Der Internationale Strafgerichtshof ist gegenwärtig der letzte Schrei der mittlerweile global vernetzten Weltverbesserer, von Amnesty International und PLO über die Vereinten Nationen und die Europäische Union bis zum Auswärtigen Amt in Berlin. Die Menschenrechte, die diesmal der Welt verkündet werden sollen, klingen, den historischen Umständen entsprechend, lediglich noch negativer, noch hoffnungsloser und beängstigender als jene droits de l’homme der damals noch revolutionären Pariser Bourgeoisie, die Karl Marx bereits die Bürgerrechte „des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen“, das Recht „des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums“ in einer Welt „atomistischer, feindlich sich gegenüberstehender Individuen“ nannte.(1)
Der Mensch ist in der bürgerlichen Gesellschaft bekanntlich des Menschen Wolf, und es bedarf eines sozial domestizierten Menschenfressers, des staatlichen Leviathans, um das wölfische im modernen Menschen ins menschliche des gesellschaftlichen Wolfes zu transformieren, in die regelhafte Konkurrenz aller gegen alle, die es erlaubt, einzelne rechtmäßig zugrunde zu richten – ohne die Reproduktionsfähigkeit der Gemeinschaft der Konkurrierenden insgesamt zu gefährden. Der Leviathan frißt Menschen und scheidet Gesetze sowie die Mittel ihrer Durchsetzung aus. Die Lektüre der staatlichen Gesetzestexte oder/und das Einschreiten von Polizei und Justiz informiert die bürgerlichen Konkurrenzsubjekte über die jeweils aktuelle Nomenklatur unerwünschter, d. h. sanktionsfähiger Handlungen. Diese haben dann den Kraftakt der positiven Praktizierung des negativ Formulierten zu vollbringen, indem sie unter Vermeidung des Verbotenen dennoch Konkurrenzvorteile anstreben – für die meisten heißt das allerdings nicht mehr als das verbissene Ringen um den Erhalt der Möglichkeit, sich auch künftig produktiv nützlich machen zu dürfen – und sich so als rechtschaffene Staatsbürger eines modernen Rechtsstaates würdig zu erweisen. Indem sie danach streben, ihre kleinen oder großen Alltagsbestialitäten legal zu vollziehen, erlangen sie zumindest eine Statistenrolle in den staatlichen Realinszenierungen jener großen Balladen, die in der Weltliteratur der Völkerfamilie je nach Naturell und Mentalität der kollektiven Verfasser mal poetisch pursuit of happiness, mal prosaisch Chancengleichheit und auch mal gänzlich unabgehoben und nur der unmittelbaren Realität verpflichtet Jedem das Seine (Inschrift auf dem Eingang des KZ Buchenwald) heißen können.
Freilich bleiben auch Staatsbürger noch in den abgefeimtesten Momenten ihrer politischen Verklärung Menschen aus Fleisch und Blut, d. h. ihr materielles Bedürfnis nach Dingen, die ihnen fehlen oder nicht genügend zur Verfügung stehen, aber durchaus vorhanden sind, oder ihr Bedürfnis nach Dingen und Umständen, das erst auf einer bestimmten materiellen Grundlage befriedigt werden kann, macht sie – sofern sie ihr Bedürfnis ernster nehmen, als es ihnen die geltenden Gesetze erlauben – zu justiziablen Kriminellen. Und so wird, was für die frühbürgerlichen Staatsphilosophen der Hobbes’schen Ära aufgrund der erlebten Permanenz von Krieg und Bürgerkrieg als Empirie des homo homini lupus erschien, den spätbürgerlichen Subjekten zur negativen Ontologie: Das Böse ist immer und überall, der Mensch ist schlecht und bedarf der beständigen staatlichen Beaufsichtigung. Daß dieser Sichtweise zufolge auch die staatlichen Werke der schlechten Menschen zur Niederhaltung ihres eigenen Bösen nicht gerade gut sein können, wird geflissentlich in die äußersten Randzonen rechtsphilosophischer Grübeleien verdrängt. Indem das Böse des schlechten Menschen in den Strafgesetzbüchern in Form von Verboten katalogisiert wird, indem ergänzend zu dieser Auflistung gesellschaftlich unerwünschten Handelns eine Reihe von Vergeltungsmaßnahmen angedroht wird, gilt es als gebannt. Wer dennoch gegen Strafgesetze verstößt, handelt nach bürgerlichem Rechtsverständnis vorsätzlich, verletzt willentlich den das Böse einhegenden Bann und verfällt so der staatlichen Vergeltung. Die legale Quälerei, die dem Rechtsbrecher dann angetan wird, gilt als sozial nützlich, denn sie stellt den vom Delinquenten beschädigten Rechtsfrieden wieder her.
Anscheinend haben sich die Feindseligkeiten der Menschen untereinander und ebenso die Mittel und Verlaufsformen ihres Austragens in einer Weise fortentwickelt, daß es notwendig geworden ist, Straftaten einer Kategorie anzuerkennen, die in den Anfangszeiten der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts noch unbekannt, d. h. vor allem noch nicht juristisch definiert war: Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit. Doch anders als bei Mord, Betrug, Erpressung oder Kinderschänderei und Staatsverunglimpfung handelt es sich bei diesen Delikten um Taten, die nicht aus egoistischen Motiven der Konkurrenzsubjekte – wenngleich solche gelegentlich durchaus auch eine, wenn auch untergeordnete Rolle spielen dürften – begangen werden, sondern gevölkermordet wird in der Regel mit den besten Absichten: aus Liebe zu Volk und Nation, wenn nicht gleich zur gesamten Menschheit. Hitler war ja nicht nur Vegetarier, sondern ein grundehrlicher Mensch, der von der Richtigkeit seiner Wahnvorstellungen ebenso aufrichtig überzeugt war wie die Mehrheit seiner deutschen Untertanen. Pol Pot glaubte allen Ernstes mit der ganzen Inbrunst des linken Militanten, durch die massenmörderische Errichtung eines autonomen Agrarsozialismus den Fortschritt der kambodschanischen Nation und damit tendenziell der Menschheit voranzutreiben. Was übrigens auch seine Sympathisanten in der damaligen westdeutschen Linken, von denen heute nicht wenige zu den entschiedenen Befürwortern eines Internationalen Strafgerichtshofes gehören (2), ebenso ernsthaft glaubten. Als die USA während des Vietnam-Krieges zehntausende vietnamesische Zivilisten durch Flächenbombardements und Massaker am Boden umbrachten, geschah dies in der aufrichtigen Überzeugung, damit nicht nur die Sache der westlichen Demokratie voranzubringen, sondern auch der Welt insgesamt einen Dienst zu erweisen. Westdeutsche Politiker, zu deren politischen Erben die meisten der heutigen Anhänger einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zählen, zeigten sich seinerzeit öffentlich davon überzeugt, daß durch die amerikanische Kriegsführung damals hoch im Kurs stehende politische Werte wie die „Freiheit Berlins“ verteidigt würden. Ob das deutsche Kriegstrio Schröder-Fischer-Scharping 1999 wirklich davon überzeugt war, mit dem Überfall auf Jugoslawien ein „zweites Auschwitz“ zu verhindern, ist eher unwahrscheinlich, dennoch zeigt die erfolgreiche und weitgehend unwidersprochene Verwendung von Auschwitz als rhetorischer Figur innerhalb politischer Demagogie auch hier, daß es altruistischer Motive bedarf, um Verbrechen jener Dimension zu begehen und zu unterstützen, die das Prädikat „Kriegsverbrechen“ oder „gegen die Menschheit“ verdienen.
Für Naseweise und Schlaumeier sei folgendes bemerkt: Hier wird nicht Unvergleichliches verglichen, gleichgesetzt oder relativiert, hier wird nur auf der Banalität beharrt, daß, wer die Welt retten will, sich nicht von solchen Kleinigkeiten wie Menschenleben aufhalten lassen wird und kann. Die Rettung der Welt aber war das Anliegen bürgerlicher Staatlichkeit von Anbeginn. Das Bürgertum hatte sich in seiner revolutionär-heroischen Epoche als universelle Klasse definiert, als Avantgarde der Menschheit schlechthin: einer Menschheit, die in den Dokumenten der bürgerlichen Revolutionen als eine von Gott oder der Natur gestiftete Versammlung freier und gleicher Individuen beschrieben wird. Die bürgerlichen Subjekte sind frei im Warentausch und gleich vor der staatlichen Gewalt. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Der Tausch kann nur insofern ein freier sein, als der Staat mit seiner unmittelbaren Gewalt die Tauschenden als Gleiche setzt, d. h. sie dazu zwingt, sich wechselseitig als Eigentümer anzuerkennen. Diese erzwungene Anerkennung ist die Grundlage des Ideologems Menschenwürde. Indem der Staat durch sein Gewaltmonopol erzwingt, daß die Tauschenden den gesellschaftlichen Reichtum als Konglomerat von Werten mit Eigentumsrechten anerkennen und durch seine gesetzlichen Ausführungsvorschriften die Verlaufsformen von Produktion, Tausch und Verwertung bestimmt, wird er zum Souverän eines Gemeinwohls, damit auch eines Modells vorgestellter sozialer Harmonie, das für seine Anhänger Weltgeltung beanspruchen kann.
Die Souveränität eines Staates findet aber ihre Grenzen an der Souveränität anderer Staaten mit ihrem eigenen Gemeinwohl, ihrem eigenen Modell harmonisierender Weltbeglückung. Die Staaten zwingen sich daher vermittels ihres Militärpotentials zu gegenseitiger Anerkennung, sofern sie dieses Potential nicht zur Infragestellung der Souveränität anderer für ihre Zwecke sinnvoller einzusetzen vermögen. Aus einer solchen Situation entspringt dann Völkerrecht. Im internationalen Rahmen kann so etwas wie ein im nationalen Rahmen herrschender Rechtsfrieden daher immer nur partiell und temporär durch die vor allem militärisch begründete Dominanz von Großmächten gelingen. So wie die nationale Gemeinschaft der Konkurrierenden letztlich ihren Grund in nichts anderem als der jederzeit unmittelbar wirksam werden könnenden Staatsgewalt findet, müsste zur Schaffung eines international tatsächlich gültigen Rechts eine „Supermacht“ auftreten, der es gelänge, dauerhaft ein wahrhaft globales „Empire“ zu errichten. Dies aber ist schlechterdings unmöglich, denn wie gerade in den letzten anderthalb Jahrzehnten die Verfallsprozesse von Großmächten und Staatenblöcken gezeigt haben, bergen gerade solche Formationen auf der Basis von eingeschränktem oder niedergehaltenem Konkurrenzstreben notwendig die Keime des Verfalls. Und auch für internationale Verträge, Ausdruck des wechselseitigen Anerkennens der Staaten, trifft die banale Allerweltsweisheit zu, daß sie so lange bestehen, bis sie gebrochen werden (können). Denn die Instanz, die auf nationaler Ebene das pacta sunt servanda garantiert, wäre hier unsinnig, weil solche Verträge schließlich von Partnern geschlossen werden, die ihrerseits Souveräne sind und Verträge daher mit einer qualitativ anderen Interessenlage eingehen als sie der nationalen Staatssouveränität unterworfene Subjekte jemals entwickeln könnten.
Die Vorstellung einer „Weltgemeinschaft“ der Staaten, die sich als solche quasi parlamenthaft organisiert und von allen Beteiligten anerkannte und für alle Beteiligten verbindliche Richtlinien setzt, kann insofern nichts anderes als eine ideologische Illusion sein. Das Ansinnen, internationale Gewaltverbände aufzustellen – „Friedenstruppen“ etc. –, um die Beschlüsse einer solchen Gemeinschaft durchzusetzen und Übertretungen zu bestrafen, ist in einer Welt der konkurrierenden Nationalstaaten und Staatenblöcke nicht anderes als Ausdruck des Wunsches, die internationale Szene nach den Erfordernissen der eigenen Interessenlage umzugestalten. Insofern ist die Entwicklung eines internationalen Strafrechts das staatliche Ansinnen, als Sieger über andere Staaten bzw. über unbotmäßiges Personal anderer Staaten zu Gericht zu sitzen. Internationales Strafrecht ist also Kampfrecht.
Auch die alliierten Gerichte, die über die deutschen Verbrechen nach dem 2. Weltkrieg urteilten, waren Institutionen eines solchen Kampfrechtes. Daß sie dennoch in jener historischen Situation das Richtige taten, ist vor allem Ausdruck der Komplizenschaft der Mehrheit der Deutschen an den Taten des Nationalsozialismus, einer Mehrheit, die ebenso unfähig wie unwillig war, ihre Führung zu verurteilen, hätte sie doch selbst auf die Anklagebank gehört. Die Einrichtung dieser Gerichte war – außer der Schlußfolgerung aus dem Eindruck des realen Grauens, das auch hartgesottene imperialistische Strategen angesichts der deutschen Greuel überkommen haben dürfte – vor allem wohl eine Kompensation dessen, was unter dem Begriff „Appeasement“ in die Geschichte eingegangen ist. Schließlich mußten die späteren Siegermächte zum Kampf gegen Nazi-Deutschland zunächst durch dieses massiv genötigt, mußten also wie der sprichwörtliche Hund zum Jagen getragen werden. Solange Deutschland nicht unmittelbar ihre Souveränität in Frage stellte, war die NS-Herrschaft westlichen Demokraten wie sowjetischen Bürokraten die unsympathischste nicht. Und auch die Arbeit der Gerichte wurde wieder beendet, als die Interessenlage der Siegermächte sich änderte, als die Karten im internationalen Spiel nach Beginn des Kalten Krieges neu verteilt waren und sowohl die USA wie die UdSSR ihre jeweils eigenen Deutschen für eigene Zwecke in Dienst nahmen.
Die alliierten Kriegsverbrechertribunale waren nachträglich errichtete und für den Einzelfall improvisierte Institutionen, die damit neben den oben genannten Gründen auch zum Ausdruck brachten, daß die historische Dimension der Vernichtung damals noch nicht begriffen und daher als Ausnahme von der Regel betrachtet werden konnte. Der seit dem 1. Juli 2002 amtierende Internationale Strafgerichtshof korrigiert dieses Bild dahingehend, daß er als dauerhafte Einrichtung das dauerhafte Vorkommen solcher Verbrechen voraussetzt, die zu verurteilen sein Zweck ist. Zugleich muß er – wie jedes Gericht eines Nationalstaates, das über kriminelle Bürger zu urteilen hat – die Gesetzmäßigkeit der Verbrechen, die unter seine Zuständigkeit fallen, ihre Notwendigkeit bestreiten; es muß auf der Vorsätzlichkeit des Gesetzesbruches beharren und darauf bestehen, daß die zu verurteilenden Taten Ausnahmen von der Regel unterstellter internationaler Rechtschaffenheit darstellen.
Gleich der erste Satz des am 17. Juli 1998 von einer Konferenz der Vereinten Nationen in Rom verabschiedeten Statuts, das die Arbeit und Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs definiert, beschwört deshalb die „common bonds“, die alle Menschen vereinigten, ein – so wörtlich – „zartes Mosaik“ gemeinsamer kultureller Erbschaft, um das man sich allerdings Sorgen mache.(3) Diese Prosa erinnert nicht zufällig an die kitschige Phrase von der „Solidarität“ als der „Zärtlichkeit der Völker“, die antiimperialistische Linke in den 80er Jahren formulierten. Weil von keinem Vertreter der beteiligten Staaten eine solche Begründung angefochten wurde, erweist sich der Zweck des Gerichts als ein ideologischer: Es werden Schuldige gesucht. Dadurch wird der Internationale Strafgerichtshof notwendig zum Instrument internationaler Machtpolitik; er befriedigt und ermuntert das Strafbedürfnis der zu kurz gekommenen Staaten und Staatsgründungsprojekte und mobilisiert deren selbsternannte Anwälte und Schutzmächte: Auf der Anklagebank sitzen Juden und Amerikaner.
Woraus begründet sich diese Renaissance der „Zärtlichkeit der Völker“ nach dem Ende des Antiimperialismus als einem der Linken? Offenbar in der die Völker vereinigenden Gemeinsamkeit ihrer Unterdrückung, in ihrer Leidensgeschichte. Und wer sind ihre Feinde, die Schuldigen, die bestraft werden müssen? Noch ist kein Richter gewählt, der Posten des Chefanklägers noch lange nicht besetzt worden. Doch mit welchem Fall das in Den Haag untergebrachte Gericht seine Arbeit wie geplant im Frühjahr 2003 beginnen wird, steht schon vorher fest, zumindest wenn es nach Nasser al-Kidwa geht, dem palästinensischen Botschafter bei den Vereinten Nationen: Mit dem israelischen Luftangriff auf ein Haus in Gaza am Montag den 22. Juli 2002. Die israelische Regierung hatte also gute Gründe, das bis dahin bereits von mehr als 70 Staaten abgezeichnete Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht zu ratifizieren. Die israelischen Streitkräfte verübten an jenem Montag nach palästinensischer Definition ein „Kriegsverbrechen“. „Es war das erste Kriegsverbrechen, seitdem der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufgenommen hat“, versicherte Nasser al-Kidwa. Das israelische Antiterrorkommando hatte ihr Zielobjekt, den Hamas-Führer Sheikh Salah Shahada, von einem F-16-Kampfflugzeug aus mit einer offensichtlich überdimensionierten Rakete attackiert – es wurde von einer zielgesteuerten eine Tonne schweren Bombe berichtet –, als Shahada auf dem Balkon seiner Apartmentwohnung stand; außer ihm wurden durch den Angriff 14 unbeteiligte Bewohner benachbarter Wohnungen getötet, darunter 9 Kinder. Die Anklage könnte sich auf Artikel 8 2. (b) (iv) des Gerichtsstatuts berufen, der die „absichtliche Durchführung eines Angriffs, im Wissen darum, dass ein solcher Angriff nebenbei den Verlust des Lebens oder die Verletzung von Zivilisten verursachen wird“, als Kriegsverbrechen definiert (4). Ariel Sharon hätte keinen leichten Stand vor den Richtern, wenn er sie davon überzeugen müßte, was er der Öffentlichkeit erklärte: Der Angriff sei ein Fehler gewesen und wäre nicht oder anders durchgeführt worden, wenn man seine Folgen richtig abgeschätzt hätte.
Unter den selben Straftatbestand wären schon häufiger militärische Aktionen der amerikanischen Streitkräfte gefallen, hätte es einen Internationalen Strafgerichtshof schon zu Zeiten des Vietnam-Krieges, während des Krieges gegen den Irak, der Bombardierung Jugoslawiens oder dem Feldzug gegen Taliban und Al-Quaida in Afghanistan gegeben. Auch die amerikanische Regierung hat das Statut nicht ratifiziert. Das gleiche gilt für die Regierung Rußlands, die man wegen des Krieges in Tschetschenien angeklagt hätte. In diesem Fall allerdings hätten sich die Richter in einen für sie unlösbaren Widerspruch des internationalen Rechts verstrickt, wie er im Statut selbst zum Ausdruck kommt. Das Gericht soll sich einmischen, wenn ein Verbrechen, das unter seine Zuständigkeit fällt, von dem Staat, auf dessen Territorium die Tat stattgefunden hat oder dem der Täter angehört, nicht verfolgt wird; man ist „entschlossen, Schluß zu machen damit, dass solche Täter straffrei bleiben“.(5) Das aber steht im Widerspruch mit dem Prinzip der Nichteinmischung, der wechselseitigen Anerkennung von Staatssouveränitäten, von dem weiter oben schon die Rede war. Um den naheliegenden Verdacht zu zerstreuen, die angestrebte internationale Strafgerichtsbarkeit begünstige das Aufkündigen und Brechen der häufig fragilen zwischenstaatlich vereinbarten Übereinkünfte, heißt es im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes: „[N]ichts in diesem Statut sollte so aufgefaßt werden, als würde damit irgendeinem der Vertragsstaaten das Recht eingeräumt, sich in einen bewaffneten Konflikt oder die inneren Angelegenheiten eines Staates einzumischen“.(6)
Bei einem amerikanischen Angriff gegen den Irak dagegen wäre der Fall eindeutiger. Schon der Angriff selbst könnte als Verbrechen, nämlich als das Verbrechen der Aggression, angeklagt werden. Dieses ist im Statut als vierte Kategorie der Verbrechen aufgelistet, für die der Internationale Strafgerichtshof Zuständigkeit beansprucht, im Gegensatz zu den anderen aufgelisteten Verbrechen aber nicht im Einzelnen definiert; es wird lediglich auf nähere Bestimmungen verwiesen, auf die sich die Vertragsstaaten noch einigen müßten.(7) Nach geltendem internationalen Recht ist allerdings nur der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu einer solchen Definition autorisiert, d.h. er entscheidet von Fall zu Fall, ob er einen Militärangriff gegen einen Staat als Aggression einstufen will oder als Akt der Selbstverteidigung bewertet, der wiederum durch internationales Recht gedeckt wäre. Zweifelsfrei würden die Richter des Strafgerichtshofes einen amerikanischen Angriff auf Bagdad, der Opfer unter der Zivilbevölkerung nach sich ziehen würde, nach Artikel 8 als Kriegsverbrechen verurteilen. Daß dieser Fall eintreten wird, ist umso wahrscheinlicher, als Saddam Hussein bereits angekündigt hat, im Fall eines amerikanischen Angriffs potentielle Angriffsziele, beispielsweise alle mobilen Waffensysteme in der Hauptstadt und anderen dicht bewohnten Gegenden des Landes zu konzentrieren, um die zivilen Verluste in die Höhe zu treiben.(8)
Für eine solche Geiselnahme der Zivilbevölkerung ist im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs kein Straftatbestand definiert, ebensowenig für Selbstmordanschläge, wie sie dem israelischen Angriff vom 22. Juli vorausgingen. Der Begriff Terror kommt in dem Statut überhaupt nicht vor, und so liegen auch die Verbrechen der Islamisten, der gegenwärtig aktivsten und brutalsten Bewegung auf diesem Gebiet, jenseits der Interessen des Gerichts. Obwohl auf der Konferenz in Rom, auf der das Statut verabschiedet wurde, von einigen Staaten ein „deutliches Interesse“ zur Aufnahme des Terrorismus in den Verbrechenskatalog angemeldet wurde, hat sich die Mehrheit dagegen entschieden; es gebe schon genügend entsprechende Verträge, und auf einer etwaigen Überprüfungskonferenz, die laut Statut frühestens im Sommer 2009 stattfinden kann, könnte der Terrorismus in der Zukunft, falls sich die Vertragsstaaten dazu durchrängen, der Zuständigkeit des Gerichts überantwortet werden.(9) Das ist allerdings ein nicht sehr überzeugendes Argument, denn auch alle anderen Verbrechen, für die der Internationale Strafgerichtshof zuständig sein soll, sind längst an anderer Stelle des Völkerrechts definiert; das Statut nimmt selbst regelmäßig Bezug darauf. Der wirkliche Grund, sich mit dem Terrorismus nicht zu befassen, dürfte wohl vor allem darin zu finden sein, daß seine Aufnahme in den Verbrechenskatalog die inneren Widersprüche des Statuts noch weiter und in beträchtlicher Weise verschärft hätte. Der Vorwurf des Verbrechens der Aggression würde in vielen Fällen – gerade in den in naher Zukunft wahrscheinlichsten – hinfällig, denn die israelischen Militärmaßnahmen gegen die palästinensischen Terrororganisationen, und sogar der weltweite amerikanische Feldzug gegen den islamischen Terrorismus erschienen angesichts des vorausgegangenen Massenterrors unmittelbar als Akte der Selbstverteidigung.
So aber fügt sich der Internationale Strafgerichtshof überhaupt schlecht in die gegenwärtige Ordnung der Welt ein. Für die amerikanische Außenpolitik ist er ein einziges Hindernis – und als solches ist er auch gedacht. Im Gericht ist für Amerikaner nur die Anklagebank reserviert, während für ihre Gegner auf dem Schlachtfeld vor den Richtern die Rollen der Opfer und Ankläger reserviert sind. Auf welcher Seite steht das Gericht, wenn es seine Nichtzuständigkeit für terroristische Verbrechen damit begründet, daß die Vereinten Nationen „schon in der Folge des 11. September 2001 den Entwurf einer umfassenden Konvention gegen den Terrorismus in die Wege geleitet haben“?(10)
Ist also „der Kampf für internationale Gerechtigkeit“, wie Amnesty International meint, „einen bedeutenden (major) Schritt vorangekommen“?(11) Wird also der Internationale Strafgerichtshof künftig einen Beitrag „im Ringen um mehr Gerechtigkeit“ leisten, und ist er damit ein „außerordentlich bedeutsamer Fortschritt in dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen zu festigen“(12), wie das Auswärtige Amt in Berlin behauptet? Der Wunsch nach Gerechtigkeit bedeutete in bürgerlichen Gesellschaften seit jeher, daß jedem der gleiche Anteil am gesellschaftlichen Mangel zustehen möge, daß es nicht etwa den Armen besser, sondern den Reichen schlechter gehen möge, und daß alle gemeinsam sich für das Wohl des nationalen Souveräns ins Zeug legen. Die Herrschaft des Rechts war, auf internationaler Ebene mehr als je auf der nationalen, schon immer das Recht der unmittelbaren Herrschaft, der Willkür der Staaten. Mehr als jede andere internationale Institution ist der Internationale Strafgerichtshof Ausdruck seiner eigenen Nichtigkeit, sein ideologischer Zweck ist seine einzige Wahrheit.
Kein anderer Staat ist deshalb mehr an ihm interessiert als Deutschland. Deutschland, das schon zu Beginn des Krieges in Jugoslawien sich für das Tribunal gegen Milosevic stark gemacht hatte, wurde schließlich 1998 in den Lenkungs- und Redaktionsausschuß der Staatenkonferenz in Rom zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs gewählt. Deutschland ist der wichtigste Finanzier und der engagierteste Verfechter des Gerichts. Es gehört nicht ohne Stolz zu der „Gruppe der gleichgesinnten Staaten“, deren Gründung auf seine Initiative zurückgeht und die einen „gerichtshoffreundlichen Ansatz“ verfolgt, im Gegensatz zu den „gerichtshofrestriktiven, primär auf ihre Souveränität bedachten Staaten“, zwischen denen sich die Beratungen „zunehmend zu einem Ringen“ gegeneinander entwickelt hatten.(13) Bei diesem Ringen unterlagen die USA, welche die „gerichtshofrestriktive“ Gruppe anführten. Besonders stolz ist die deutsche Seite darauf, dass die Ausformulierung der Einzeltatbestände zu Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des Statuts von ihr stammt und weitgehend dem sogenannten „Bonner Arbeitspapier zu Kriegsverbrechen“ von 1997 folgt. Deutschland ist es gelungen, alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zur Ratifizierung des Gerichtsstatuts zu veranlassen, und hat sogar sämtliche mit der EU assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder, die assoziierten Länder Zypern und Malta und die EFTA-Länder, die Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraumes sind, zuletzt am 25. Juni 2002 zu einer gemeinsamen unterstützenden Erklärung bewegt. Doch sehr lange hielten diese Bündnisse nicht. Auf Druck der USA, die damit drohten, ihre Soldaten aus Bosnien zurückzuziehen, und unter heftigem Protest Deutschlands garantierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Soldaten der amerikanischen „Peacekeeping“-Truppen vorläufig eine zwölfmonatige Immunität. Kurze Zeit später bröckelte auch das von Deutschland in besonderer Weise gehätschelte kontinentale Bündnis. Am 1. August schloß Rumänien als erster europäischer und als zweiter Staat nach Israel einen bilateralen Vertrag mit den USA, in dem es sich verpflichtet, keinen amerikanischen Bürger je an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern.
Diese Rückschläge versucht Deutschland bzw. das von Deutschland dominierte Europa der EU durch den Ausbau seiner nationalen Gerichtsbarkeiten zu internationalen Zwecken auszugleichen. Bereits im vergangenen Jahr hatte die belgische Justiz auf palästinensische Initiative einen Strafprozeß wegen Kriegsverbrechen gegen den israelischen Ministerpräsidenten eröffnet. Rechtsgrundlage war ein 1993 verabschiedetes Gesetz, „das Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann unter Strafe stellt, wenn sie nicht in Belgien begangen wurden“ (Berliner Zeitung 27.06.02). Ein Brüsseler Berufungsgericht kippte diese Anklage schließlich mit der Begründung, die belgische Justiz dürfe nur gegen Personen vorgehen, die sich auf belgischem Territorium aufhalten, und lieferte damit die Steilvorlage für zwei Ende Juli von der belgischen Regierungskoalition vorgelegte Gesetzesentwürfe, denen zufolge „sich ein Verdächtiger nicht in Belgien befinden muss, um vor einem belgischen Gericht angeklagt zu werden“ (Berliner Zeitung 27.06.02). In Deutschland selbst trat am 1. Juli diesen Jahres das sogenannte „Völkerstrafgesetzbuch“ in Kraft. Es sieht vor, dass künftig deutsche Gerichte schwerste Verbrechen auch dann aburteilen können, wenn diese keinerlei Bezug zu Deutschland haben“, vermeldet die taz in ihrer Ausgabe vom 27./28.07 und jubelt „Amerikanische Soldaten sind nicht immun“. Denn „denkbar ist etwa, dass nach einem US-Angriff gegen den Irak bei der deutschen Justiz Strafanzeigen gegen Präsident Bush oder die US-Armeeführung gestellt werden. Darin könnte zwar nicht der Angriff als solcher gerügt werden, aber zum Beispiel die Inkaufnahme von unverhältnismäßig vielen zivilen Opfern durch Bomben- und Raketenangriffe.“ Selbstredend nicht die Geiselnahme der irakischen Bevölkerung durch die Hussein-Regierung. Es scheint ziemlich gut voranzugehen; laut taz wurde inzwischen „eigens das Grundgesetz und das Gerichtsverfassungsgesetz geändert, damit Generalbundesanwalt Kay Nehm auch für Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch zuständig ist“. Deutschland als Jäger des internationalen Terrornetzwerkes USA. Die Zärtlichkeit der Völker dürfte ihm gewiß sein.
Thomas Becker/Horst Pankow (Bahamas 39 / 2002)
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