dem Krieg Realität werden: der Wiederaufbau und die Neuordnung Afghanistans, wofür Fischer in der Afghanistan Support Group frühzeitig den Weg geebnet hatte. Noch bevor die ersten amerikanischen Bomber am 7. Oktober ihre Ziele in Afghanistan gefunden hatten, hatte das Auswärtige Amt schon seine Pläne für ein Post-Taliban- Regime in der Tasche. Die Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung in außenpolitischen Angelegenheiten berät, veröffentlichte am 5. Oktober einen Stufenplan zur Befriedung Afghanistans, der den Sturz der Taliban und die Eliminierung von Al Qaida zwar voraussetzte, sich aber dezidiert von der Kriegsstrategie Amerikas distanzierte.
Fischers Berater störte an der Kriegsplanung der Amerikaner vor allem der sich anbahnende enge Schulterschluß mit der Nordallianz, der ihre eigenen Vorstellungen von einer auf die Paschtunen-Stämme des Südens gestützten Nachkriegsordnung in Afghanistan Schlag um Schlag zunichte machen würde. Die Paschtunen stehen, eigentlich unnötig, es eigens zu betonen, für eine radikalere, vom fundamentalistischen Pakistan stark beeinflußte islamistische Option als die heterogene Nordallianz. Zwei Tage vor Beginn der amerikanischen Luftangriffe schrieb die Stiftung: „Ob ein begrenztes militärisches Eingreifen Washingtons den Zerfallsprozeß der Taliban beschleunigen oder - im Hinblick auf den anschließenden politischen Prozeß - sogar kontraproduktiv wirken kann, hängt von dem Zeitpunkt der Militärschläge ab. Konstruktiv sind sie dann, wenn sie erst unmittelbar nach dem Aufstand im paschtunischen Siedlungsgebiet erfolgen. Würden sie dagegen in einer früheren Phase durchgeführt, in der sie lediglich das Vordringen der Nordallianz beschleunigen, könnten sie das tiefsitzende Mißtrauen der paschtunischen Stämme wecken. Dann würde sich der Verdacht unter den Paschtunen, die ca. 40 Prozent der Bevölkerung stellen, verdichten, daß es diesmal die USA sind, die in Gestalt der Nordallianz ein neuerliches ‚Marionettenregime‘ einsetzen will.“
Gegen die Stärkung der Nordallianz und vor allem gegen eine führende politische Rolle dieses Bündnisses nach dem Krieg spräche vor allem ihre „ethnische Zusammensetzung“, repräsentiere sie doch hauptsächlich die afghanischen Minderheiten im Norden des Landes (Tadschiken, Usbeken, Hazaren) und nicht den zahlenmäßig gewichtigsten Volksstamm der Paschtunen im Süden. Die amerikanischen Militärschläge sollten deshalb möglichst gering dosiert und ausschließlich gegen die Kommandozentralen der Taliban und Osama bin Ladens gerichtet sein. Die Nordallianz sollte die Taliban lediglich aus Nordafghanistan verdrängen, während der eigentliche Sturz des Taliban-Regimes das Werk der paschtunischen „Stammesältesten“ im Süden Afghanistans sein sollte, die „im Geheimen einen offenen Aufstand gegen die Taliban vorbereiten, der entweder dezentral an mehreren Orten oder regional übergreifend ausbricht (...) Nach meiner Lagebeurteilung reichen diese Maßnahmen – auch ohne US-Militärschläge – bereits aus, um in kurzer Zeit das Taliban-Regime hinwegzufegen.“ (7)
Wären diese Gedankenspiele umgesetzt worden, hätte dies die Trennung des Nordens vom Süden, die Teilung des Landes entlang einer ethnischen Grenzziehung befördert und damit die Balkanisierung Afghanistans und der gesamten Region. Einem Paschtunen-Aufstand im Südosten Afghanistans hätten sich womöglich die Paschtunen-Stämme im Südwesten Pakistans angeschlossen, um für ein dort bereits populäres „Groß-Paschtunistan“ (8) zu kämpfen. Damit wäre, ähnlich wie die Albaner in Kosovo es vorgeführt haben, ein Ethno-Terror losgetreten worden, der die religiös vertieften ethnopolitischen Spannungen weiter in die benachbarten Staaten getragen hätte, anstatt gerade das zu verhindern. Die Amerikaner verfuhren bekanntlich genau umgekehrt, warteten einen Aufstand gegen die Taliban nicht ab, sondern brachten ihn durch den Druck ihrer Militärschläge erst zustande. Die von den Taliban abtrünnigen Paschtunen-Führer ließen sie erst gewähren, als der auf die Nordallianz gestützte Krieg so gut wie gewonnen war und Amerika selbst das Heft fest in der Hand hielt.
Daß die Amerikaner den Krieg so führen würden wie sie es für richtig hielten, war klar, nicht aber der Erfolg ihrer Strategie. Die Kritik aus Berlin konnte die Amerikaner nicht von dem abzuhalten, was sie vorhatten. Man scheint stattdessen darauf spekuliert zu haben, daß es Schwierigkeiten geben würde, die man dann für sich hätte politisch ausschlachten können – seht ihr, wir haben es ja schon immer gesagt. Daraus wurde bekanntlich nichts, und das Auswärtige Amt verlegte sich ganz auf die Durchsetzung einer deutschen Führungsrolle in der zweiten Phase nach dem Krieg „im nicht-militärischen Bereich“ (9) , aber unter Beteiligung der Bundeswehr. Schröder machte diesen Unterschied noch einmal in seiner Rede zur Vertrauensabstimmung über den deutschen Beitrag für die Anti-Terror-Koalition deutlich. Es sei nie um einen Bundeswehreinsatz im Krieg gegen Taliban und Al Qaida gegangen, der zu dieser Zeit, nach der Eroberung Masar i Sharifs und Kabuls, schon faktisch entschieden war. Dieser Krieg sei auch nur ein „Etappenziel“ im Kampf gegen den Terrorismus, die Entscheidung für einen Bundeswehreinsatz aber sei eine „Zäsur“ für die deutsche Außenpolitik insgesamt: „Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. Wir müssen erkennen: Nach den epochalen Veränderungen seit dem Herbst 1989 hat Deutschland seine volle Souveränität zurückgewonnen.“ (10) Der deutsche Militäreinsatz in Afghanistan bekam damit die symbolische Bedeutung, Deutschlands Willen zum Handeln zu demonstrieren, einen Willen, der sich erst in der Zukunft mit eigenen kriegerischen Mitteln und gegen frei gewählte Ziele voll entfalten würde. In der Gegenwart, in der Deutschland nur eine „Weltmacht im Wartestand“ (11) ist, reicht seine Macht gerade dafür, sich den Völkern der Welt, darunter besonders den muslimischen, als künftige Alternative zur Kriegsmacht Amerika anzudienen.
Die deutsche Afghanistan-Diplomatie sollte erst am 27. November, kurz vor der Eroberung des Taliban-Stützpunkts Kandahar, ihren ersten spektakulären Auftritt haben. Für diesen Tag hatten die Vereinten Nationen eine Afghanistan-Delegation zu einer Konferenz auf den Petersberg bei Bonn eingeladen, um eine Übergangsregierung für das Nachkriegs-Afghanistan einzusetzen. Schon diese Konferenz ausgerichtet zu haben bestätigte, wie eine Pressemitteilung des Auswärtigen Amts verlautbarte, „die unparteiische Rolle Deutschlands gegenüber allen Beteiligten“ (12) . Als selbstloser Moderator und Freund aller unterdrückten Völker soll sich die deutsche Weltmacht mehr als alles andere vom eigennützigen Amerika unterscheiden, eine Rolle, die man in Jugoslawien mit Erfolg und zum größten eigenen Nutzen gespielt hatte und die Fischer auch im Mittleren Osten gerne einnehmen möchte.
Neben der Zusammensetzung einer Übergangsregierung in Kabul war die Entscheidung über einen von den Vereinten Nationen legitimierten Militäreinsatz in Afghanistan das wichtigste Streitthema auf der Petersberg-Konferenz. Für die Führung eines solchen Militäreinsatzes, konstatierte die Stiftung Wissenschaft und Politik schon in ihren Vorplanungen, komme Amerika nicht in Frage, da dafür nötig sei, „was nicht gerade seine Stärke ist: Fingerspitzengefühl.“ (13) In Wirklichkeit richtete sich das deutsche Mißtrauen mehr gegen die amerikanische Unterstützung der Nordallianz, die sich ursprünglich gegen die Petersberg Konferenz gesträubt und noch während der Konferenz die Notwendigkeit eines weiteren, friedenssichernden Militäreinsatzes in Frage gestellt hatte. Das konnte kaum überraschen, denn sowohl die Petersberg-Konferenz wie der geplante Militäreinsatz für den Frieden hatten letztlich nur den Sinn, die Nordallianz zur Teilung der Macht zu zwingen, die sie dank direkter amerikanischer und indirekter russischer Waffenhilfe auf dem Schlachtfeld erkämpft hatte. Weil die Kämpfe in Afghanistan Ende November noch andauerten, drängte Deutschland auf den sofortigen Beginn des Militäreinsatzes, um doch noch Einfluß auf die dortige Machtverteilung zu gewinnen und weitere Eroberungen der Nordallianz und ihre Etablierung auch in den Paschtunen-Gebieten zu verhindern: „Ein Friedenseinsatz muß deswegen schnell auf die Beine gebracht werden. Die Vorstellung von einem afghanischen Friedensprozess, der aus sich heraus stabil bleibt, ist eine Illusion. Es sind nicht zufällig Gruppierungen der Nord-Allianz, die diese These immer wieder vertreten. Natürlich, dann können sie besser ihr eigenes Süppchen kochen“; gerade das aber müsse durch eine „unparteiische Friedenstruppe“ verhindert werden. (14)
Auf dem Petersberg wurde das Mandat für einen Afghanistan-Einsatz zwar vergeben, aber kaum war das geschafft, begann das Ringen darum, mit welchen Inhalten dieses Mandat mit Inhalt ausgefüllt werden sollte. Die Amerikaner wollten das Einsatzgebiet vorerst auf Kabul beschränkt wissen, um sich in dem noch andauernden Krieg um Kandahar und Tora Bora von anderen Staaten, die wie Deutschland in der Rolle des Quertreibers auftreten würden, nicht behindern zu lassen. Ein „gefährliches Spiel“ in den Augen von Fischers Beratern, die für einen umfassenden Militäreinsatz plädierten, einschließlich der Kontrolle der wichtigsten Städte und Verkehrsverbindungen im ganzen Land plus Grenzkontrollen und der Abwehr „von unguten Einflüssen einiger Nachbarstaaten und von feindlichen Aktionen von Warlords wie General Rashid Dostum oder Ismail Khan.“ (15) Dem Auswärtigen Amt schwebte anscheinend ein regelrechtes Besatzungssystem vor, das alle innen- und außenpolitischen Angelegenheiten des Staates Afghanistan an sich reißen sollte, um die Nordallianz von der Macht fern zu halten. „Ein exekutives Mandat durch die UNO – die vorübergehende Übertragung von Regierungs- und Verwaltungsaufgaben an die internationale Gemeinschaft – (ist) der einzig gangbare Weg.“ Entsprechend des umfänglichen Mandats wurde auch die Größenordnung des „größten Friedenseinsatzes aller Zeiten“ kalkuliert: „Die politisch durchsetzbare Größenordnung liegt wohl zwischen 50.000 und 100.000“ (16) Soldaten, und man wußte, daß eigentlich eine noch größere Armee nötig gewesen wäre.
Doch auch diese Rechnung hatten die Strategen des Auswärtigen Amts ohne den Wirt gemacht. Trotz wochenlanger Auseinandersetzungen und mehrmaliger Verschiebung der Entscheidung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, trotz des offenen Streits, den die deutsche Regierung zwar nicht direkt mit den Amerikanern, aber mit den Briten suchte, fiel das Berliner Konzept durch.
Die feierliche Wiedereröffnung der „Brücke der Freundschaft“ über den Amu Darya an der Grenze zwischen Afghanistan und Usbekistan, die Colin Powell zusammen mit dem usbekischen Präsidenten Islam Karimov Anfang Dezember vornahm, demonstrierte eindrucksvoll, welcher haltlosen Sicht auf die Wirklichkeit in Afghanistan sich das deutsche Insistieren auf einem überdimensionierten Militäreinsatz verdankte. Dieser Grenzübergang war 1996, nachdem die Taliban Mazar i Sharif und Kabul erobert und sich im Norden Afghanistans festgesetzt hatten, geschlossen worden, weil seither islamistische Terrorkommandos von hier aus ihre Angriffe gegen die ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und des Kaukasus starteten. Rußland hatte die jetzt unabhängigen zentralasiatischen Staaten bei der Sicherung ihrer Grenzen militärisch unterstützt, nicht zuletzt, weil auch tschetschenische Gotteskrieger unter den afghanischen Terrorkommandos waren.
In umgekehrter Richtung kamen seit dem 11. September umfangreiche russische Waffenlieferungen für die Nordallianz über die selbe Grenze, darunter jene modernisierten T-55 Panzer, die ein „Schlüssel für jede erfolgreiche Bodenoffensive in Afghanistan in diesem Jahr“ (17) waren. Die Wiedereröffnung der „Brücke der Freundschaft“ am 9. Dezember begann mit einer Feier in der usbekischen Grenzstadt Termez, in der während des Krieges ein amerikanischer Militärstützpunkt eingerichtet worden war. Nach der Feierlichkeit startete ein Zug mit 15 Waggons Hilfsgütern des UN World Food Program in Termez und fuhr über die Brücke weiter in Richtung Masar i Sharif. Der Transport wurde zuerst von usbekischen Streitkräften und auf afghanischer Seite von den Truppen Abdul Rashid Dostums gesichert, der in den achtziger Jahren auf der Seite der pro-sowjetischen Regierung Najibullahs gekämpft hatte und dem Auswärtigen Amt als das jetzt Schreckgespenst gilt, das durch einen gigantischen Militäreinsatz in Schach gehalten werden müsse. Die Symbolik der Veranstaltung widersprach also der durchsichtigen Berliner Panikmache vom wilden Afghanistan. Unterstrichen wurde nicht nur die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Amerika, Rußland, Usbekistan und der Nordallianz, speziell mit dem Eroberer Masar i Sharifs, Dostum, während des Krieges, sondern auch die Nützlichkeit dieser Allianz für die Nachkriegszeit.
Dostum hatte das Petersberg-Abkommen vom 5. Dezember kritisiert, weil seiner Partei nur ein untergeordnetes Ministerium in der Übergangsregierung zugestanden worden war. Als er aber am 24. Dezember überraschend zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt wurde, bezeichnete er seine Ernennung als den ersten Schritt zum Aufbau einer afghanischen Armee. Die Nordallianz wurde durch diesen Schritt politisch gestärkt, als Garant der inneren Sicherheit in den von ihr besetzten Städten und Gebieten und sogar als potentielle nationale Macht mit der Kontrolle über Polizei und Armee in ganz Afghanistan. Es war ein weiterer Schritt in Richtung Stärkung der nationalen Souveränität Afghanistans und gegen die völkische Parzellierung des Landes unter UN-Regie.
Die amerikanische Regierung bestand darauf, daß nur eine kleine Zahl, keinesfalls mehr als 5000 Soldaten in Kabul stationiert würden, deren Aufgaben sich zeitlich und sachlich auf den Schutz der dortigen Übergangsregierung zu beschränken hätten. Der amerikanische Sonderbotschafter für Afghanistan, James Dobbins, erklärte gar, die ganze Angelegenheit sei eher „eine Frage der Symbolik“. (18) Angesichts der sich abzeichnenden diplomatischen Schlappe für Deutschland läutete die FAZ schon den Rückzug ein und ermunterte die Bundesregierung zu einer konsequenten Verweigerungshaltung: „Insofern ist die Frage berechtigt, ob die Bundeswehr, deren Einsatz der Kanzler in Aussicht gestellt hat, irgend etwas in einem Land verloren hat, das Tausende Kilometer vom Herzen Europas entfernt ist und mit dem Deutschland – jenseits alter kultureller Verbindungen – keine unmittelbaren strategischen, politischen oder wirtschaftlichen Interessen verbinden.“ (19)
Derweil hatte sich der britische General John McColl, der die Kabul-Truppe befehligen sollte, bereits vor Ort mit der Nordallianz über die Einzelheiten des Militäreinsatzes verständigt und für die weiteren Vorbereitungen eine Planungsgruppe zusammengestellt. Zu diesem Team zählten, wie McColl der Presse mitteilte, Vertreter Frankreichs, Italiens und Kanadas – von Deutschland war keine Rede. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte immer noch keine Entscheidung getroffen. Jetzt ging es um die Kommandostruktur des Militäreinsatzes und das Verhältnis zwischen den in Kabul zu stationierenden Truppen und den amerikanischen Streitkräften, die noch immer in Kämpfe mit den verbliebenen oder flüchtenden Gruppen von Taliban und Al Qaida verwickelt waren. Deutschland hatte das Ansinnen, den großen Kabul-Einsatz für den Wiederaufbau anzuführen, schon fallen gelassen und kämpfte jetzt darum, nicht doch noch mit dem Krieg der Amerikaner identifiziert zu werden. Vor einem solchen Makel sollte der bevorstehende Bundeswehreinsatz bewahrt werden: „Beide Operationen sollten - auch im Hinblick auf eine spätere Blauhelm-Truppe - klar voneinander getrennt geführt werden. Je früher dazu ein Beschluß vorliegt, desto besser“. (20)
Am 19. Dezember flogen zum ersten Mal französische und italienische Kampfflugzeuge über Afghanistan einen Einsatz zusammen mit der amerikanischen Luftwaffe. Dabei wurden keine Bomben abgeworfen, denn es handelte sich abermals um eine symbolische Aktion, die die Stärke der Anti-Terror-Koalition demonstrieren sollte, einer Koalition, in der Deutschland als einzige größere europäische Macht seinen militärischen Beitrag noch nicht geleistet hatte.
Am 20. Dezember wurde die Entscheidung des Sicherheitsrats über den Kabul-Einsatz bekannt, die den deutschen Vorstellungen in fast allen Punkten widersprach: Stationierung von maximal 5.000 leicht bewaffneten Soldaten einer multinationalen Truppe für sechs Monate, davon drei unter britischem Befehl, zum Schutz der Übergangsregierung in Kabul. Die Vereinbarung stellte nicht nur durch den britischen Oberbefehl sicher, daß der Kabul-Einsatz eng mit den schon in Afghanistan kämpfenden amerikanischen und britischen Militäreinheiten abgestimmt werden würde, sondern übertrug den amerikanischen Streitkräften auch formal die Obhut über die so genannte International Security Assistance Force (ISAF), die zeitgleich zur Amtseinführung der Übergangsregierung am 22. Dezember in Kabul eintreffen sollte. Die amerikanischen Streitkräfte sollten für die militärische Sicherheit in Afghanistan insgesamt verantwortlich bleiben und im Notfall zum Schutz der ISAF-Einheiten bereitstehen, sie unterstützen und mit ihnen alle ihren begrenzten Einsatz in Kabul betreffenden Angelegenheiten besprechen. Aus der von Deutschland gewünschten Trennung zwischen den amerikanischen Streitkräften und der ISAF wurde durch Beschluß des Sicherheitsrats die völlige Unterordnung des ISAF-Kommandos unter die amerikanischen Streitkräfte. Aber Berlin wollte sich mit dieser Entscheidung noch nicht abfinden. Verteidigungsminister Rudolf Scharping bestand weiter darauf, daß der Krieg, den die Amerikaner in Afghanistan führten, klar von dem ISAF-Einsatz getrennt sein müsse und der SPD-Fraktionsvorsitzende Struck brachte die deutschen Bedenken auf den Punkt: „Wir wollen nicht, daß deutsche Soldaten unter das Kommando der Amerikaner kommen.“ (21)
Anläßlich der Entscheidungen von Bundeskabinett und Bundestag über die Entsendung des deutschen ISAF-Kontingents am 21. und 22. Dezember wiederholte die FAZ ihren Rat an die Bundesregierung, sich zurückzuhalten. Die neue Lage „würde es rechtfertigen, wenn die Entscheidung über die eigene Teilnahme zumindest so lange verschoben würde, bis alles klar geworden ist.“ (22) Erst im Januar kamen die ersten deutscher Soldaten in Kabul an und es waren nicht die ersten von 1.300, wie ursprünglich angekündigt, sondern von 770 Soldaten. Soviel ist zum Jahreswechsel von der angeblich so „bedingungslosen“ deutschen Solidarität mit Amerika übrig geblieben.
Thomas Becker (Bahamas 37 / 2002)
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