Titelbild des Hefts Nummer 51
Die Frohe Botschaft
Heft 51 / Winter 2006
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Gott hat kein Gefallen am Blut

Seit Monaten schon bemerkt das Feuilleton mit zunehmendem Mißvergnügen beim deutschen Papst einen Hang zur Theorie. Seine Reden seien schwierig, alles andere als zupackend und manchmal gar dunkel. Der Mann sei schließlich Professor der Theologie, Verfasser komplizierter Bücher über Glaubensfragen und immerhin jahrzehntelang der Chef der Nachfolgebehörde der Heiligen Inquisition, der Glaubenskongregation gewesen, wird vorwurfsvoll angemerkt. An die charismatische Wirkung, die großartige Eindringlichkeit seines Vorgängers, da ist man sich inzwischen einig, reicht er nicht heran. Während Wojtyla, hinter dem Ratzinger zwei Jahrzehnte lang die Strippen gezogen hatte, munter damit beschäftigt war, die katholische Kirche in ein nach Hautfarben und Landeszugehörigkeiten sorgsam austariertes Patchwork der Minderheiten zu reorganisieren, dem das Zentrum zunehmend abhanden kam, scheint sein Ghostwriter auf die eigene stählerne Gesundheit und die klug aufgestellte Hausmacht vertrauend, auf seine Stunde gewartet zu haben. Allen Ernstes trat er nach 15 Monaten im Amt an, das Zentrum des Katholizismus dort wieder aufzurichten, wo er nach einer verheerenden Abfolge von Schismen, denen unter anderem die christliche Orthodoxie entstammt, seinen Ausgang genommen hatte: in der antiken Philosophie. Ohne es ausdrücklich zu sagen, kam er auf eine historische Niederlage des Christentums zu sprechen, an der zwei einander merkwürdig ähnliche Todfeinde den entscheidenden Anteil hatten: Das byzantinische Kaiser- und Gottesreich am Ende seiner Herrlichkeit und das islamische Imperium auf dem Höhepunkt seiner Welteroberung. Eine christliche Orthodoxie, die an hohlem Prunk, geistverlassener Inszenierung und durch unendliche Verbotslisten und Vorschriften in schrankenloser Willkür und innerer Leere kaum mehr zu überbieten war, stand einem Feind gegenüber, der für sich in Anschlag bringen konnte, den unter dem Joch der Byzantiner stehenden Bewohnern des oströmischen Imperiums teilweise ein erträglicheres Leben verschaffen zu können. Der Feind Konstantinopels erwies sich in mancher Hinsicht als eine reformiertes Ostrom frei von Skrupeln und großzügiger im gleichwohl totalen Zugriff auf die Unterworfenen. Aber dem Besiegten war er in der Ersetzung der Kultur durchs Ornament, der Staatsklugheit durch Willkür, und schließlich in der Definition des Glaubens als bedingungslose Unterwerfung unter die unhinterfragbare Regel merkwürdig ähnlich. Der Papst maßte sich an, als katholischer Theologe vom Unterschied zwischen Westen und Osten zu sprechen und ein seit Thomas von Aquin eigentlich kanonisiertes Urteil zu bekräftigen: Der Option für den Westen, als des längst nicht mehr geographisch bestimmbaren Ortes, an dem die Vernunft über die Willkür, die Theologie über die schrankenlose Transzendenz des Göttlichen den Sieg davon getragen hat. Am 12.9. also hielt Ratzinger in engem Rahmen – aber für die große Öffentlichkeit gedacht – eine Rede, die vom Verhältnis von Glaube und Vernunft handelte, die merkwürdi­gerweise gerade im Westen überhaupt keiner mehr verstehen wollte. Unter den Genervten waren keineswegs nur europäische Islamversteher und Kulturrelativisten, sondern auch der Vernunft scheinbar weit zugänglichere Gestalten wie Jeffrey Gedmin, der Berliner Sprecher des Aspen-Instituts, der in antideutschen oder ex-antideutschen Kreisen wegen seiner beherzten Zwischenrufe gegen Israel- und Amerikafeindlichkeit in der Welt gern als Bündnispartner gehandelt wird.

Common sense als Massen-Konsens

Gedmin hat sich in einer in der Welt vom 20.9. erschienen Glosse zur Regensburger Papst-Rede, wie die europäische Pressemeute auch, allein auf das inkriminierte Zitat beschränkt und noch nicht einmal versucht, es in den Kontext der Rede zu stellen. „,Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst Du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.‘ So zitierte der Papst Kaiser Manuel II. Ich habe Kommentare gelesen, die den Kontext des Zitats erklären. Ich habe gelesen, die Papst-Rede sei wundervoll geschrieben, und der Papst habe das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wer würde das bestreiten? Trotzdem: Wo bleibt der gesunde Menschenverstand?“ Was immer Gedmin unter gesundem Menschenverstand verstehen mag: Offensichtlich fällt unter diese Sonderform der praktischen Vernunft der grundsätzliche Widerwille, ein Zitat im Zusammenhang eines länglichen und zudem komplizierten Textes philosophisch-theologischer Natur, in dem es steht, zu erfassen und es vor diesem Hintergrund auf seinen Sinn- und Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Die US-amerikanische Politologin Anne Applebaum scheint die Rede anders als Gedmin, der das nicht nötig hatte, zwar gelesen zu haben, geht aber genausowenig darauf ein, sondern erteilt eine weitere Lektion in gesundem Menschenverstand – scheinbar den Anhängern des Propheten, in Wirklichkeit aber dem Papst, über dessen Vortrag sie in geheimnisvollem Bündnis mit ihren Lesern, die ihn nicht kennen, urteilt: „blicken wir der Wahrheit ins Auge – eine zutiefst obskure Rede“ (Welt, 23.9.). In ihrem Artikel verteidigt sie lediglich des Papstes Recht auf Meinungsfreiheit gegen das marodierende Unrecht aufgeputschter Moslems, wie man eben das Recht der Spinner auf der Seifenkiste in Hyde Park Corner verteidigt, ihr obskures Zeugs einem amüsierten Publikum mitzuteilen. Das ist nur wenig mehr als man in Old Europe gewohnt ist, wo die Meinungsmacher in fast der gesamten Presse den Papst als Brandstifter und wahren Fundamentalisten verunglimpften. Schließlich sind sich Applebaum und Ged­min mit ihnen darin einig, daß die Einlassungen des Papstes jedenfalls nicht das Niveau gesunden Menschenverstandes erreicht hätten und mithin keine kritische Beurteilung verdienten.

Während Applebaum sich darauf beschränkte, ein Recht, auch zutiefst obskure Reden gegen fanatische Mordbrenner zu halten, zu verteidigen, ging Gedmin, dem islamische Weltkriegsprediger genauso zuwider sind, einen entscheidenden Schritt weiter, als er formulierte: „Aber gesunder Menschenverstand läßt die Sache anders betrachten. Ich glaube, wenn ich Muslim wäre, hätte die Rede des Papstes mich verletzt. In vielen Kommentaren und in der kleinlichen Bekundung päpstlichen Bedauerns vermisse ich Einfühlungsvermögen. Gebietet Fairness nicht, gerade weil ich kein Muslim bin, daß ich zumindest versuche, mich in die Position des anderen zu versetzen?“

Unvernünftig ist es solcher Definition zufolge offenbar, einem anderen eine so unangenehme Auskunft über ihn selber oder seine Glaubensüberzeugungen und -praktiken zu geben, daß dieser sich dadurch verletzt fühlt. Vernünftig scheint es dagegen zu sein, sich dem anderen so sehr anzuverwandeln, daß man seine verletzlichen Seiten in aller Diskretion nicht nur schont, sondern sich als mitfühlender Zeitgenosse nach dem schlechten Prinzip zu eigen macht: Füge einem anderen nicht zu, was du am eigenen Leib nicht erleben willst. Damit wird nahegelegt, daß die Praxis der sehr fragwürdigen Rolli-Rallies (während derer abwechselnd je ein Zivildienstleistender den Querschnittsgelähmten spielt und der andere ihn in der Öffentlichkeit spazieren schiebt, damit beide am eigenen Leib erleben, was es heißt, behindert zu sein) auf den kritischen Kampfschauplatz übertragbar seien. Dem Anspruch des Querschnittsgelähmten – der sich seinen Zustand weder ausgesucht hat noch befähigt ist, ihn rückgängig zu machen – wegen seiner Behinderung auf besondere Rücksichtnahme in der Welt der Nichtbehinderten rechnen zu dürfen, wird in der Logik der neuen Sensualisten offenbar auch ein Recht auf selbstverschuldete und jederzeit revidierbare geistige Beschränkung an die Seite gestellt. Die entsprechende mentale Verwirrung gilt konsequent nicht etwa nur als zu tolerierende (soweit daraus kein Recht, anderen Schaden zuzufügen, abgeleitet wird) Abweichung von der Vernunft, ihre bedingungslose Akzeptanz wird vielmehr zum Prüfstein für gesunden Menschenverstand.

Das Konzept des gesunden Menschenverstandes, auf das sich Gedmin hier beruft, ist originärer Ausdruck angelsächsischer Philosophie seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und zugleich Ausdruck britischen und später vor allem amerikanischen Pragmatismus‘ oder Alltagsverstandes, der sich an der Realität islamischer Formierung notwendig blamieren muß. „Gesunder Menschenverstand“ meinte ursprünglich eine im autonomen warentauschenden Bürger selbstverständlich angelegte Fähigkeit, sich mit seinen Mitbürgern und letztlich auch dem Staat vernünftig, das heißt: unter besonderer Berücksichtigung der eigenen privaten Interessen, in ein gedeihliches Verhältnis zu setzen. Gerade weil dem Bürger seine Privatautonomie das höchste Gut war und er auch im Mitbürger genau diese Haltung zu Recht vermuten durfte, war es ihm zutiefst fremd, sich in die Welt der Glaubensüberzeugungen, Meinungen oder des jeweiligen Spleens seiner Nachbarn einzumischen. Niemals würde die Zugehörigkeit zu einer der zahlreichen protestantischen Sekten, oder die Leidenschaft, englische Schlachten im Sandkasten nachzuspielen, wie Onkel Toby in „Tristram Shandy“ es tut, einen common sense aufkündigen, demzufolge der geregelte Geschäftsgang, das allgemeine und gleiche Gesetz und die wählbare Repräsentanz der Bürger im Staat unhinterfragbarer Bestandteil jedes vernunftgemäßen Denkens oder Handelns wären. Mehr noch: Die privaten Glaubensüberzeugungen – so seltsam sie manchmal auch den zeitgenössischen Beobachtern vorkamen – wurden rasch als eine Humanressource erkannt (siehe Tocqueville), die letztlich dem amerikanischen Traum auf die Sprünge halfen: Selbstdisziplin bis zur Askese. Diese christlich geprägten Humanressourcen von fundamentalistischem Übermut, der letztlich den Geschäftsgang beeinträchtigt hätte, zu trennen, ist das Verdienst einer Verfassung, die den privaten Schwärmereien eine Grenze setzte, die im Notfall gewaltsam durchgesetzt wurde und wird.

In den Bereich der möglicherweise irgendwann gemeinschädigenden Schwärmerei ist letztlich auch jede Philosophie geraten, die sich anmaßt, nicht nur anderer Leute Glaubensüberzeugungen um der Wahrheit willen anzugreifen, sondern darüber hinaus jene scheinbar ontologisch vorausgesetzte Vernünftigkeit des Warentauschs und seiner Agenten, sowie des staatlichen und gesellschaftlichen Rahmens, in dem sie wirksam wird, zum Gegenstand grundsätzlicher, also fundamentaler Kritik zu machen. Der urbürgerliche Selbstschutz, die Empfindlichkeit des Bürgers gegen jeden Einwand wider sein privates und öffentliches Gebaren, die darin liegende (vorfreudianische) Psychologie fand in der angelsächsischen Philosophie die Antwort auf die Metaphysik, und hier insbesondere die vom deutschen Idealismus ausgehenden Indiskretionen, die stets nur neue Verletztheiten zur Folge hätten. Sensualismus wird dieses Projekt seit Locke und Hume genannt, das zunächst durchaus sympathisch den Blick auf den je einzelnen Akteur und seine sehr privaten Lebensäußerungen und Empfindlichkeiten lenkte – immerhin ein Selbstschutz vor mit der Macht der Geschichte ausgestatteten Terroristen der Philosophie und Praxis wie den Schreckensmännern der Jakobinerdiktatur. Und immerhin auch der Ausgangspunkt für Kants Überwindung des Sensualismus, die den aktuellen Papst viel mehr auf die Palme treibt, als es Hume und Diderot zusammen vermöchten.

In einer Zeit des Verfalls bürgerlicher Gesellschaften jedoch fungiert „common sense“ vor allem als Demokratisierung der Urteilskraft und damit Tyrannei der Mehrheitsmeinung, des schlechten kollektiven Subjektivismus über jede Empirie, die doch eigentlich tragende Säule der angelsächsischen Philosophie war. „Common sense“ wollte einmal, indem er am Vorrang objektivierter Erfahrung für die Urteilsbildung festhielt, den überkommenen europäischen Doktrinen, die, indem sie den Geist als unabhängig postulierten, die feudale Tyrannei nicht ankratzen konnten oder sich ihr gar andienten, ein Bollwerk der Vernunft entgegensetzen, das dem Bürger Instrument seiner Autonomie sein sollte. Im postmodernen Zeitalter, das den Idealismus – und mit ihm den Universalismus – kühl verabschiedet hat, ist daraus die frohe Botschaft geworden, daß Wahrheit eine Frage des kollektiven Konsenses sei, also des kleinsten gemeinsamen Nenners der herrschenden Meinungen, mögen diese auch noch so irre und realitätsverloren sein.

Toleranz und freiwillige Selbstbeschränkung

Die Toleranz entpuppt sich letztlich als die Unterwerfung unter nostalgisch verbrämte Sekundärtugenden, denen ontologisch aufgeblasen eine auf Verzicht, unendliche Arbeit und Jenseitshoffnung gründende Ideologie eingeschrieben ist, die angeblich höchstindividuelle Züge trägt und daher allein vom Gewissen getragen ist.

Jeffrey Gedmin: „Mein Standpunkt ist zugegebenermaßen ziemlich subjektiv: Vor kurzem habe ich Khaled Hosseinis ‚Drachenläufer‘ gelesen, eine kraftvolle Geschichte über Mut, Würde, verlorene Ehre und Erlösung. Geschrieben hat es ein Arzt, der in Kalifornien lebt und dessen Name sich nicht sehr christlich anhört. Hosseinis Protagonisten sind zwei Jungen in Afghanistan. Der Islam scheint sie nicht davon abzuhalten, erfüllt und prinzipientreu zu leben.“ Der haltlose Versuch, in einer völlig islamisierten, entstaatlichten und frei von jeder verbindlichen Form von Vergesellschaftung vor sich hin darbenden Region, ausgerechnet den puritanischen amerikanischen Siedlermythos aus Mut, Würde, verlorener Ehre und Erlösung im Einklang mit dem Islam am Wirken zu sehen, macht einmal mehr deutlich, wie sehr sich die Stimme des Gewissens, das sich aus solchem Obskurantismus speist, unfreiwillig von seiner materiellen Basis, der amerikanischen Republik und dem individuellen Gewinnstreben emanzipiert hat. Nur so ist es möglich, daß ein ganz und gar laizistischer, kapitalistischer und liberaler Kolumnist voller „Einfühlungsvermögen“ die Verletztheit von Menschen verständnisvoll nachvollzieht, deren Wertekanon sich vom amerikanischen fundamental dadurch unterscheidet, daß ihnen jede Vermittlung von Glaube und Vernunft, privatem Interesse und jenseitig orientiertem Kampfauftrag fehlt. Genau an diesem Punkt hat der Theologe aus dem Vatikan angesetzt und seine Kritik weit über das Niveau eines vom gesunden Menschenverstand in seiner Verfallsform befallenen Ideologen hinausgetrieben.

Vernunft und Offenbarung

Der Papst hat nämlich nicht vom gesunden Menschenverstand gesprochen, nicht von den Befindlichkeiten eines notwendig ideologisch zugerichteten Individuums und seiner größenwahnsinnig in Anschlag gebrachten Meinung, sondern als Metaphysiker unter Absehung, von den je Einzelnen notwendig bornierten Bedürfnisse nach der „Vernunft des Glaubens“ gefragt und damit an einer Arbeit angesetzt, „die notwendig zum Ganzen der universitas scientiarum gehört, auch wenn nicht alle den Glauben teilen konnten, um dessen Zuordnung zur gemeinsamen Vernunft sich die Theologen mühen.“ (1)

Dort, wo mit Jeffrey Gedmin die Mehrheit der Feuilletonisten ihr Papst- bzw. Kaiser-Manuel-II-Zitat beendeten, fuhr der Papst so fort: „Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. ‚Gott hat kein Gefallen am Blut‘, sagt er, und nicht vernunftgemäß, nicht ,sun ló gw‘(2) zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.“ Auch wenn Ratzinger im folgenden Kaiser Manuel noch mit einem Bekenntnis zur Bekehrung ohne Gewalt zitiert, geht es gerade nicht um die unheilvolle Geschichte gewaltsamer Bekehrungen, die lange genug nicht nur Wesen des Islam, sondern auch des praktizierten Christentums war, was Ratzinger noch nie geleugnet hat, sondern um den fundamentalen Unterschied im Wesen zweier Religionen. Der läßt sich nur teilweise aus der Realgeschichte gewinnen, sondern muß der jeweiligen Theologie, dem Umgang mit dem geoffenbarten Wort und seinem Verhältnis zur Wissenschaft entnommen werden. Daß genau dieser unterschiedliche Umgang mit scheinbar so unbedeutenden, rein geisteswissenschaftlichen Kategorien, letztlich zu einer sehr anderen Entwicklung der jeweiligen Realgeschichte geführt hat, ist für Positivisten ein unerklärliches Rätsel, das erst materialistische Kritik zu lösen vermag, die bereit ist, sich der erstaunlich kritischen Religionsgeschichte Ratzingers zu stellen und auch deswegen genau dort, wo er beruflich versagen mußte, über ihn hinaus geht.

Die Kernaussage der Ratzingerschen Islamkritik wurde vielfach verschwiegen: An Manuels II Argumentation ansetzend führt Ratzinger aus: „Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Herausgeber, Theodore Khoury, kommentiert dazu: Für den Kaiser als einen in griechischer Philosophie aufgewachsenen Byzantiner ist dieser Satz evident. Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unsere Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, das Ibn Hazm soweit gehe zu erklären, dass Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und dass nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst treiben.“

Die absolute Transzendenz des islamischen Gottes, d.h. dass Allah auch absolut unvernünftig handeln und Unvernünftiges verlangen kann, wenn es ihm gefällt, muß sich real notwendig als absolute Tyrannei derer manifestieren, die behaupten, seinen Willen zu kennen. Hier ist der Glaube von keiner weltlichen Ordnung beschränkt, kann Unvernunft zur religiösen und damit zugleich zur unmittelbar gesellschaftlichen Pflicht werden. Dagegen hält Benedikt an der Verknüpfung von Glauben und Vernunft fest, die sich, wie er in einem weitgespannten historischen Bogen ausführt, im Christentum in dessen Verwobenheit mit der griechisch-hellenistischen Philosophie entstanden ist. Er spricht von einem „Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion (…), der uns heute ganz unmittelbar herausfordert.“ Ratzinger beschreibt diesen Scheideweg in der Folge als einen nicht nur zwischen Islam und Christentum, sondern auch innerhalb des Christentums sich auftuenden. Diese letztere, innerchristliche Spaltung sieht er als geschichtliches Produkt der Enthellenisierungsbewegungen, die den christlichen Glauben aus seiner Verbindung mit der griechischen Philosophie – und damit aus der von Sokrates zuerst systematisch entwickelten Vorstellung einer universalen Vernunft, die jeder Menschenseele potentiell eingeschrieben ist – herauszulösen bestrebt waren. Als Träger dieser Verwillkürlichung des Gottesbegriffs macht er zunächst und vor allem die protestantische Reformation aus, fügt aber einschränkend hinzu: „Hier ist der Redlichkeit halber anzumerken, daß sich im Spätmittelalter Tendenzen der Theologie entwickelt haben, die diese Synthese von Griechischem und Christlichem aufsprengen. Gegenüber dem sogenannten augustinischen und thomistischen Intellektualismus beginnt bei Duns Scotus (3) eine Position des Voluntarismus, die schließ­lich in den weiteren Entwicklungen dahin führte zu sagen, wir kennten von Gott nur seine Voluntas ordinata (4). Jenseits davon gebe es die Freiheit Gottes, kraft derer er auch das Gegenteil von allem, was er getan hat, hätte machen und tun können. Hier zeichnen sich Positionen ab, die denen von Ibn Hazm durchaus nahekommen können und auf das Bild eines Willkür-Gottes zulaufen könnten, der auch nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden ist. Die Transzendenz und die Andersheit Gottes werden so weit übersteigert, daß auch unsere Vernunft, unser Sinn für das Wahre und Gute kein wirklicher Spiegel Gottes mehr sind, dessen abgründige Möglichkeiten hinter seinen tatsächlichen Entscheiden für uns ewig unzugänglich und verborgen bleiben. Demgegenüber hat der kirchliche Glaube immer daran festgehalten, daß es zwischen Gott und uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie gibt (...). Gott wird nicht göttlicher dadurch, daß wir ihn in einen reinen und undurchschaubaren Voluntarismus entrücken, sondern der wahrhaft göttliche Gott ist der Gott, der sich als Logos gezeigt und als Logos liebend für uns gehandelt hat.“

Im 19. und 20. Jahrhundert, so Ratzinger treffend, wurde die Enthellenisierungstendenz auch in der katholischen Theologie einflußreich in Gestalt der Lehre Adolf von Harnacks, der „die Rückkehr zum einfachen Menschen Jesus und zu seiner einfachen Botschaft“ predigte, „die allen Theologisierungen und eben auch Hellenisierungen voraus liege (…) Dabei geht es Harnack im Grunde darum, das Christentum wieder mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen, eben indem man es von scheinbar philosophischen und theologischen Elementen wie etwa dem Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinheit Gottes befreie.“ Das kann Benedikt nicht recht sein, denn er will ja gerade an einem Christentum festhalten, das den Logos ins Feld führen kann gegen die subjektivistische Beschränktheit der Vernunft, also ihr Herunterbrechen auf einen ‚common sense‘, der eben auch unvernünftig sein kann, solange er nur ‚common‘ ist. Gegen die Beschränkung von Religion auf die Privatsphäre, ihre konkrete Anwendbarkeit und Nützlichkeit, hält er an der unlösbaren Verknüpfung von Glauben und Vernunft und der Universalität beider fest – und genau das ist das „Obskure“ oder „Dunkle“, über das Applebaum, Gedmin & Co lieber erst gar nicht zu sprechen anfangen wollen.

Die neuzeitliche Sehnsucht nach dem Willkürgott, die sich in der Ent-Intellektualisierung der Theologie manifestierte, war die unheilvolle Folge der zunehmenden Unvermittelbarkeit metaphysischer Fragen mit den Erfordernissen der instrumentellen Ratio. Die Frage nämlich, ob die praktizierende Vernunft denn auch tatsächlich vernunftgemäß praktizierte, ließ sich immer schwerer bejahen – also mußte diese Frage zu stellen, bereits verpönt werden. Wer sie stellt, gilt als geifernder Dogmatiker. Wer verlangt, daß das, was wahr ist, auch vernünftig sei und umgekehrt postuliert, daß nur das Vernünftige wahr werden solle, gilt solchen scheinbar aufgeklärten Theologen und gar nicht theologisch inspirierten liberalen Ideologen als totalitärer „Aufklärungsfundamentalist“. Der liberale Apologet kann das Ineinsfallen von Wahrheit und Vernunft so wenig gebrauchen wie der volkstümliche Theologe die Dreieinigkeit Gottes (5). Deshalb auch bricht Adorno in seinem Aufsatz „Vernunft und Offenbarung“ eine Lanze für die katholische Scholastik: „Auf ihrer mittelalterlichen Höhe erwehrte sich die christliche Offenbarungsreligion kräftig der Lehre von den zweierlei Wahrheiten als einer selbstzerstörerischen. Die große Scholastik, vorab die Summen des Thomas, hatten ihre Kraft und Würde daran, daß sie, ohne den Begriff der Vernunft zu verabsolutieren, nirgends ihn verfemten: Dazu ging die Theologie erst im Zeitalter des Nominalismus, zumal bei Luther, über.“ Der Papst, dem man wohl kaum eine besondere Affinität zur kritischen Theorie nachsagen kann, sprach in genau diesem Zusammenhang von Duns Scotus und eben auch Luther. Dieses gar nicht so große Wunder werden Adorno-Adepten, die ihr völliges Mißverstehen kritischer Theorie dadurch unterstreichen, daß sie sich stolz Atheisten nennen, nie begreifen können. Unbekümmert ob dieser Selbstzerstörung der Theologie durch ihren Verrat der Vernunft setzen sich heute die positivistischen Denker den wiederentdeckten, vermeintlich kindlichen Volksglauben als Narrenhütchen auf den Kopf und verhelfen so der Lehre von den zweierlei Wahrheiten zu einem späten Sieg. Die Sehnsucht nach dem Willkürgott war dabei auch immer die Sehnsucht nach eigener, subjektiver Willkür, nach einem Voluntarismus in Glaubensdingen, der an kein verallgemeinerbares Kriterium mehr gebunden ist. So schlug die vom Geschichtsgang entleerte Religion, die doch immer das Ganze, die Totalität umfassen wollte, um in totalitäre Ideologie: Die Gewissens- und Glaubensfreiheit wurde zum Tor in die große Unfreiheit. Das öffnet sich spätestens dann, wenn entweder die wichtigste Errungenschaft der nominalistischen Aufklärung, die immerhin der Verhimmelung der privatistischen Willkür in Schranken zu halten wußte, verloren geht oder nie in Kraft getreten war. Verloren geht so die Erkenntnis, daß Religionsfreiheit mehr noch als Freiheit zur Religion vor allem die Freiheit von Religion bedeutet. Dies wenigstens – aber eben auch nicht mehr – garantiert der angelsächsische Positivismus in der Nachfolge von Scotus und Ockham: daß der private Wahn, die Freiheit zur Religion, nur solange unantastbar bleibt wie er sich aus der Sphäre der öffentlichen Angelegenheiten heraushält, in welcher zwar nicht der Logos, aber immerhin das bürgerliche Gesetz in Form und an Stelle der göttliche Offenbarung auftritt.

Theologie: Verstorbene Mutter

Dass die Religion nur noch in Form des bürgerlichen Gesetzes existieren kann, also „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (Kant), wenn sie nicht zum Aberglaube degenerieren will, also zu einer willkürlichen Privatreligion, die nicht viel besser ist als Ökologie, Esoterik, Neopaganismus oder Islamismus – das ist es, was Ratzinger in seinem Plädoyer aus gutem Grund verschweigt. Der Versuch, Gottesglauben und Vernunft miteinander zu vereinbaren, mußte nicht nur scheitern, auch als spirituelle Anleitung inmitten einer zumindest instrumentell aufgeklärten Welt kann Gottesglaubengenau jene objektive Geltung nicht haben, die Theologie bei Augustinus noch annehmen konnte: als Lehre vom Erlangen des Seelenheils und der Erkenntnis in einem. Weil er weiß, daß er Theologie nicht noch einmal zur Grundlage des staatlichen Handelns deklarieren kann, wie Augustinus es tat, überführt selbst Ratzinger seine theologische Bemühung unfreiwillig in die selbe privatistische Beliebigkeit, die seine Gegner, die Harnacks und andere, immer schon auszeichnete. Es gibt kein Zurück zu Augustinus, weil es kein Zurück hinter Kant gibt, nicht einmal für den Papst. Kants Beweis, daß ein Gottesbeweis exakt genauso schlüssig geführt werden kann wie sein Gegenteil, der Beweis, daß es keinen Gott geben kann, daß also weder die Theologie noch der Atheismus der Unvernünftigkeit zu überführen sind, macht Gott eben zum „Ding an sich“, von dem niemand mehr behaupten kann, klare Weisungen zu empfangen, weder zum Führen des Staates, noch zur Grundierung der öffentlichen Moral. Die Vernunft ist seither allein und führt auch ihren Kampf gegen Sensualismus, Positivismus, Relativismus und Existentialontologie auf eigene Rechnung.

Die Verknüpfung von Glaube und Vernunft, die in Wirklichkeit eine Konfrontation war, an der der Glaube letztlich zerbrechen mußte, hat zur Aufklärung geführt. Das Festhalten oder Wiederauflebenlassen dieses alten Bündnisses muß scheitern. So teilweise luzide Benedikts Positivismuskritik auch sein mag, er hat doch mit der Verteufelung Kants, dem er vorwarf, dem Glauben „den Zugang zum ganzen der Wirklichkeit“ abgesprochen zu haben, den Fortschritt der Vernunft jenseits der Religion und jenseits des Positivismus bei allen damit verbundenen Irrtümern schlicht geleugnet, also die Konsequenz, die von Kant zu Hegel, zu Marx und zur kritischen Theorie führte. Ergo hält er einen Vernunftbegriff hoch, der vollkommen entleert ist und sich entsprechend banal liest. Denn was aus seiner Sicht von der positivistischen und instrumentellen Vernunft außen vor gelassen wird, ist natürlich nicht die kommunistische Frage nach einer von den Menschen selber im Interesse des Glücks und eines guten Lebens eingerichteten Gesellschaft, sondern „die eigentlich menschlichen Fragen, die nach unserem Woher und Wohin, die Fragen der Religion und des Ethos“, denen er „gemeinschaftsbildende Kraft“ zuschreibt.

Die Wiederversöhnung von Religion und Vernunft ist unmöglich. Die Religion kann bestenfalls bei kritischer Theorie seit Marx aufblitzen als Platzhalterin für eine besser eingerichtete Welt, als säkularisierte Transzendenz im Erlösungsgedanken. Die Theologie ist die verstorbene Mutter aller Wissenschaften, deren Angedenken man hochhalten muß, deren Denkfortschritt zu einem Fortschritt des Denkens zu machen wäre. Adorno: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“ (Vernunft und Offenbarung, in: Stichworte)

Immer wieder spricht Benedikt in seiner Rede von der „Weite“. In sie möchte er seine Gesprächspartner einladen, und in sie hinein will er den beschränkten Vernunftbegriff der Neuzeit zurückholen zum Kontakt mit dem Glauben. Das ist zu­nächst sympathisch, drückt sich doch darin auch das originär katholische Unternehmen aus, das in menschheitlich-universaler Absicht alle umfassen und integrieren will. Zugleich jedoch trägt dieser Wunsch eben auch regressive Züge: Der Tod der längst verstorbenen Mutter soll nicht anerkannt, der irreparable Bruch der Aufklärung zwischen Glaube und Vernunft geleugnet, und die Menschen nicht aus der kirchlichen Bevormundung in Mündigkeit und Selbstverantwortung entlassen werden.

Der Papst bleibt seinem Unternehmen, der weltumspannenden aber innerlich entleerten Einrichtung der ecclesia sancta treu, vollzieht ihre Geschichte, nicht zuletzt ihre Ideologiegeschichte nach, leugnet nicht die Brüche und zeigt damit unfreiwillig das Ende der Herrlichkeit auf. Weil er aber Theologie und Philosophie verbinden und an diesem Junktim notwendig scheitert, verrät er zuletzt das, was er an kritischem Gehalt in seiner kurzen Geschichte der katholischen Theologie zu Tage gefördert hat. Die Kantsche Intelligibilität, also die Annahme, daß der Geist an der äußeren Materie erkennt, was ihm ähnelt oder ähneln könnte, wird Benedikt gleich wieder Anlaß obskurantistischer Banalitäten, die im besseren Fall darauf hinauslaufen, das „Ding an sich“ wieder Gott zu nennen, worüber Kant sich eher amüsiert als gestört hätte, oder zu versuchen, des Außervernünftigen doch noch habhaft zu werden, was aber nur Unvernunft zur Folge haben kann – nämlich Banalitäten, wie sie das Religionslehrebuch im Einklang mit dem Astro-Kalender als „Sinnfrage“ verhandelt: „Dabei trägt, wie ich zu zeigen versuchte, die moderne naturwissenschaftliche Vernunft mit dem ihr innewohnenden platonischen Element eine Frage in sich, die über sie und ihre methodischen Möglichkeiten hinausweist. Sie selber muß die rationale Struktur der Materie wie die Korrespondenz zwischen unserem Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen ganz einfach als Gegebenheit annehmen, auf der ihr methodischer Weg beruht. Aber die Frage, warum dies so ist, die besteht doch und muß von der Naturwissenschaft weitergegeben werden an andere Ebenen und Weisen des Denkens – an Philosophie und Theologie.“

Rückzug ins Unbestimmte

Jenseits unserer kleinen Welt den großen Plan zu erkennen, der sogar einem Versicherungsangestellten seinen ganz persönlichen Platz im Weltenplan zuweist, das würde viele glücklich machen. Und so lädt der Papst ins „Weite“ ein, wohin man wohl am besten durch Gebet und Meditation gelangt. Gerade dieses Bedürfnis nach Sinnstiftung aus dritter Hand versucht die schale Methaphysik eines orthodoxen Katholiken mit seiner Melange aus Religion und Philosophie in der Zeit nach dem Glauben zu erfüllen. Als wüßte er selber, daß er mit seinem Anspruch, den Glauben der Vernunft zugänglich zu machen, ihn wie seine großen philosophischen und theologischen Vorgänger nur erneut entkräften kann, und daß mehr als eine vernunftbegründete Moral und ein Menschheitsanspruch auf irdisches Glück in der Nachfolge Immanuel Kants gar nicht einzufordern wäre, erschrickt er vor seinem eigenen Rede – und macht lieber eine radikale Kehrtwende. Er verbeugt sich vor der totalen Transzendenz, dem Willkürgott, vor der er zuvor so inbrünstig und völlig zu Recht gewarnt hatte.

Nur damit überhaupt noch geglaubt wird, vollzieht Benedikt der vernunftfeindlichen Ideologie eines Duns Scotus nach, gegen die er sich gerade noch mit großer Emphase gewendet hat, und das im Säuselton des Gedminschen Pragmatismus: „Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. In der westlichen Welt herrscht weithin die Meinung, allein die positivistische Vernunft und die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien universal. Aber von den tief religiösen Kulturen der Welt wird gerade dieser Ausschluß des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen.“ Indem sich der Papst hier am Ende seiner Rede empathisch auf die Empfindungswelt der „tief religiösen Kulturen der Welt“ bezieht, diesen in einem voreiligen Mißverständnis ein Interesse an der Universalität der Vernunft unterstellt, und zu allem Überfluß auch noch „innerste Überzeugungen“ in Schutz nimmt, die doch das erste Hindernis sind, das Aufklärung zu überwinden hätte, entscheidet er sich für den Glauben und gegen die Vernunft. Mit einem Handstreich entwertet er seine treffende Kritik der islamischen Vernichtungswillkür und des liberalen Konsensualismus, der diesen Vernichtungsfeldzug immer noch nicht wahrhaben will.

Dabei wäre dieser Vernichtungsfeldzug der „tief religiösen Kulturen“ nicht nur für den materialistischen Kritiker unmittelbar als Bedrohung zu verstehen, sondern eigentlich auch für den orthodox-katholischen Theologen, der kraft der Überlieferungen seiner Zunft immer noch als Platzhalter der Vernunft agiert – was totalitäre Moslems sofort gewittert haben. Mit Ratzingers Vorgänger Wojtyla nämlich ließ es sich einiger­maßen auskommen, auch wenn die konkurrierende katholische Mission in den afrikanischen und asiatischen Grenzgebieten des islamischen Reichs der Finsternis stets schon als strafenswerte Insubordination gegen den sicheren Endsieg des „wahren Glaubens“ betrachtet und entsprechend behandelt wurde. Im volkstümlichen Wojtyla, der dem von der katholischen Kirche so ingeniös über Jahrhunderte kanalisierten und zielgehemmten Volks-, sprich: Aberglauben Tür und Tor geöffnet hat, und der den katholischen Ritus durch seine Auftritte wieder auf das Niveau eines archaischen Rituals heruntergebracht hat (die widerliche Bodenküsserei des Polen läßt sich nur als symbolische Rückkehr zum Erdmutterkult verstehen) erkannten die Imame ihren eigenen Ungeist wieder und hatten offiziell am Pontifex nichts auszusetzen, der wiederum an ihren Praktiken nicht herumnörgelte – dafür umso lieber an Israel. Der neue Papst hat gerade in seinem Dogmatismus nicht nur die Rudimente der theologischen Vernunft wieder ans Tageslicht gefördert, sondern auch den populistischen Antisemitismus des Vatikans deutlich zurückgefahren (6). Und es ist dieser Dogmatismus, der ihn dazu anstachelt, dem Patchwork der Wahrheiten, in dem der Liberalismus auch der Illiberalität ihr Recht zugesteht, den Spiegel vorzuhalten und es als Konkurrenz der Willkürherrschaften zu denunzieren. Zu diesem Patchwork zählen historisch nicht nur der Islam, sondern auch Sekten aller Art, das „Deutsche Christentum“ und auch die katholischen Glaubensstaaten der jüngeren Vergangenheit: Franco-Spanien und Ustascha-Kroatien. Immerhin setzte Bene­dikt in seiner Regensburger Rede genau den Maßstab, nach dem es keine theologische Rechtfertigung für diese Regimes und damit auch die Nazi-Begünstigungs-Politik des unseligen Pius XII (7). geben kann. Auch wenn Bendedikt diesem Maßstab schließlich selber nicht gerecht wird und am Ende doch lieber für den Obskurantismus der Religiosität Partei ergreift, bleibt er doch seinen positivistischen Kritikern weit überlegen. Die Erinnerung an die Objektivität von Vernunft, die Benedikt in Regensburg gegeben hat, nicht verstehen zu wollen und daran nicht anknüpfen zu wollen, ist ein Armutszeugnis. Nicht für den Papst, denn seine Rede wurde nur in den Passagen „dunkel“, wo sie die Gedmins und Applebaums hervorragend verstanden hätten, sondern für eben jene liberalen Verteidiger des Westens, die dem Papst mit so ausgemacht dummen Zeug wie dem gesunden Menschenverstand und der Empathie für professionell beleidigte Moslems in die Parade gefahren sind.

ustus Wertmüller, Uli Krug, Joel Naber (Bahamas 51 / 2006)

Anmerkungen:

  1. Joseph Alois Ratzinger, Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, Ansprache in der Aula Magna der Universität Regensburg, 12. September 2006 zitiert nach: www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20060912_university-regensburg _ge.html
  2. griechisch, bedeutet eigentlich: „mit dem Wort“, übertragen in den theologisch-philosophischen Kontext ist das etwa so zu verstehen: „unter Anwendung der dem Menschen eigenen Urteilskraft“.
  3. Duns Scotus war zusammen mit seinem franziskanischen Ordensbruder William of Ockham Begünder des Nominalismus, jener Ansicht, die im späten 13.Jahrhundert geistig die mittelalterliche Ordnung zugunsten des heraufziehenden bürgerlichen Zeitalters aufkündigte. Weil der Wille (auch der göttliche) dem Intellekt vorgeordnet sei, wäre demnach nicht nur jede Ordnung der Namen für die Dinge, sondern die Ordnung der Dinge selber willkürlich – wenn auch aufgrund göttlicher Willkür. Augustinus und Thomas von Aquin (daher spricht Benedikt von „augustinisch“ und „thomistisch“) hatten dagegen den Intellekt als prioritär betrachtet: seine Fähigkeit, die Dinge zu ordnen und zu bewerten, käme direkt von Gott, wäre also das Göttliche am Menschen, weil Gott Logos ist und ungekehrt.
  4. Der nominalistische Angriff auf Thomas, den letzten großen, sokratisch argumentierenden Verteidiger der mittelalterlichen Ordo, revolutionierte diese schließlich, birgt aber die Gefahr, Erkenntnis im allgemeinen von der tatsächlichen Beschaffenheit der Erkenntnisobjekte zu lösen (jenes Problem, auf das dann die Kantsche Erkenntniskritik reagierte). Diese Gefahr fand 700 Jahre nach Scotus in der postmodernen Definitions-Willkür reinen Ausdruck: die bürgerliche Philosophie wurde im Greisenalter wieder kindisch, was man allerdings den Gründervätern des Nominalismus schwerlich vorwerfen kann.
  5. Lateinisch: „der geordnete Wille“.
  6. Cristoph Türcke wies darauf hin, dass der Widerwille gegen den Gedanken der Trinität ein Widerwillen gegen die Reflexion, gegen den angewandten Logos sei: „Hier erst ... entwicklen sich die gedanklichen und sprachlichen Mittel, um Dreifaltigkeit als etwas auszudrücken, was die Struktur der Reflexion hat – und Reflexion als etwas, was die Struktur der Dreieinigkeit hat: Identität, Unterschied und Einheit des Unterschiedenen. Gott ist einer: ‚Vater unser im Himmel‘. Gott ist in sich unterschieden: Vater und Sohn,. Und Gott ist der Zusammenschluß des Unterschiedenen: Heiliger Geist.“ (Sexus und Geist (, Lüneburg 2001, S.
  7. Benedikt sieht ganz nach katholischer Orthodoxie in den Juden nicht die Sachwalter des Bösen oder gar von Gott abgefallene Messias-Mörder (wie viele aus dem Reformchristentum, vom Islam ganz zu schweigen), sondern den entscheidenden, weil ausführenden Teil des Heilsplanes, den Gott mit seinem auserwählten Volk verfolgte: Ohne Tötung Christi hätte es keine Erlösung von den Sünden gegeben. So hat die jüngste Mäßigung des Vatikans gegen Israel vor allem theologische Gründe.
  8. Erst jüngst hat der Argentinier Uki Goñi belegt, welch aktive Rolle der Vatikan und sein damaliger Chef bei der Ausschleusung katholischer NS-Kriegsverbrecher ins antisemitische Peròn-Argentinien gespielt hat (Odessa. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin

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