Titelbild des Hefts Nummer 41
Die Entzauberung des deutschen Weges
Heft 41 / Frühjahr 2003
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Bowling For Hussein

Amerika in der Wahnwelt des Michael Moore – und nicht nur in seiner

Daß Amerika sich selber eher und besser zu kritisieren versteht als der Rest der Welt Amerika, versuchte Horkheimer immer wieder dem deutschen Nachkriegspublikum klarzumachen, so zum Beispiel im Vortrag „The american way of life“ von 1964: „Wenn ich schon vorher sagte, daß wir keinen kritischen Gesichtspunkt über Amerika vorbringen können, der nicht dort schon geäußert wurde, so möchte ich dem hinzufügen, daß, wenn Sie in einer amerikanischen Universität einen Vortrag halten, in dem Sie Amerika besonders loben, Sie erwarten müssen, daß Ihnen widersprochen wird und die negativen Momente bezeichnet werden. In vielen Schichten drüben gibt es einen starken kritischen Geist, der, wie gesagt, nicht zuletzt auch im Witz zum Ausdruck kommt, nicht zuletzt im Witz über sich selbst.“ (Gesammelte Schriften 8, 243, Frankfurt 1985) Daß politische und militärische Stärke mit Witz und Kritik auf eigene Kosten einhergehen konnten, war eine Lektion, die, so einfach sie klingt, so schwer wohl zu verstehen war und ist. Kritik, das war assoziiert mit dem Geist, der stets verneint, mit Zersetzung gemeinschaftlicher Bindungen, denen die Sehnsucht gilt, aus denen der „unbehauste“ Mensch, wie es der kulturkritische Jargon jener Jahre nannte, Halt, Kraft und Orientierung ziehen wollte. Genau deswegen konnte sich Kritik denn auch nur gegen ein anderes als das eigene Kollektiv richten; deswegen sprachen sowohl der bräsige Essay als auch der ebenso bräsige Witz der Deutschen zu Zeiten des späten Horkheimer auch immer von „dem Amerikaner“ und „dem Russen“. Nur in der Wortwahl hat sich heute etwas daran geändert: Dasselbe meinend haben Völkerpsychologie und Kulturrelativismus sich nach 1968 eine „linke“ Terminologie gegeben. Kritik bedeutet hierzulande aber nach wie vor nicht Einspruch des Einzelnen gegen den Zwang des Allgemeinen, sondern den durchs eigene Kollektiv gedeckten Widerwillen gegen das nach eigenem Muster in projektiver Umkehrung gebildete andere Kollektiv, und zugleich den Widerwillen gegen die, die dem Kollektiv sich schon dadurch entziehen, daß sie vorgeblich ein besseres Leben führen, als die Neider es ihnen zugestehen.

Michael Moore, Autor von Stupid White Men, Macher von Bowling For Columbine und dadurch der Shooting-star der westlichen Friedenshysterie, stellt sich selbst und seinen jüngsten, kürzlich Oscar-prämierten Streifen in eine Reihe mit amerikanischen Komikern, die vor Horkheimers geistigem Auge gestanden haben dürften: „Ich teile die Bühne mit einer langen Tradition von Clowns von Charlie Chaplin zu den Marx Brothers und Lenny Bruce. Der arrogante Intellektuelle will immer den Humor abschaffen. Aber Mark Twain sagt, daß ‚einem Lachsturm nichts standhält‘.“ (Toronto Sun, 17.5.02) Er selbst glaubt gewiß daran, daß die von ihm Aufgezählten dasselbe im Sinn hatten wie er: Es als Fürsprecher der Unterprivilegierten, der eher Schlichten, den Großkopferten einmal so richtig zu zeigen. Was er nicht verstehen dürfte, ist, daß sich gerade Chaplins Komik in die schlichte und schlechte Dichotomie von Moores Vor-Bowling-Elaboraten „Ihr da oben = böse & schuld – Wir da unten = gut & ahnungslos“ gewiß nicht fügt; zeigt sie doch vielmehr, wieviel Böses abstrakte Verhältnisse gerade aus den „underdogs“ zu machen pflegen. Daß Moore hingegen die Welt als Anstalt versteht, die aus reiner Böswilligkeit der Herrschenden heraus die normalen „Joes and Jills“ drangsaliert, betrügt und aus ihren Jobs entläßt, und er, Moore, dazu berufen ist, die Diabolik dieser Herrschenden durch rüdeste Methoden auf die Mattscheibe bzw. Leinwand zu bannen, zeigt u.a. sein in Europa und Kanada gelobter Streifen Roger & Me – der Plot dieser Dokumentation ist schnell erzählt: Moore lauert dem Chef von General Motors auf, enerviert diesen vor erbarmungslos durchlaufender Kamera (hat man als Zuschauer keine sadistische Ader, ist das wirklich kaum zu ertragen) mit immer den gleichen Fragen, warum er denn bloß Werke schlösse und Jobs abschaffe; das Ganze konterkariert mit den Nöten der Arbeitslosen, fertig ist die Botschaft: Kapitalisten viel böse, weil machen Proletidylle kaputt und Moore nicht verstehen, wie können sein Kapitalist so gemein. Wie sehr Moore schon je dem, was Deutsche wohl kritisch und komisch finden, entgegenkam, zeigt sich in seiner TV-Reihe The Awful Truth. Hier wird die Personalisierung gesellschaftlichen Unheils ins Extrem getrieben; ein authentisches Opfer kapitaler Machenschaften erzählt seinen Jammer und Moore stellt dann den Schuldigen mit den gröbsten, konfrontativen Mitteln: Damit wird in einem Aufwasch die Streotypie vom unschuldigen, jeder Eigenverantwortung entbundenen „Opfer“ (1) und die bösartige Lust zur Abschlachtung des „Täters“ bedient; das Ganze folgt der Dramaturgie von Haberfeldtreiben und Judenwitz: Als „Humor“ figuriert die grausame Psycho-Logik, die die abstrakten Drohungen der Tauschökonomie gegen Alle umwandelt in das konkrete Programm der Verfolgung Einzelner durch die Vielen.

Authentischer Antiamerikanismus

Moores Komik intendiert das glatte Gegenteil von jener von ihm in grotesker Selbstüberschätzung und absolut zu Unrecht als Vorgänger Reklamierten: Das absichtsvolle Nicht-Verstehen-Wollen eines Groucho Marx, mit der dieser die Zumutungen blind und allgemein akzeptierter Verhaltensanordnungen durch die Gegenkalkulation individueller Vernunft bloßstellt, ersetzt Moore durch ein ebenso absichtsvolles Sich-Dumm-Stellen, das die Gemeinheit hinter kindlich-naiver Attitüde versteckt und damit dem infantilen Vorurteil „Ich bin gut, die Macht ist böse“ zuarbeitet, also zur Abschaltung des Verstandes und zum Mitfühlen im Kollektiv der „Belogenen und Betrogenen“ einlädt. Wie sehr Moore damit auf den Nerv derer zielt (und ihn auch trifft), die schon Grönemeyers „Kinder an die Macht“ und Lindenbergs „Wozu sind eigentlich Kriege da?“ hören konnten, ohne sofort mit Brechreiz kämpfen zu müssen, offenbarte sich im nicht enden wollenden Hype, der um und mit Bowling veranstaltet wurde. Am Vorabend des Filmfestivals in Cannes, bei dem Bowling als erste „Dokumentation“ seit 46 Jahren in die Konkurrenz aufgenommen wurde und den (offensichtlich extra für den Streifen aus der Taufe gehobenen) „55-jähriges Jubiläums“-Preis gewann, beschrieb Moore seinen Film so: „Er ist nicht antiamerikanisch, sondern vielmehr gegen den Gebrauch von Gewalt, um ein Ziel zu erreichen, sowohl in der Außenpolitik als auch bei der heimischen Strafverfolgung.“ (Toronto Sun, 17.5.02) Er konnte sich natürlich darauf verlassen, daß keiner seiner Fans sich das Naheliegendste fragt, ob der einseitige Verzicht auf glaubwürdige Gewaltandrohung wohl wirklich Diktatoren, Terroristen oder auch simple Raubmörder dazu bringt, reuig zu sein und ihr Tun einzustellen. Viel zu sehr hingerissen war die öffentliche Meinung Europas von der Aussicht, daß hier ein US-Amerikaner das ausspricht, was man lange schon in sich ausbrütet: Alles Böse auf der Welt kommt aus Washington D.C., jede Untat ist nur provozierte Gegenwehr; Moores plötzlicher, überwältigender Erfolg in Europa verdankte sich seinem Standardrezept, als Frontmann des Kollektivs der Opfer gegen die isolierte Clique der Weltzerstörer aufzutreten. Der Siegeszug von Bowling war der kulturindustrielle Abdruck eines globalen Aufstands der Konformisten gegen die vermeintliche Autorität: Kritisch ist, was gegen Bush ist – egal, ob es vom Papst, den Staatskirchen, Chirac, dem chinesischen ZK oder der malayiischen Islamistendiktatur als Gastgeber der „Blockfreien“ widerhallt. Wie es sich für Konformisten gehört, zählt als unhintergehbares Argument, mit der Masse und nicht gegen sie zu sein. Die Vereinzelung wird zur Schande, die Moore dem US-Präsidenten als selbsternannter Sprecher „aller Amerikaner außer Talk Radio-Schwätzern und den Fox-News“ ankreidet: „Die ganze Welt ist gegen Sie, Mr.Bush. Zählen Sie ihre amerikanischen Mitbürger auch dazu“; „Mike’s Message“ vom 17.3.03, aus der hier zitiert wird (www.michaelmoore.com/words/message/index.php), lügt zwar, denn die Mehrheit der Amerikaner war zu jedem Zeitpunkt deutlich für Bush (by the way, die der Israelis sogar erdrückend), aber was schert’s den Sprecher des globalen Antiamerikanismus? Weiß er doch, daß Bush „den Popularitätswettbewerb mit Saddam Hussein verloren“ hat, weiß er doch, daß der „Papst gesagt hat, dieser Krieg ist falsch, daß er eine Sünde ist“ – als ob derlei nicht weniger gegen Bush, sondern vielmehr gegen die Weltöffentlichkeit und den Papst sowieso spräche. (Den eigenen Rückhalt in der Dummheit des Kollektivs als Argument und nicht als Anlaß zur Selbstkritik anzuführen, war sich kürzlich leider auch der Herausgeber von Konkret nicht zu schade).

Im selben Maße wie der Druck der globalen Meute wuchs, ließen auch viele Vertreter des offiziellen Hollywood alle Hemmungen fahren und den notorischen Gutmenschen unter ihnen brannten alle Sicherungen durch. Auf der Berlinale-Gala „Cinema For Peace“ gaben sich u.a. George Clooney, Christopher Lee und Dustin Hoffman nicht allein als Staffage für eines der in Deutschland so beliebten archaischen Feuerrituale, die Entzündung einer „Weltfriedensflamme“ her, nein, der jüdische Amerikaner Dustin Hoffman tat dem Veranstalter den Gefallen und verglich den Irak mit Vietnam (Hussein kam in seiner Rede nicht vor) und faselte von „zarten Blumen“, die „Steine sprengen“ (Spiegel Online, 11.3.03); auf die Hilfe von Blümchen hatten die Opfer der Lösung der Judenfrage im Baath-Irak mittels Aufhängen oder Vertreibung seinerzeit zwar vergeblich gewartet, aber dieses Regime war ja auch nicht gemeint. Neinnein, Bush ist Hitler, was Christopher Lee durch die Verlesung eines Briefes Gandhis, auf dessen Mist auch der famose Ratschlag an die europäischen Juden wuchs, sich mit Sitzblockaden gegen die SS zu wehren, ganz klar machte; Hitler wurde in diesem Schreiben aufgefordert: „Im Namen der Menschlichkeit, stoppen Sie den Krieg!“ (ebd.) – donnernder Applaus selbstverständlich.

Daß Moore schließlich, von dieser Welle getragen, für Bowling den Oscar „Beste Dokumentation“ erhielt, hätte ihn wohl noch selber vor Monaten überrascht: „Meine Dokumentationen wurden nie nominiert und Columbine wird keine Ausnahme darstellen.“ (Toronto Sun, 17.5.02) Aber gerade weil er ein Mann des Ressentiments gegen Hollywood ist, wurde Bowling ausgezeichnet. Wie anders sollte man verstehen, daß Moore in seinem Newsletter zeitgleich zur Oscar-Verleihung Hollywood-kritische Internetseiten empfiehlt, die mit nichts anderem als derlei aufwarten: „Ist es nicht deutlich zu beobachten, daß jüdische Schauspieler und Schauspielerinnen im Durchschnitt in sehr viel mehr Filmen auftreten als nicht-jüdische? (...) Erstelle eine Liste von Filmen, die von Hollywoods großen Studios bzw. Verleihen zu jeder beliebigen Zeit produziert bzw. vertrieben wurden und stelle fest, wer die Regie für jeden dieser Filme führte. Stelle den religiös/kulturellen Hintergrund jedes Regisseurs fest. Sollte eine solche Studie ergeben, daß jüdische Regisseure vorgezogen werden?“ (Der von Moore empfohlene Link: www.homevideo.net/FIRM/researc2. htm#bias) Daß das als „minderwertig“ geschmähte Hollywood-Produkt unerreichbar viel besser war als jedes der jeweiligen Schmäher, hatte schon immer antisemitischen Haß evoziert: War es früher in Europa und heute noch in der islamischen Welt üblich, Hollywood wegen (selbstverständlich jüdischer) Sittenlosigkeit, hemmungslosem Konsumismus und Dekadenz zu geißeln, so lautet das Verbrechen des jüdisch kontrollierten Hollywood in der Welt der Moores ein wenig anders: Diese Kontrolle führe nämlich dazu, daß die weiße Yankee-Oberschicht zu gut wegkäme, Schwarze, Dritt-Welt-Einwanderer und (etwas paradox) Südstaatler hingegen zu schlecht (ebd.), kurz: Die Juden verteidigen den Kapitalismus, indem sie rassistische und „antiislamistische“ Filme unters Volk bringen. Solcher Gedankenmüll macht Moore jetzt so wertvoll und umworben: Es gibt keinen authentischeren, amerikanischen Vertreter des antiamerikanischen Ressentiments als ihn, er spricht der Welt außerhalb Amerikas (und Israels) im wahrsten Sinne des Wortes aus der Seele, er repräsentiert ein zukunftssicheres Marktsegment für den Filmexport und garantiert etwas ganz Wichtiges, dem sich auch Hoffman, Robbins, Sarandon etc. verschrieben haben: Um Gottes Willen nicht in den Augen der Weltöffentlichkeit mit dem republikanischen Präsidenten in einem Boot sitzen – dann lieber wie Martin Sheene vergangenen Herbst zur Friedenstour nach Bagdad reisen und mit Tarik Aziz Händchen halten, so wie es wenig später im päpstlichen Rom geschah. Anders als diese Betroffenheitsgarde ist Moore obendrein garantiert unkorrumpiert, stammt das Geld für die Produktion von Bowling doch nicht aus Hollywood, ja noch nicht einmal aus den USA. Wo es „sauberes“ Geld gab? Moore: „Ich bin glücklich, daß ich zu den Kanadiern ging, und die Kanadier dann zu den Deutschen gingen, die den anderen Teil der Produktionskosten stellten.“ (Toronto Star, 17.5.02)

Böswillige Montagen

Moore hat mit Bowling einen deutschen Film gedreht, und zwar nicht nur in Hinsicht auf das im Trailer angegebene Produktionsland, das zugleich das Land seines größten kommerziellen Erfolges war, sondern im Sinne der projektiven Verfügung des filmemachenden Subjekts über die Außenwelt, die ihm bloßes Material eines eigenmächtigen Zweckes ist. Bowling ist keine Dokumentation über durchaus erschreckende Folgen des Waffenbesitzes oder zu laxer Waffengesetze in den USA; es ist überhaupt keine Dokumentation in dem Sinne, daß sie faktisch belegbare und sachlich zusammengehörige äußere Umstände widergibt und kommentiert – das einzige, was diese wahrlich „bizarre Unterhaltung“ für ein gewöhnlich „vor Begeisterung johlendes Publikum“ (Weltwoche, 16.3.03) bietende Großmontage dokumentiert, sind die inneren Zustände eines Vorurteilsvollen für andere ebenso Gestrickte. (2)

Bowling ist Propaganda, die auf ihr innerstes Prinzip reduziert ist: Die Ersetzung der mühseligen und fürs denkende Individuum häufig mit unerwarteten und unangenehmen Überraschungen aufwartende begriffliche Erschließung der Außenwelt – inklusive Reflexion auf den eigenen Anteil daran – durch die Befriedigung des ohnehin gefaßten Vorurteils. Propaganda ist umso wirkungsvoller, je mehr sie die Gestalt des Faktischen täuschend echt simuliert und dabei den Glauben daran, ohnehin die richtige Meinung zu „besitzen“ und dabei Teil einer großen Masse von Mit-Durchblickern zu sein, bestätigt. Deswegen mißlingt auch die Sorte Propaganda, die Fakten plump leugnet oder sich gar an ihre Stelle zu setzen sucht, anstatt isolierte, aber tatsächliche Sachverhalte und „echte“ Bilder nach dem Muster des Vorurteils neu zu arrangieren. Aufs Positive zielende Propaganda scheitert, weil die Alltagsrealität ihrer Verklärung eine Absage erteilt: Rumänen, die stundenlang vergeblich in einer Einkaufsschlange gestanden hatten, warteten nur darauf, daß der Diktator einmal vor Kamera und Publikum in die Lebensmittel beißen möge, die ihm eine stolze LPG vorführt: in Würste aus bemaltem Holz und Obst aus Kunststoff.

Anders verhält es sich mit negativer Propaganda, solcher, die sich gegen Feindgruppen richtet, die das, was sich im Alltag nicht von selbst erklärt, angerichtet haben sollen. Derlei Propaganda kann darauf vertrauen, daß die von ihr präsentierten zirkulären Pseudoevidenzen wie die Moorsche, daß Waffenbesitz die (dummen, weißen, männlichen) Amerikaner aggressiv mache und zugleich Waffenbesitz in Amerika so gefährlich sei, weil die (dummen, weißen, männlichen) Amerikaner (im Gegensatz zu den Kanadiern) eben so aggressiv seien, mit Vergnügen geschluckt werden: Weil Vorurteilen die materiale Nichtexistenz ihres Gehaltes ebenso wie dessen erwiesene Unsinnigkeit nichts anhaben kann, solange sie nur ihre seelische Funktion für den Adressaten der Propaganda erfüllen; die Prüfung der präsentierten „Fakten“ oder die Stichhaltigkeit ihrer Anordnung wird durch das Wissen ersetzt, daß das individuelle Vorurteil dem kollektiven entspricht. Der Film ist wiederum das ideale Medium für Propaganda; er stellt solche Kollektivität auf eine sublimere, die Isoliertheit des Einzelnen nicht direkt in Frage stellende Art her als die der unmittelbaren Massenbildung: „Daß die Filme Schemata kollektiver Verhaltensweisen liefern, wird ihnen nicht erst zusätzlich von der Ideologie abverlangt. Vielmehr reicht Kollektivität ins Innerste des Films hinein (...) Indem das Auge mitgeschwemmt wird, gerät es in den Strom all derer hinein, die dem gleichen Appell folgen. Die Unbestimmtheit des kollektiven Es freilich, die mit dem formalen Charakter des Films zusammengeht, leiht ihn dem ideologischen Mißbrauch, jenem scheinrevolutionär Verschwimmenden, das sprachlich die Wendung, es müsse anders werden, gestisch der Faustschlag auf den Tisch anmeldet.“ (T.W. Adorno: Filmtransparente, in: Ders.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt 1969, 85) Weil Film mitreißt, ohne den Zuschauer zu zwingen, vor den Augen anderer sich hinreißen zu lassen, reüssierte Moores Film auch bei manchem, dem die Friedensdemo zu peinlich und Saddam zu eklig war, der aber auch nicht gänzlich auf das dezente Dabeisein in der Volksgemeinschaft zumindest der kinobesuchenden Antiamerikaner verzichten wollte.

Von „ideologischem Mißbrauch“ des Films zu sprechen, grenzt im Falle Bowling an Understatement: Kaum mehr vordergründig wird dem Realitätsprinzip Genüge getan, so krude und auffällig werden aus disparatem Bild- und Tonmaterial „für sich sprechende“ Sequenzen zusammengestückelt, so unübersehbar deuten Schnitte, Zwischenblenden und unterbrechende Zwischenkommentare auf dezidierte Manipulation hin – die doch kaum jemandes Mißtrauen erregt haben: Zu gut paßt das Moorsche Schnipselchaos zur eigenen, in sich zutiefst widersprüchlichen und nur durch den Denunziationswillen gegen die dummen, weißen, amerikanischen Männer als Killer, Sklavenhändler und Weltenplünderer, als westliche Verursachers allen Übels überall, zusammengehaltenen Meinung; die zu ihrer Aufrechterhaltung nötige Wahrnehmung ist notwendigerweise genauso so selektiv wie die Technik der Moorschen Faktenherstellung: Dessen Schnitte und Montagen verschwinden in ihren „blinden Flecken“.

So bemerkt das Gros der Zuschauer nicht, wieviel gerade beim Hauptthema des Films, das ihn einleitet und beendet, die mitleidlose Reaktion des Präsidenten der NRA (National Rifle Association), Charlton Heston, auf das von zwei Schülern der Columbine-Highschool in Littleton (Colorado) angerichtete Massaker (Vgl. dazu BAHAMAS 29, 46ff.) und eine weitere Schießerei in Flint (Michigan), für böswillige Montage spricht. In Bowling hält Heston in Denver, Hauptstadt des Bundesstaates Colorado, eine Rede vor der Jahreshauptversammlung der NRA, die kurze Zeit nach dem Massaker stattfindet; der Eindruck soll erweckt werden, daß die NRA ihre Versammlung (wie später im Film auch für Flint behauptet) zur Provokation der Hinterbliebenen der Opfer abhält: Weinende Kinder vor der Schule – Schnitt zu Heston, der ein Gewehr schwenkt und einer applaudierenden Menge zuruft: „Ich habe nur fünf Worte für Sie: aus meinen kalten, toten Händen“ – Schnitt auf eine Veranstaltungsankündigung; Moore kommentiert: „Nur zehn Tage nach den Columbine-Morden, gegen die Bitte der trauernden Gemeinde, kam Charlton Heston nach Denver und hielt eine große ‚pro-gun‘-Veranstaltung in Denver ab“ – Schnitt zu Heston, der (angeblich) dieselbe Rede weiterführt: „Ich habe ein Botschaft vom Bürgermeister, Mr. Wellington West. Er schickte mir dies; hier steht ‚Kommen Sie nicht hierher. Wir möchten Sie hier nicht haben.‘ Ich sage dem Bürgermeister, das ist unser Land, als Amerikanern steht es uns frei, wohin auch immer wir wollen zu reisen in unserem weiten Land. Kommen Sie nicht hierher? Wir sind schon hier.“

Waffen der Gleichberechtigung

Nichts, aber auch gar nichts stimmt hier: Moore verläßt sich erfolgreich darauf, daß niemand sich fragt, ob Jahresversammlungen solch großer Organisationen wie der NRA vielleicht einen etwas längeren Planungsvorlauf als zehn Tage haben; auch darauf, daß sich niemand wundert, warum Heston während seiner Rede offensichtlich Hemd und Krawatte wechselt und obendrein auch die Farbe des Hintergrunds sich ändert. Der Grund: Die „tote Hände“-Passage stammt aus einer Rede, ein Jahr später in Charlotte, North Carolina. gehalten, in der Heston sich mit einem Dichterzitat für ein Sammlerstück, das er in den Händen hält, bedankt. Daß die NRA in Denver – ein Jahr zuvor – alle über die Versammlungen hinausgehenden Veranstaltungen absagte, daß Heston dies in seiner Rede begründete, daß jene überhaupt einen komplett anderen Inhalt hatte, daß Heston in Flint acht Monate nach der dortigen Schießerei auftrat, und das nicht für die NRA, sondern auf einer in den USA üblichen „Get Your Vote Out“-Veranstaltungen, auf der pikanterweise auch ein Mr. Moore für die – wie könnte es anders sein? – „Green Party“auftrat, all das kann der Zuschauer nicht wissen. Mißtrauisch sollte ihn die Zahl der Umschnitte in einer so kurzen Passage machen: Sie verdecken nämlich, daß Moore seine Rede aus sieben verschiedenen Sätzen, die wiederum selbst noch auseinandergestückelt wurden, aus fünf verschiedenen Teilen der tatsächlichen Ansprache zusammendokterte. Der arrogant wirkende Schlußsatz „Kommen Sie nicht ... sind schon hier“ beispielsweise schließt eine Passage ab, in der Heston die NRA-Mitglieder bei der Feuerwehr, den Sanitätern und der Polizei, die in Littleton halfen, lobend heraushebt. Der von Moore nahezu dehumanisierte, auf die Ebene also, auf der linke Medien Ariel Sharon ansiedeln, gebrachte Heston ist in Wirklichkeit zwar stockkonservativ – „american mainstream“, wie er sich selbst einordnet – und beileibe kein großer Redner, aber mitnichten ein Anstifter zum Kindermord; nach „... schon hier“ fuhr der reale Heston fort : „Wir haben wie alle anderen Bürger dasselbe Recht, hier zu sein. Um zu helfen, mit dem Kummer umzugehen und unsere Sorge zu teilen und unsere respektvolle und ruhige Stimme an der landesweiten Debatte, die sich an dieser Tragödie entzündete, zu beteiligen.“

So wenig wie mit Kindsmord hat Heston mit Rassismus zu tun; genausowenig die NRA mit dem KKK (Ku-Klux-Klan), die US-Hungerhilfe mit dem 11.9., amerikanische mit kanadischen Kriminalitätsstatistiken oder schließlich, als Gipfel der Moorschen Assoziationen, die gegenwärtige US-Außenpolitik mit Sklavenhandel. Heston unterstützt seit den frühen 60er Jahren von Martin Luther King inspirierte Bürgerrechtsgruppen, beteiligte sich an Belagerungen von diskriminierenden Lokalen in Hollywood und wurde 2001 als Hauptredner des „Congress On Racial Equality“ eingeladen. Die NRA ist nachgerade explizit gegen den Südstaaten-Rassismus gegründet worden als Vereinigung von Bürgerkriegskämpfern auf Unions-Seite; Präsident Ulysess Grant, der das heute noch geltende Anti-Klan-Gesetz verantwortete und die härtesten, militärischen und politischen Maßnahmen gegen den Klan in der US-Geschichte ergriff, war zugleich NRA-Vorsitzender; übrigens war Moore als „Linker“ selber lange Zeit Mitglied der NRA (3), was durchaus nicht ungewöhnlich ist, v.a. in den Südstaaten, in denen ganze Ortsverbände der NRA nahezu ausschließlich von Afroamerikanern gegründet wurden, um sich nämlich bewaffnet gegen den Klan wehren zu können, dort, wo die lokalen Autoritäten keinen Schutz boten. Was in Bowling so arrangiert ist, als ob die US-Regierung 2000/01 245 Mio.$ nach Afghanistan geschickt hätte, um dann quasi auf Bestellung die Mordflüge vom 11.9. zurückzubekommen, war in Wirklichkeit von der UN(!)-Hungerhilfe verwaltetes Geld, das von US-amerikanischen NGOs stammte. Vergleicht man kanadische und amerikanische Mordstatistiken gewichtet, also zulässig, d.h. US-Bundesstaaten, die ein ähnliches soziologisches Profil aufweisen wie Kanada, geringe Bevölkerungsdichte, kaum Ballungszentren etc., dann liegen diese Bundesstaaten noch knapp unter dem kanadischen Ergebnis. (Dies alles und noch mehr kann in dem akribisch Quellenarbeit betreibenden Text „Stupid Academy Award“ des Dokumentarfilmers Mike Dunnagan – www.frontpagemag.com/articles/Read Article.asp?ID=6841– nachgelesen werden).

Auch daß die US-Außenpolitik mit Afghanistan ein Land, in dem Sklaverei offen betrieben wurde, von diesem Unwesen befreit und überhaupt den Sklaverei rechtfertigenden Islamismus bekämpft – auch das kann die Begeisterung für Moores Machwerk in keiner Weise dämpfen: diese entzündet sich vielmehr daran, daß Bowling strenggenommen überhaupt keine politische Ursache-Folge-Aussage macht, sondern allein eine Ontologie des „Amerikanismus“ betreibt. Der Film ist noch nicht einmal ein pazifistisches anti-gun-Manifest à la „Die Existenz von Waffen macht Menschen gewalttätig“; das wäre zwar eine dumme, aber wenigstens noch mit den Mitteln der Logik diskutierbare These. Moore aber legt größten Wert darauf herauszustellen, daß in Kanada Waffen noch leichter erworben werden können, ein noch größerer Kult um die Feuerwaffe betrieben wird als in den USA, und es dennoch – siehe Statistik – viel friedvoller zuginge: Kanada, aufgrund seines Etatismus und militant-absurden Ethno-Regionalismus durchaus zurecht von Moore als nordamerikanischer Platzhalter des „alten Europa“ gewählt, bringt eben einfach die besseren Menschen hervor; anders gesagt: Stupid sind White Men nur, wenn und nur weil sie American sind.

Kulturkritische Unlust

Das und nichts anderes ist die Quintessenz des Films und das Unterpfand seines Erfolges. Jeweils weit mehr als die Hälfte der Deutschen hält „die Amerikaner“ für „hochmütig“, „rücksichtslos“ – und selbstverständlich „gewalttätig“ (Wirtschaftswoche, 3.4.03); vergleicht man nur den Alltag auf amerikanischen mit dem auf deutschen Straßen, weiß man, daß „der Amerikaner“ genau eine deutsche Selbstspiegelung im imaginierten Feindkollektiv ist. „Der Amerikaner“ spielt im deutschen Seelenleben dieselbe Rolle wie allgemein beim Antisemiten „der Jude“: Als Projektionsfläche der eigenen Wünsche, d.h. nicht als Bestrafer oder Opfer eigener Verbrechen, vergangener wie künftiger, sondern als Täter, der man in Wahrheit doch selber war und wieder sein möchte. So gibt auch „der Amerikaner“ bei Moore einen veritablen Nazi ab, der zugleich doch auch ins Klischeé der Weltverschwörung paßt: Er hat eigentlich kein instrumentelles Motiv – soviel weiß auch insgeheim der Antiamerikaner, daß „das Öl“-Motiv noch nicht einmal der oberflächlichsten Prüfung standhält –, er schießt um des Schießens willen, er tötet um des Tötens willen, er unterjocht um des Unterjochens willen, er beherrscht die Welt um des Beherrschens willen. Ontologisch auf ein zur Vernichtung drängendes „amerikanisches Prinzip“ reduziert, erreicht den, der daran glaubt, kein Argument mehr und so glaubt er alles, was Moore ihm vorsetzt, und sei es noch so hochunwahrscheinlich, wie beispielsweise die Szene, in der Moore einen Bomber zeigt und behauptet, unter diesem Flugzeug befände sich eine Gedenktafel, die die Besatzung auszeichnet, weil sie „so viele Vietnamesen“ getötet hat; warum Moore diese Tafel selbst nicht zeigt, fragt sich keiner: Auf ihr wird nämlich nur erwähnt, daß es der Besatzung gelang, 1972 ein MIG-Jagdflugzeug abzuschießen.

Es ist dem Publikum noch nicht einmal das zu grotesk, wenn aus der schon der NRA – egal wie wenig man auch immer von dieser Organisation halten darf – infam unterstellten Killer-Mentalität unmittelbar auf die wohl irgendwie seelenverwandte US-Außenpolitik geschlossen wird: Ideal ist durch die NRA-Pentagon-Connection das Klischeé des „Cowboys“ bedient, der nur Anläße sucht, um in „Cowboy-Manier“ sich über arme Opfer hermachen zu können. Von Goebbels bis Hussein, und bei ihren linken wie rechten Freunden sowieso, ist dieses Stereotyp zu persistent, als daß nicht auch darin die nämliche Selbstspiegelung am Werke wäre: Der politische Westen verschmilzt darin mit dem „wilden“ des Kinos, ebenso wie das historische bürgerliche Individuum, das sich selbstverantwortlich, allein einem abstrakten Gesetz gehorchend, gegen das Faustrecht durchsetzt, mit seinem kinematographischen Nachklang, dem „Lone Ranger“: Beiden gilt der Haß der infantilen Etatisten, die vergessen machen möchten, daß nicht abstrakte Vereinzelung dezivilisierend wirkt, sondern konkretistische Verhordung, nicht Gesellschaft, sondern Gemeinschaft. Ungehemmte, der instrumentellen Zweck-Mittel-Relation enthobene Gewalt ist das, was sie mit „Cowboy“ auf Amerika übertragen und was doch eigentlich ihr ureigenes Movens ist, nämlich den „Cowboy“ zu lynchen.

Es sind die in Europa allseits bekannten und liebend gern kolportierten Horrorbilder und -geschichten aus dem US-amerikanischen Alltag, die Bowling trotz allem auch bei nicht völlig ressentimentzerfressenen Zeitgenossen als zwar schlechten Film, aber irgendwie doch auch durch gewisse Umstände gerechtfertigt durchgehen lassen. Ist denn nicht das Schulsystem extrem konkurrenzorientiert, die Rollenzuweisungen sehr traditionell, der Drill bei den Marines oder in den Correctional Camps herabwürdigend, der Waffenbesitz gefährlich, die Zero-Tolerance-Rechtsprechung äußerst fragwürdig, die soziale Ungleichheit himmelschreiend? Ja, Kritik an diesen Zuständen ist mehr als nur berechtigt; sie wird in Amerika von anderen als den Moores, gedeckt durch eine in Europa nahezu absurd wirkende Freiheit von Rede und Meinung, gedeckt durch eine in Europa kaum vorstellbare Abschließung der Privatsphäre gegen den staatlichen Souverän, schonungslos geübt. Die Ungeschminktheit der Konkurrenz, ebenso wie der unmittelbare Gewaltcharakter, den Staatlichkeit gegen die annimmt, die gegen die Spielregeln des liberalen Kapitalismus verstoßen (und auch qua sozialer Lage bisweilen kaum anders können), gehören in notwendiger Einheit genauso zu seinen Attributen wie die nahezu vollkommene Organisations- und Kritikfreiheit, wie die durch keine Melde- und Ausweispflicht eingeschränkte Freizügigkeit der Einzelnen. Zutiefst unterscheidet sich in seiner Häßlichkeit wie in dieser Freiheit Amerika von Deutschland: Tobt dort die entfesselte Konkurrenz, die gerade deshalb etwas vom „historischen Gebrauchswert des Kapitals“, von seinem „civilising impact“ (Marx), der die empirischen Subjekte zum abstrakten Zweck über ihre Beschränkung hinauszutreibt, auch in der Ära der Monopole bewahren konnte und kann, so tobt in Deutschland von jeher der gebündelte „Antikapitalismus“. Die „kulturkritische“ Unlust selbst des Bürgertums am „nivellierenden“ Kapitalismus verbindet sich mit dem Zivilisationshaß der nie gänzlich entfeudalisierten Subalternen zu einem Staatskapitalismus, der – nach einem Wort Horkheimers – die kapitalen Krisen zu lösen vorgibt, indem er das liberale Leid der Vielen maßlos konzentriert auf die Wenigen; ein Volksstaat, dem die Vernichtung des verhaßten Liberalismus und seiner Zivilisation eingeschrieben war und bleibt. Daß der Konkurrenzkapitalismus dazu tendiert, unverbindliche Freundlichkeit zwischen Fremden, der Korporationskapitalismus dagegen verbindliche Misanthropie unter Abhängigen zu erzeugen, zeigt an, wie tief solcher Unterschied in die Charakterbildung hinabreicht. Der „haltlose Egoismus und Materialismus der Amerikaner“, womit der „deutsche Sozialist“ Sombart einst die Frage „Warum gibt es keinen Sozialismus in Amerika“ beantwortete, dürfte wohl eher auf die Gründe weisen, warum es in Amerika keinen Nationalsozialismus gab und geben wird.

Projektion statt Widerspruch

Die gängige Kritik an den USA aber, die Deutsche als Menschenrecht für sich reklamieren wie die an Israel, ist von diesem Unterschied, der in zwei gottlob für Amerika siegreichen Weltkriegen ausgetragen wurde und der als ein kalter Krieg heute wieder die Bühne beherrscht, zutiefst gekennzeichnet. Als zeitgenössischer Exponent des deutschen Antikapitalismus beharrt der Kritiker darauf, daß Israel eine „normale bürgerliche Gesellschaft“ sei und die USA ein kapitalistischer Hegemon, daß sie sich also gar nicht recht unterschieden von Deutschland, außer natürlich dadurch, daß die einen die Palästinenser unterdrückten und die anderen den ganzen Rest der Welt, also doch eigentlich viel schlimmer seien. Ein kleiner Schritt weiter noch – den sie alle gehen – dann ist man da, wo man hinwollte: Ist Faschismus denn nicht „rassistische“ Unterdrückung und „imperiale“ Vorherrschaft? Mit der für sich nichtssagenden Feststellung, daß die abstrakten Kategorien der Wertvergesellschaftung – Geld, Tausch, Lohnarbeit – sowohl dem frühen wie späten, dem vorgehenden wie nachholendem, dem liberalen wie auch dem antiliberalen Kapitalismus eignen, wird flugs geleugnet und ausgelöscht, wie grundverschieden die Formen der politischen, gesellschaftlichen, ja charakterologischen Konstitutionsformen des Werts sind. So unterschiedlich, daß die eine als Gegenprinzip der anderen auftritt: Als etatistischer Antiliberalismus gegen „ungehemmten Plutokratismus“, als konkretes Volk gegen die abstrakte constitution.

Die Konsequenz aber dieses Gegenprinzips, die umfassende Vernichtung, ist so notwendig wie als Programm unaussprechbar. Deswegen – und das ist das Wesen der Amerika-„Kritik“ der Bowling-Fans – wird diese Konsequenz des „deutschen Weges“ ohne weitere Umstände ausgerechnet zur Charakterisierung der historischen wie aktuellen Gegenposition, Gestalt geworden im „Westen“, in den Vereinigten Staaten. Der Kurzschluß, daß Liberalismus eigentlich Faschismus sei, weil letzterer doch aus erstem entstehen könne, entspringt so etwas wie einem Zwang; ein Zwang, der ausgerechnet den Hauptfeind der faschistischen Ideologie, nämlich Liberalismus und Kosmopolitismus, zum Faschismus der Jetztzeit umlügen muß. Keine Ungeheuerlichkeit aber ist monströs genug, als daß sie es nicht verstünde, aus selektiv zusammengesuchten Realitätsschnipseln „Belege“ und „Fakten“ zu montieren. Solche „Kritik“ ist Projektion, Verschiebung, Selbstspiegelung; solche „Kritik“ interessiert sich für die häßlichen Zustände im amerikanischen Strafvollzug nur soweit, als daß sie flugs aus dem liberalen work-house ein deutsches KZ und den drakonischen Strafvollzug zum NS-Vernichtungsprogramm machen kann. Solcher Zwang ignoriert souverän jeden Einspruch der Sache, den Widerspruch: Gleichzeitig wirft man den Amerikanern Freihandel und Monetarisierung der Welt, Raub und Verstoß gegen den freien Handel vor. Sehnt man sich einerseits nach einer „Endlösung“ zur moralischen Höchstbestrafung israelischer bzw. amerikanischer Politik, so hat man andererseits – geht es um das tatsächlich den Juden Angetane – an nichts mehr Interesse als eben diese „Endlösung“ zu relativieren.

Ist die Sache selbst erst derartig gleichgültig geworden, dann schlägt die Stunde für Filme wie Bowling. Dieser ist wohl erst ein Anfang: Moores nächster Film Fahrenheit 911 soll „die undurchsichtigen Verbindungen zwischen dem früheren US-Präsidenten George Bush und Osama Bin Laden“ (Süddeutsche Zeitung , 31.03.03) auf bekannte Art und Weise „dokumentieren“. In Cannes wird er wohl wieder einen Bombenerfolg landen; das würde man wohl auch, so steht zu befürchten, mit „Dokumentationen“, die zeigen, daß Theodor Herzl die NSDAP gegründet hat oder daß Juden eigentlich Außerirdische sind.

P.S.: Am anderen Ende der „Achse des Friedens“, der Moskauer Prawda, wird letzteres bereits ernsthaft diskutiert.

Ich danke Thomas Becker und Stephanie Bringezu für ihre Recherchehinweise

Uli Krug (Bahamas 41 / 2003)

Anmerkungen:

  1. Als Opfer sieht sich Moore selber, weil in den USA kein größerer Sender geschmacklos genug war The Awful Truth auszustrahlen; darüber weint er sich auch gerne in kanadischen Medien aus.
  2. Im Gegensatz zum selbstzufriedenen Überzeugungstäter Moore unterliegen andere, die ebenfalls notorisch den Haß ihrer europäischen Fans stimmig bedienen, wie z.B. Noam Chomsky, einer Zwangshaftigkeit durchaus tragischer Natur. Ohne in den Staaten irgend etwas wie McCarthy-Ausschüssen oder Zensur ausgesetzt zu sein, scheint eher der Zustand der außeramerikanischen Weltmeinung manche Amerikaner unter einer Art Uri-Avnery-Syndrom leiden zu lassen: Sich selbst zu Kronzeugen eines Ressentiments zu machen, das ihnen in letzter Konsequenz nach dem Leben trachtet (spätestens, wenn sie es als Amerikaner wagen würden, unbewaffnet und unbewacht abends durch Djakarta oder Islamabad zu spazieren); dem geballten Haß der Welt auf die USA und Israel dadurch zu entgehen, daß man sich den Hassern anschließt, sie bestätigt, sie womöglich noch übertrumpft. Zum Alibi-Juden der Antisemiten gesellt sich der Alibi-Amerikaner, der, wen wundert’s, nicht selten jüdischer Amerikaner ist. Darin liegt die bittere Wahrheit von Woody Allens Groteske Zelig, deren Titelfigur unter einer Erkrankung leidet, die ihn sich unwillentlich der herrschenden Umgebung in Sekundenschnelle bis in die äußere Erscheinung angleichen läßt, bis Zelig sich nach einem schweren Anfall schließlich unter dem Banner „Juda verrecke“ hinter dem Führer wiederfindet.
  3. „Ich bin lebenslang Mitglied der NRA. Ich wuchs in Michigan auf, einem Paradies für Waffennarren. Ich habe eine Schützentrophäe“; Moore in der Calgary Sun, 7.9.02.

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