Zwischen den meisten Geschwistern sind die innerfamiliären Rollen klar verteilt: Es gibt den good guy und den bad guy; es gibt den Streber, über dessen Karriere beim Geburtstag der Oma stolz berichtet wird, und seinen missratenen Bruder, dem es trotz aller Anstrengungen nicht gelingen will, die Sympathien der Sippschaft auf sich zu ziehen – und dessen verpfuschtes Leben gerade aus diesem Grund das zentrale Gesprächsthema jeder Familienfeier ist. Die Rollen zwischen den Gruppen des „bewaffneten Kampfes“ waren innerhalb der westdeutschen Linken ähnlich verteilt: Es gab die großmäuligen Genossen von der RAF, über deren „Abgehobenheit“ und „peinliche Avantgarde-Arroganz“ sich die Linke in nahezu jedem Kommentar zum Thema Stadtguerilla empörte. Es gab die Familien-Clowns von der Bewegung 2. Juni, die trotz der Schokotörtchen, die sie bei Banküberfällen gelegentlich verteilten, überhaupt nicht witzig waren. Und es gab die Streber von den Revolutionären Zellen, denen nicht nur die Restbestände der autonomen Szene auch heute noch, knapp fünfzehn Jahre nach ihrem letzten Anschlag, hinterher trauern: Abgesehen von sentimentalen Reminiszenzen, wenn das Berliner Autonomenblatt Interim vor gar nicht langer Zeit noch einmal den alten Slogan „Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle“ auf den Titel hievt oder wenn Wolf Wetzel von der autonomen Lupus-Gruppe dem autonomen Nachwuchs von der guten alten Zeit erzählt (1), in der „die Zellen“ noch jeden Monat pflichtgemäß ihr Anschlagssoll erfüllten, gelten die RZ als einzige Stadtguerillagruppe, die sich anlässlich ihrer Auflösung gründlich und selbstkritisch mit ihrer Geschichte befasst habe. Doch ebenso wenig, wie die Jahre des bewaffneten Kampfes mittels retrospektiver Verklärung durch ihre Protagonisten glorreicher werden, unterliegt auch die Auflösungsphase der Gruppe einem Missverständnis, denn es ging keineswegs um Selbstkritik, sondern darum, die antiimperialistische Ideologie zu modernisieren. Dass die RZ-Auflösungserklärungen Anfang der 1990er Jahre als Selbstkritik interpretiert wurden, war dem Schockzustand der Linken nach der deutschen Vereinigung zuzuschreiben, als man ganz überrascht feststellte, in welchem Land man lebte.
Der Grund für die unterschiedliche Sympathieverteilung unter den Stadtguerillagruppen dürfte weniger darin zu suchen sein, dass der Weg der RAF mit Leichen gepflastert ist. Erstens hatte die deutsche Linke nie etwas gegen Mörder einzuwenden (siehe die Solidaritätsarbeit für Pol Pot, Idi Amin oder Yassir Arafat). Zweitens sind die Revolutionären Zellen ebenfalls für mehrere Tote verantwortlich: Als ein Kommando der RZ und der palästinensischen Wadi-Hadad-Gruppe im Dezember 1975 die OPEC-Konferenz in Wien überfiel und elf Minister als Geiseln nahm, um ihre Regierungen aufzufordern, den palästinensischen Kampf gegen Israel noch stärker als bisher zu unterstützen, wurden ein libyscher OPEC-Angestellter, ein irakischer Sicherheitsbeamter und ein österreichischer Polizist getötet. Als Mitglieder der Gruppe 1976 gemeinsam mit Antisemiten der PFLP eine Air-France-Maschine, die von Paris nach Tel Aviv unterwegs war, kaperten, die jüdischen von den nicht-jüdischen Passagieren selektierten und zu Idi Amin nach Uganda flogen, starben die KZ-Überlebende Dora Bloch (2) und mindestens drei weitere Passagiere.
Im Mai 1981 erschossen die Revolutionären Zellen den hessischen Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry, einen der ersten Juden, die es seit der Ermordung Walter Rathenaus auf einen deutschen Ministerposten geschafft hatten. Es sei zwar, wie die Gruppe später erklärte, nicht geplant gewesen, Karry „in die ewigen Jagdgründe“ zu befördern; er sollte durch einen Schuss in die Knie „nur“ bewegungsunfähig gemacht werden. (Die Früchte des Zorns: 450) Allein der Ablauf der Tat – der Täter feuerte von einer Leiter, die an Karrys Schlafzimmerfenster gelehnt wurde, sechs Schüsse auf den schlafenden Minister – und die tödlichen Verletzungen im Bauchbereich lassen jedoch zumindest Zweifel an dieser Version aufkommen. Und so erklärten die Revolutionären Zellen nach der Tat auch lapidar, dass sie der Tod Karrys lediglich insofern bekümmere, „als dies nicht geplant war, wir damit das Aktionsziel verfehlten“. (ebd.)
Während sich die Revolutionären Zellen sowohl mit ihrem Antizionismus als auch mit ihrer Hetze gegen „Schweine wie Karry“ (ebd.: 452) ganz im linken Mainstream der Zeit bewegten, stand am Beginn des „bewaffneten Kampfes“ in der Bundesrepublik zunächst ein Bruch mit dem Großteil der Linken: Verwiesen die Protagonisten der Protestbewegung, die nach der Liquidierung ihrer antiautoritären Phase zu Tausenden in den akademischen Betrieb, eine der zahllosen proletarischen Avantgardeparteien oder gleich durch die Fabriktore strömten, immer wieder auf „historische Gesetzmäßigkeiten“ und hiervon vorgegebene Wartezeiten auf die befreite Gesellschaft, wussten die Gruppen des „bewaffneten Kampfes“ zumindest, dass das Kapitalverhältnis reif für seine Abschaffung ist, seit es sich in der Welt befindet. Während sich die Mehrheit der Maoisten, Stalinisten, Trotzkisten und akademischen Marxisten also als Exekutoren einer halluzinierten Tagesordnung der Geschichte begriff und ihre Vorstellung von Revolution, wie die Revolutionären Zellen 1974 kritisierten, kaum noch von Evolution zu unterscheiden war (ebd.: 108), verzichteten die Gruppen des „bewaffneten Kampfes“ zumeist auf solche autoritären Rückversicherungen. Sie verwiesen stattdessen ganz schlicht und materialistisch darauf, dass der Marxsche kategorische Imperativ auch dann richtig ist, wenn die Geschichte nicht mit naturwissenschaftlicher Exaktheit auf den Fluchtpunkt der freien Assoziation hinausläuft. Möglicherweise war diese – zumindest relative – Distanz zum Glauben an einen roten Faden der Geschichte der Grund dafür, warum sich die Stadtguerilla im Unterschied zur Mehrheitslinken zunächst nicht sonderlich optimistisch zeigte: In einem Interview vom Mai 1975 erklärten die Revolutionären Zellen, dass sich die Linke in einer „defensiven Phase“ befinde (ebd.: 98); für die von K-Gruppen und Spontis propagierte „Massenarbeit in den Betrieben“ gebe es derzeit „kaum eine Grundlage“ (ebd.: 108).
Diese berechtigten Zweifel am revolutionären Willen „der Massen“ hinderten die Gruppe jedoch nicht daran, im gleichen Interview ausgerechnet dem SB-Mitglied Oskar Negt vorzuwerfen, er kümmere sich „einen Scheißdreck um die Massen“. (ebd.: 99) Im folgenden Jahr beschuldigten sie die SPD, eine „Spaltung des Volkes“ zu betreiben (ebd.: 149); das BKA und die staatstragende Presse wurden als „kriminelle Vereinigung gegen das Volk“ bezeichnet. (ebd.: 145) Wie schon bei Rudi Dutschke und Hans Jürgen Krahl, die 1967 in ihrem „Organisationsreferat“, dem Initiationstext der deutschen Stadtguerilla, erklärt hatten, dass die „Propaganda der Schüsse“ in der Dritten Welt durch die „Propaganda der Tat“ in den Metropolen ergänzt werden müsse (Dutschke/Krahl: 139), war der Link zwischen der realistischen Einschätzung der Bevölkerung auf der einen und der revolutionären Begeisterung für die Massen auf der anderen Seite auch bei den Revolutionären Zellen das so genannte Manipulationstheorem. Soll heißen: Das deutsche Volk und sein Proletariat galten als „an sich“ revolutionär und lediglich durch Springerpresse, „Konsumterror“ und „falsche Bedürfnisse“ manipuliert. So sprachen die Revolutionären Zellen 1976 von einer „militärisch-psychologische[n] Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung“ (ebd.: 370) und halluzinierten eine riesige Verschwörung von Geheimdienst, Polizei und Presse gegen „die Massen“ am Werk: „Der Chef des Bundeskriminalamtes (BKA) Herold, bestellt regelmäßig die großen Nachrichtenagenturen, die Chefredakteure von Tageszeitungen und Magazinen, die Leiter von Rundfunk- und Fernsehanstalten zu sich. In den Sitzungen dieser kriminellen Vereinigung [...] wird die medienpolitische, psychologische Kriegsführung gegenüber allen gesellschaftlichen Bewegungen als Voraussetzung und Ergänzung polizeilich-militärischer Maßnahmen diskutiert, taktisch und strategisch abgestimmt. Die jeweilige Konzeption wird dabei auf den unterschiedlichen Leserkreis abgestimmt. Für die Frankfurter Rundschau werden andere Argumentationsstränge entwickelt als für die Zeit oder die Bildzeitung. Gerade auch die Kritik an den staatlichen Maßnahmen wird so bestimmt und durchgespielt. Die gleiche Scheiße, nur anders aufgewärmt, soll täglich in Gehirn und Unterbewusstsein gepumpt werden.“ (ebd.: 145f.)
Diese Vorstellungen von Verschwörung und Manipulation sind der Hintergrund, vor dem die Revolutionären Zellen in Anlehnung an die Wortführer der Protestbewegung davon sprachen, dass es ihre Aufgabe sei, „den Staat zu entlarven“. (ebd.: 98) So hatten Dutschke, Enzensberger, Horlemann, Salvatore und andere, die seinerzeit als „Studentenführer“ bezeichnet wurden, als „anonymes Autorenkollektiv“ schon 1968 in der Konkret erklärt: „Erst wenn die manipulative Gewalt der Herrschenden sich in die offene Gewalt zurückverwandelt hat, kann die verinnerlichte Gewalt der Lohnabhängigen sich zur proletarischen Gewalt befreien.“ (Konkret 6/1968)
Hinter dieser Entlarvungsstrategie stand im besten Fall ein interessiertes Missverständnis über das Land, in dem aus einer Revolutionären Zelle „viele Revolutionäre Zellen“ und schließlich die „Guerilla als Massenperspektive“ (Die Früchte des Zorns: 115) entstehen sollten. Denn der Faschismus, der von den Gruppen des „bewaffneten Kampfes“ immer wieder beschworen wurde, war hierzulande nicht der Faschismus, sondern der Nationalsozialismus; die berühmten Massen wurden nicht von der Bourgeoisie unterdrückt, sondern verschmolzen mit ihr zum „Wohle des Ganzen“ und zum Wehe der Juden zur Volksgemeinschaft.
Noch 1991, als es kurzzeitig so schien, als würde sich das wiedervereinigte Deutschland tatsächlich in ein „Viertes Reich“ verwandeln, signalisierten die Revolutionären Zellen, welche Vorstellung sie von ihrem Vaterland hatten: Im Februar versuchte eine Gruppe der RZ, die Siegessäule, an der sich in den 1920er Jahren schon Mitglieder der KAPD versucht hatten, zu sprengen; vier Monate später legte sie im Berliner Reichstagsgebäude zwei Brandsätze. Mit dem ersten Anschlag wollte die Gruppe nach eigenen Angaben gegen den bevorstehenden zweiten Golfkrieg und gegen „Männergewalt“ protestieren (ebd.: 656); mit den Brandsätzen im Reichstagsgebäude sollte, wie im Bekennerschreiben erklärt wurde, „wenige Tage vor der Entscheidung des Bundestages über den zukünftigen Regierungssitz Entscheidungshilfe“ gegeben und verhindert werden, dass Berlin eine „Bonzenmetropole“ wird. (ebd.: 655) Gerade mit diesen Anschlägen, mit denen sie auf die Ereignisse seit dem November 1989 reagieren wollte, signalisierte die Gruppe – wie eine andere Revolutionäre Zelle, die sich kurz darauf konsequenterweise auflöste, erklärte – dass sie sich inzwischen „völlig außerhalb von Zeit und Raum“ bewegte. (ebd.: 659) Das deutsche Kaiserreich, dessen Militarismus von der Siegessäule symbolisiert wird, war 1918 unwiderruflich untergegangen; der letzte Brandanschlag auf den Reichstag war hingegen im Februar 1933, am Beginn einer neuen Epoche, verübt worden. Auch wenn sich die Historiker inzwischen darüber streiten, ob das Gebäude tatsächlich, wie von Georgi Dimitroff in seiner berühmten Verteidigungsrede vor dem Leipziger Reichsgericht erklärt, von den Nazis in Brand gesetzt wurde, symbolisiert der brennende Reichstag doch eher die vollkommene Niederlage der Linken und den Beginn des Nationalsozialismus als das Aufbegehren gegen den deutschen Nationalismus oder Militarismus – geschweige denn gegen eine „Bonzenmetropole“.
Dabei hätten die späteren Mitglieder der Revolutionären Zellen spätestens im Zuge der Verhaftungswelle gegen die erste Generation der RAF, die den Ausschlag für die Gründung der RZ gab, wissen können, in welchem Land sie „Massenpolitik“ betreiben wollten. Nach der Mai-Offensive der RAF fahndete nicht allein der Polizeiapparat nach Baader, Meinhof, Ensslin und Genossen, sondern ein ganzes Land: Familien denunzierten ihre Nachbarn als Terroristen; Prominente, die, wie der unerträgliche aber garantiert Stadtguerilla-unverdächtige Heinrich Böll, zur Mäßigung aufriefen, wurden in der Öffentlichkeit als RAF-Unterstützer angegriffen. Auch als am 31. Mai 1972 aufgrund der Fahndungsmaßnahmen und Straßensperren das wohl größte Verkehrschaos in der Geschichte der Bundesrepublik entstand, reagierte die Bevölkerung mit mehr als nur Verständnis: „Ich habe nie wieder einen so hohen Grad an Identifikation zwischen Bürger und Polizei erlebt“, erinnerte sich Horst Herold, der oberste Terroristenjäger der Bundesrepublik, später. „Ich bin selbst mit dem Hubschrauber die Strecken abgeflogen, und wir begegneten eigentlich überall nur winkenden Autofahrern.“ (nach Aust: 238) Auch die Linke blieb nicht unbeeindruckt von dieser Identifikation von Staat und Volk: Auf die Wohnung, die die RZ-Mitbegründerin Brigitte Kuhlmann für Ulrike Meinhof besorgt hatte – und in der Meinhof schließlich verhaftet wurde –, wurden die Beamten nicht dank eigener Fahndungsmaßnahmen, sondern durch Meinhofs Gastgeber, einen linken Lehrer, aufmerksam: Er verständigte die Polizei.
Je stärker die Stadtguerilla die Distanz zwischen sich und denjenigen zu spüren schien, um deren Zuneigung sie sich verzweifelt bemühte, um so weiter näherte sie sich ihnen an: So agitierten die Revolutionären Zellen gegen ein „profitgieriges, menschenverachtendes Bonzenpack“ (ebd.: 117) und „Spekulantengesindel“ (ebd.: 315), verübten einen Anschlag auf einen „Spekulantenanwalt“ (ebd.: 311) oder deponierten im Haus einer „Spekulantensau“ (ebd.: 311) eine Bombe. Im Juni 1976 erklärten sie schließlich im Stil der National-Zeitung, dass sie ihren Kampf „als den eines kolonisierten Volkes, dessen Territorium von der bundesdeutschen Regierung dem US-Imperialismus als Hauptversorgungsgebiet und als militärische und strategische Zentrale [...] bereitgestellt wurde“, begreifen würden. (ebd.: 160)
Im Kampf gegen diese „Kolonisierung“ verübten die Revolutionären Zellen Anschläge auf amerikanische Militäreinrichtungen, Offizierskasinos und Kantinen der US-Army. Die amerikanische Politik, so begründeten sie einen dieser Angriffe 1981, setze sich, „um die Weltherrschaft zu erlangen, [...] skrupellos über das Selbstbestimmungsrecht aller Völker“ hinweg. (ebd.: 373) Als im folgenden Jahr im Rhein-Main-Gebiet Anschläge auf amerikanische Wohnviertel und ein Krankenhaus der US-Streitkräfte verübt wurden, gingen Polizei und Presse zunächst davon aus, dass die Revolutionären Zellen dafür verantwortlich seien. Die autonome Linke war begeistert. Kurz darauf stellte sich allerdings heraus, dass die Bomben von einer neofaschistischen Gruppe – deren Chef, Odfried Hepp, seine Ausbildung bei den palästinensischen Freunden der deutschen Stadtguerilla erhalten hatte (3) – gelegt worden waren. Die Revolutionären Zellen veröffentlichten mit „Beethoven gegen MacDonald“ einen ihrer bekanntesten Texte und bemühten sich, einen Unterschied zwischen ihrer eigenen Praxis (Stichwort: Antiimperialismus) und den Anschlägen der Neonazis (Stichwort: Antiamerikanismus) aufzumachen. Die Schuld für die vermeintliche Verwischung von Antiimperialismus und Antiamerikanismus suchten sie jedoch nicht bei sich oder beim radikalen Teil der Linken, sondern ausschließlich bei anderen: „linken Reformisten aller Schattierungen“, den „Matadoren der Friedensbewegung“ und dem „Unterschriftenkartell“: (ebd.: 366) „Die politische Verantwortung für die Verunsicherung darüber, wo die Urheber der antiamerikanischen Anschläge anzusiedeln sind,“ so die RZ, „liegt nicht bei uns oder anderen Gruppen der bewaffneten Linken. Nicht wir, sondern insbesondere Teile der Friedensbewegung ergehen sich in einem diffusen Nationalismus, verbreiten den Unsinn von der BRD als einem ‚besetzten Land‘.“ (ebd.: 366) Kein Wort davon, dass die Revolutionären Zellen die Deutschen noch fünf Jahre zuvor selbst als „kolonisiertes Volk“ bezeichnet hatten (ebd.: 160); kein Wort davon, dass auch die andere noch existierende Gruppe der „bewaffneten Linken“, die RAF, noch im September 1981 vom „Kolonialstatus dieses Landes“ gesprochen hatte. (Geschichte der RAF: 283, 290) Die richtige Kritik am Antiamerikanismus der reformistischen, friedensbewegten Linken wurde hier nicht nur zum Freispruch der radikalen Linken und ihres bewaffneten Armes. Das Schreiben der Revolutionären Zellen diente zugleich der Ehrenrettung des Antiimperialismus – und damit zugleich der Kernelemente des Antiamerikanismus: des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ und des „revolutionären Volkskriegs“, von dem die RZ noch 1983 sprachen. (ebd.: 378)
Wie alle Vertreter autochthoner Völker, die sich Sorgen um ihre Identität und Kultur machen, sahen sich auch die Revolutionären Zellen nicht nur von den USA, sondern auch von Juden bedroht. All denjenigen zum Trotz, die Israel immer wieder als ganz normalen Staat bezeichnet wissen wollen, verwiesen die RZ schon in der ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift Revolutionärer Zorn ex negativo auf die Besonderheit Israels. „Die Aktionen der Revolutionären Zellen“, so die Gruppe, „lassen sich in drei Bereiche unterteilen“: 1. „Aktionen, die den Kämpfen von Arbeitern, Jugendlichen, Frauen weiterhelfen sollen“, 2. „antiimperialistische Aktionen“ und 3. „Aktionen gegen die Filialen und Komplizen des Zionismus in der BRD“. (Die Früchte des Zorns: 88) Der Antizionismus erschien hier nicht einmal mehr als Subkategorie des Antiimperialismus; „Zionisten“ wurden vielmehr als eigenständiger Gegner neben „Imperialisten“ und normalen „Kapitalisten“ geführt.
Während die RAF den militanten Antizionismus ihren palästinensischen Genossen überließ – und sie hierfür als die neuen Antifaschisten feierte (Geschichte der RAF: 151) –, ließen es sich die Revolutionären Zellen nicht nehmen, selbst Hand anzulegen: Neben Unterstützungsarbeiten für das palästinensische Kommando, das 1972 bei den Olympischen Spielen in München ein Massaker unter der israelischen Olympiamannschaft anrichtete (vgl. Spiegel 38/1978), der Geiselnahme bei der OPEC-Konferenz und der Entführung der Air-France-Maschine nach Entebbe waren die Revolutionären Zellen und spätere RZ-Mitglieder (4) an mehr als einem halben Dutzend antizionistischer Aktionen beteiligt: Sie ließen einen Sprengsatz in einem El-Al-Büro explodieren, legten Bomben in Firmen, die angeblich „im Besitz der Zionisten“ seien (Die Früchte des Zorns: 88), und verübten Brandanschläge auf Kinos, die den Spielfilm „Unternehmen Entebbe“ zeigten. Die PFLP bedankte sich bei ihren deutschen Freunden damit, dass sie dem Kommando, das die Lufthansa-Maschine „Landshut“ im Herbst 1977 nach Mogadischu entführte, den Namen „Martyr Halimeh“ gab. „Halimeh“ (deutsch: „die Sanfte“) war der Kampfname der RZ-Gründerin Brigitte Kuhlmann, die 1976 in Entebbe erschossen wurde und einigen der selektierten Juden zuvor die Kippa vom Kopf geschlagen haben soll. (vgl. Koenen: 413)
Selbst die Gruppe der Revolutionären Zellen, die im Dezember 1991 die Ermordung ihres Ex-Genossen Gerd Albartus durch eine palästinensische Organisation öffentlich machte, konnte Verständnis für die damaligen Aktivitäten aufbringen. Der Nachruf auf Albartus, der noch immer als der Anfang einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Antizionismus gilt, diente jedoch weniger der Kritik des antizionistischen Weltbildes als dem Zweck, den Hass auf Israel auf die Höhe der Zeit zu bringen. Er enthält nicht einen richtigen Gedanken, der nicht sofort wieder durch Formelkompromisse und Beschwichtigungsfloskeln dementiert wird. In strikter Abgrenzung zur Marxschen Kritik, deren zentraler Stachel bekanntlich die Denunziation ist – „ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation“ (MEW 1: 380) –, betonten die Autoren, dass ihr Nachruf gerade nicht der Denunziation derjenigen dienen sollte, „mit denen wir damals gekämpft haben“ (Die Früchte des Zorns: 28): derjenigen also, mit denen die Revolutionären Zellen die Air-France-Maschine nach Entebbe entführt hatten und die zeitweise planten, Heinz Galinski, den damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins und langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, zu ermorden. (vgl. Jungle World 49/2000)
Als zentrales Argument gegen die Selektion von Juden fiel ihnen darüber hinaus ausschließlich ihre eigene Herkunft ein: „Unsere Geschichte“, so die Gruppe, schließe eine „vorbehaltlose Parteinahme“ aus. (Die Früchte des Zorns: 24) „So begreiflich die Schlussfolgerungen waren, die die Palästinenser aus ihren Erfahrungen der Vertreibung und Verfolgung gezogen hatten – wir konnten sie in der Konsequenz nicht teilen, ohne in einen unauflöslichen Widerspruch zu unserer Geschichte und unserem politischen Selbstverständnis zu gelangen.“ (ebd.: 25) Mit anderen Worten: Wir verstehen die Palästinenser, aber aufgrund der Vergangenheit dürfen „wir als Deutsche“ nicht jedes Mittel des Kampfes gegen Israel billigen, auch wenn man angesichts der israelischen Politik schon mal in Widerspruch zu seinem „politischen Selbstverständnis“ – hier kann nur das politische Selbstverständnis als Antifaschist oder Revolutionär gemeint sein – geraten und zum Judenfeind werden könnte. Zu diesem Verständnis für den „an sich“ berechtigten Kampf der Palästinenser passte auch die Rücksichtnahme auf die Mörder des Genossen und angeblichen Freundes. So erklärten die Revolutionären Zellen zwar, wie lieb und teuer ihnen Gerd Albartus gewesen sei. Sie weigerten sich allerdings, die Verantwortlichen – immerhin dürfte die Gruppe gewusst haben, mit welcher der unzähligen palästinensischen Mörderbanden Albartus in Kontakt stand – namentlich anzuprangern. Der Grund: Die Revolutionären Zellen fürchteten, den palästinensischen Kampf diskreditieren zu können. Obwohl der Terror palästinensischer Feme-Gerichte schon damals mehr Opfer unter den Palästinensern forderte als die Auseinandersetzungen mit den israelischen Sicherheitskräften, behaupteten die Autoren, „dass das, was in die Verantwortung einer einzelnen Gruppierung fällt“ – die Ermordung von Mitstreitern –, nicht „für den palästinensischen Widerstand in seiner Gesamtheit“ gelte: „Wir halten es für verkehrt, von den Regeln und Methoden einer Gruppe auf die Verfasstheit einer gesamten Bewegung zurückzuschließen.“ (ebd.: 32)
Anstatt aus den Regeln und Methoden einer Gruppe auf die Verfasstheit der Bewegung zu schließen, deren legitimes Produkt sie ist, gingen die Revolutionären Zellen zu Befindlichkeits- und Betroffenheitsrhetorik über: Angesichts des linken Antisemitismus’, der Selektion jüdischer Passagiere und palästinensischer Femejustiz sprachen sie im Stil eines Selbstfindungskreises bedeutungsschwer von sich selbst, von der „Gewalt in den eigenen Reihen“ (ebd.: 33), der „Ambivalenz und Gebrochenheit metropolitaner Subjektivität“ oder der Stärke, „in Gegensätzen denken und Spannungen aushalten zu können“. (ebd.: 30) Als sei Antisemitismus eine Falle, in die auch der kritischste Mensch immer wieder geraten könne, erklärten die Revolutionären Zellen, dass sie nach Entebbe „statt missverständlicher Aktionen“ gar keine machten, wenn sie „Bedenken hatten, ob sie vielleicht antijüdisch waren oder zumindest ausgelegt hätten werden können“. (ebd.: 26) Die antizionistische Praxis der 1970er Jahre wird hier zum gutgemeinten Engagement von Philanthropen, die entweder nur vergessen haben, dass sich bereits ihre Elterngeneration an der Verfolgung von Juden beteiligt hatte, oder dem Antisemitismus gutgläubig aber schuldlos auf den Leim gegangen sind.
Um weiter mit gutem Gewissen am „ehrbaren Antisemitismus“ (Jean Améry) festhalten zu können, musste entweder geleugnet werden, dass in Entebbe Juden selektiert worden waren – eine Gruppe der Revolutionären Zellen erklärte dementsprechend noch 1992, dass es im Verlauf der Flugzeugentführung keine „Auswahl“ von Jüdinnen und Juden gegeben habe und die Selektion lediglich „bürgerliche Medienpropaganda“ sei. (Die Früchte des Zorns: 58) –, oder dem Antizionismus musste eine Selbstbeschränkung auferlegt werden. Um auch weiterhin an die Fiktion eines Unterschieds zwischen Antizionismus und Antisemitismus glauben zu können, entwendete eine Fraktion der Revolutionären Zellen ihren Mitstreitern nach Entebbe kurzerhand den Sprengstoff. (vgl. Rauchzeichen) Der Grund: Der später als „Hardliner“-Fraktion bezeichnete Teil der RZ setzte auf eine „schnelle und harte Reaktion“ auf die Beendigung der Geiselnahme in Entebbe und diskutierte nach Aussagen des RZ-Aussteigers Hans-Joachim Klein über Anschläge auf die Vorsitzenden Jüdischer Gemeinden in Deutschland. (vgl. Spiegel 20/1977)
Weil die Revolutionären Zellen nach Entebbe also nicht auf Distanz zum Antizionismus gingen, sondern lediglich vor seiner logischen und zwingenden Konsequenz – der Parole „Tod den Juden“ – zurückschreckten, wies der Tonfall ihrer antizionistischen Erklärungen aus den 1980er Jahren keine großen Unterschiede zu ihrer israelfeindlichen Propaganda der 1970er Jahre auf: Nach dem Tod Heinz Herbert Karrys 1981 sprachen die Revolutionären Zellen von „zionistischen Verwicklungen“ des Ministers (Die Früchte des Zorns: 446), 1982 behaupteten sie einen „geplanten Völkermord“ an den Palästinensern (ebd.: 374); und noch 1988 bezeichneten sie Israel als „Apartheid-Regime“, riefen zum Boykott des jüdischen Staates auf und verübten einen Anschlag auf einen deutschen Importeur israelischer Produkte. (ebd.: 538) Selbst als der Text „Gerd Albartus ist tot“ 1991 veröffentlich wurde, erhob eine andere Gruppe der Revolutionären Zellen Einspruch gegen die kritische Ehrenrettung des Antizionismus und erklärte im Stil der 1970er Jahre, dass die „Existenz eines rassistischen Staates Israel“ die „Verweigerung des Existenzrechtes (sic! J.G.) für die PalästinenserInnen“ bedeute. (ebd.: 59)
Die Rede von einem Neuanfang nach Entebbe und dem „Deutschen Herbst“, die erstmals in den RZ-Schriften der frühen 1990er Jahre auftauchte, diente vor diesem Hintergrund nicht zuletzt dem Zweck, die Geschichte der Revolutionären Zellen den aktuellen Konjunkturwellen der Linken anzupassen. Die Aktivitäten, Anschläge und Kampagnen der Gruppe, die auch beim besten Willen nicht mehr schöngeredet werden konnten, wurden einer halbherzigen Kritik unterzogen und mit Hilfe der einschlägigen Stunde-Null-Rhetorik („Neuanfang“, „Neubeginn“, „Neugründung“ usw.) von der restlichen Geschichte der Revolutionären Zellen abgetrennt. Die Selbsthistorisierung, die die Gruppe seit dem Beginn der 1990er Jahre mit Hilfe von „kritischen Aufarbeitungen“ und Rückblicken betrieb, verfolgte, wie ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001 in einer Retrospektive auf „20 Jahre RZ“ unfreiwillig offen erklärten, vor allem das Ziel, „die Geschichte der 80er Jahre dagegen (zu) verteidigen, dass sie zugeschüttet wird mit alten Horrorgeschichten“. (Rauchzeichen)
Eine solche Verteidigung ist jedoch auch dann nicht möglich, wenn der Antizionismus und die „alten Horrorgeschichten“ von den Aktivitäten der Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren abgespalten werden. Ebenso wenig wie mit dem Antizionismus brachen die Revolutionären Zellen in den 1980er Jahren nämlich mit seinen innerlinken Voraussetzungen: der Liebe zum Volk, dem Glauben an die potentiell revolutionären Massen und der antiimperialistischen Vorstellung guter und unterdrückter Völker. Die Revolutionären Zellen begleiteten dementsprechend auch in den 1980er Jahren die Konjunkturwellen der jeweiligen Massenbewegungen – Anti-AKW, Frieden, Startbahn West usw. –, versuchten, mit diesen Bewegungen zu verschmelzen, lieferten den passenden Anschlag zum Thema, distanzierten sich nach der obligatorischen Enttäuschung vom Objekt ihrer Begierde, um dann wieder von vorn zu beginnen. Selbst als die Gruppe 1985 erneut auf Abstand zu den Neuen Sozialen Bewegungen ging, um mit ihrer Flüchtlingskampagne nach eigener Aussage eine „eigene Front“ zu eröffnen, wollte sie ihre Anschläge auf Asylbehörden und die Zerstörung der dort gelagerten Akten ausgerechnet als Beitrag zur „Rückgewinnung eines konkreten Antiimperialismus“ in den Metropolen begriffen wissen. (Die Früchte des Zorns: 539) Nach ihrem Abschied von den Neuen Sozialen Bewegungen setzte die Gruppe die Flüchtlinge einfach als neues revolutionäres Subjekt; die Migranten galten qua Herkunft als Verbündete.
Wie der klassische Völkerkunde-Antiimperialismus der KPD, des KBW oder der KPD/ML war auch dieser „neue“, „konkrete“ Antiimperialismus der Revolutionären Zellen eine der zahlreichen Umleitungen auf dem Weg zum Volk und zu den „Massen“ im eigenen Land. Eine Revolutionäre Zelle aus Nordrhein-Westfalen erklärte in ihrer Auflösungserklärung vom Januar 1992 zwar, dass sie nie an eine schnelle Verbrüderung von Flüchtlingen und deutschen Arbeitern geglaubt habe. (ebd.: 41) Tatsächlich wollten die RZ mit ihrer Flüchtlingskampagne jedoch die „soziale Frage“ auch für das autochthone Proletariat in der Bundesrepublik neu stellen; die beiden genannten Gruppen, die die Revolutionären Zellen 1983 als Protagonisten der „zukünftigen Kämpfe“ benannt hatten – die Ausländer und die „von sozialer Armut Betroffenen und Bedrohten“ –, sollten mit Hilfe der Kampagne miteinander in Beziehung gesetzt werden. (ebd.: 540ff.) An den Flüchtlingen, so die RZ, werde vorexerziert, was im Krisenfall auch den unteren Bevölkerungsschichten in der Bundesrepublik drohe. (ebd.: 540) In der Erklärung zu ihren Knieschüssen auf Günter Korbmacher, den Vorsitzenden Richter des Bundesverwaltungsgerichts, erklärten sie im September 1987 dementsprechend, dass es ihr Ziel sei, „einen Klassenkampf mit dem Volk und für das Volk“ zu führen. (ebd.: 558) Ganz im Sinn dieser geplanten Volksfront aus Migranten und der deutschen Unterschicht thematisierten die Revolutionären Zellen die Ausländerfeindlichkeit auf deutschen Baustellen, an der Aldi-Kasse oder in der Taz, wo seinerzeit ebenfalls über einen „Ausländerstopp“ diskutiert wurde (vgl. Taz vom 2. August 1982), allenfalls am Rande. Das Feindbild blieb auch hier der Staat, dessen Asylpolitik vor allem als „Herrschaftskalkül“ und Mittel der „Klassenspaltung“ begriffen wurde. (Die Früchte des Zorns: 540ff.)
Die Revolutionären Zellen bemühten sich im Rahmen ihrer Kampagne gegen die deutsche Asylpolitik jedoch nicht nur um eine Annäherung an die geliebten Massen. Mit ihrem Versuch, die richtige Solidarität mit denen, die in Asylbewerberheime gepfercht oder abgeschoben werden sollen, mit dem Antiimperialismus zu koppeln, waren sie zugleich einer der Generatoren bei der Transformation des Antiimperialismus. Nachdem infolge des linken Beifalls für Pol Pot, die Mullah-Revolution im Iran oder Neonazi-Anschläge auf amerikanische Militäreinrichtungen zumindest bei einem kleinen Teil der Linken eine zaghafte Abkehr von der Begeisterung für Völker und ihre „angestammten Rechte“ eingesetzt hatte, betrieben die Revolutionären Zellen mit ihrer Kopplung von Antirassismus und Antiimperialismus eine Modernisierung des antiimperialistischen Weltbildes. Der langsam diskreditierte Begriff „Volk“ wurde nach und nach durch das Wort „Kultur“ ersetzt; die Rasereien der autochthonen Völker wurden zum schützenswerten Kulturgut verniedlicht.
Das Resultat dieser antirassistischen Modernisierung des Antiimperialismus konnte nicht nur in einer Erklärung der Roten Zora, der frauenbewegten Abspaltung der Revolutionären Zellen, von 1995 nachgelesen werden: Die Gruppe, die sonst keine Gelegenheit ausließ, tatsächliche oder vermeintliche Frauenunterdrückung in den Metropolen zu geißeln, präsentierte hier ausgerechnet ein Loblied auf die bäuerliche Subsistenzwirtschaft, „kleinbäuerliche Familien“ und die „halb-nomadische Weidewirtschaft“ in Ost-Anatolien. (Radikal 153/1995) Auch in dem bereits erwähnten Nachruf auf Gerd Albartus, der von den Autoren auch als Abrechnung mit den bisherigen antiimperialistischen Gewohnheiten vorgestellt wurde, findet sich die Form von Kulturrelativismus, die das spätere Appeasement der Linken gegenüber dem Islam begründete. So wies die verantwortliche Revolutionäre Zelle zwar immer wieder darauf hin, dass die Gründe für die Ermordung Albartus’ nicht in seinen politischen Aktivitäten zu suchen seien: „Für uns“, so konnte die Gruppe im Wissen um Albartus’ vehementen Hass auf Israel erklären, „steht Gerds persönliche Integrität außer Frage.“ (ebd.: 22)
Ihre nahe liegende Vermutung, dass ihr Genosse von palästinensischen Tugendwächtern ermordet wurde, weil er homosexuell war, brachten sie allenfalls in einer Form zum Ausdruck, die ohne das Wissen um die damaligen Diskussionen und Gerüchte nach fünfzehn Jahren kaum noch entschlüsselt werden kann: Sie verwiesen darauf, dass Albartus „offensiv als Schwuler lebte“, „Veranstaltungen zum Thema Aids“ organisierte und die Schwulenszene auf Ibiza genoss, um wenige Zeilen später verdruckst zu erklären: „Unter Bedingungen, die von der Logik des Krieges diktiert werden, zählen unbedingte Gefolgschaft und Unterordnung, dort stoßen Ansichten und Verhaltensweisen, die nicht mit den gewohnten Mustern übereinstimmen, auf Misstrauen und Ablehnung“. Und weiter: Wo das Leben von „militärischen Angriffen, von permanentem Ausnahmezustand, von Ausgangssperren, Verhaftungen und Folter“ bestimmt werde, sei „wenig Raum für Ambivalenzen, die der metropolitanen Herkunft geschuldet sind“ – eine euphemistischere Umschreibung für Homosexualität dürfte sich nicht einmal in den Pamphleten der katholischen Kirche finden –; dort müsse „die Frage nach der eigenen Person fast lächerlich klingen“. (ebd.: 31) Auch wenn sich die verantwortliche Gruppe der Revolutionären Zellen dann doch entschied, diese Erklärung als zu „vordergründig“ zurückzuweisen (ebd.), spricht aus ihren Worten doch das Bedürfnis, die Barbarei der „Völker, die um Befreiung kämpfen“, unter ihr paternalistisches Kuratel zu stellen.
Diese Nähe zum paternalistischen Antirassismus verweist – und damit soll die eingangs aufgeworfene Frage wieder aufgegriffen werden – auf einen der Hintergründe des unterschiedlichen Beliebtheitsgrades der RAF und der Revolutionären Zellen. So dürfte der Hauptgrund für die linke Sympathieverteilung im unterschiedlichen Maß der Volks- und Bewegungsnähe beider Gruppen zu suchen sein. Zwar stand die RAF den RZ in Sachen Volksbegeisterung in nichts nach – Baader, Ensslin, Meinhof, Raspe, Mahler und Co. hatten bereits die dritte programmatische Schrift der RAF vom April 1972 mit der Mao-Parole „Dem Volke dienen“ überschrieben. Im Unterschied zu den Revolutionären Zellen sprach die RAF in den 1980er Jahren jedoch fast nur noch von sich und dem Staat; die Linke wurde in den diversen Erklärungen der Gruppe immer wieder in überaus angemessener Weise beschimpft. Die RZ hingegen agierten, trotz ihres kurzzeitigen Versuchs, eine „eigene Front“ zu eröffnen, stets nach dem Motto „aus der Bewegung, für die Bewegung“. Sie propagierten ihr Konzept einer „Gegenmacht in kleinen Kernen“ (Die Früchte des Zorns: 115), begriffen sich als „populäre Guerilla“ und suchten insofern auch mit ihren Aktionen – gegen Spekulanten, Zionisten usw. – immer wieder die Nähe zu den berühmten Massen. „Prinzip unserer Aktionen“, so erklärte die Gruppe 1981, „ist es […], dass sie ausgehen von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, an denen wir beteiligt sind, dass sie an den dort geführten politischen Auseinandersetzungen anknüpfen, dass sie unter der Fragestellung ‚bringen sie die Bewegung weiter‘ bzw. ‚verschärfen sie die Widersprüche‘ eindeutig bestimmbar sein müssen.“ (ebd.: 259) Mit diesem Konzept konnten die Revolutionären Zellen zu dem werden, was die RAF immer sein wollte: zur Avantgarde der Linken. Aufgrund ihres weiterhin propagierten Engagements in legalen Gruppen und ihrer obsessiven Bindung an die Linke konnten die Revolutionären Zellen frühzeitig Stimmungen erkennen, aufgreifen, zuspitzen und schließlich zurück in die Bewegungen tragen.
Die Revolutionären Zellen waren dabei jedoch nicht nur das, was die RAF immer sein wollte. Sie entsprachen zugleich dem Idealbild, das die diversen autonomen und „undogmatischen“ Linken von sich selbst hatten: Da der politische Standort der Revolutionären Zellen stets in der Nähe der jeweils beliebtesten Massenbewegung war, konnte ihnen im Unterschied zur RAF niemals Dogmatismus – hinter dem sich immerhin noch ein Rest des Rigorismus, der Konsequenz und der Überzeugungstreue vermuten lässt, die im goldenen Zeitalter des Bürgertums einmal die Person als Subjekt ausmachten – vorgeworfen werden.
Darüber hinaus verstanden sie es stets, ihre diversen Kurswechsel als Resultat nachdenklich-solidarischer Debatten in der WG-Küche, unendlicher Betroffenheit und eines tiefen Hineinhorchens in sich selbst zu präsentieren. Diese Selbstbespiegelung entsprach genau der Form von Selbstkritik, die die Linke immer wieder für sich einforderte: Sie tat niemandem weh, blieb im Rahmen des linken common sense und drückte sich stets vor der tatsächlichen Auseinandersetzung. Dabei hätten sowohl der RZ-Text über Antiamerikanismus („Beethoven gegen MacDonald“) als auch die Broschüre über die Friedensbewegung („Krieg – Krise – Friedensbewegung“) den Beginn eines tatsächlichen Bruchs mit Antiamerikanismus, Massenfetischismus und antiimperialistischer Volksbegeisterung darstellen können. Die darin formulierte Kritik bewegte sich bis zu einem gewissen Grad – und trotz aller Beschwichtigungsformeln und Zugeständnisse an die linke Mehrheitsmeinung – durchaus noch auf der Höhe der Zeit. Auch Wolfgang Pohrt wollte den Antiimperialismus in der ersten Hälfte der 1980er Jahre noch gegen den Antiamerikanismus verteidigen. (Pohrt: 70ff.) (Im Unterschied zu den Revolutionären Zellen verzichtete er allerdings darauf, dem radikalen Teil der Linken einen Persilschein in Sachen Antiamerikanismus auszustellen.) Während Pohrts zeitgenössische Artikel jedoch den Beginn einer umfassenden Kritik des linken Weltbildes markieren, stehen die nahezu gleichzeitig verfassten Texte der Revolutionären Zellen für die Kapitulation vor dieser Aufgabe; während Pohrts Aufsätze also trotz anfangs noch ähnlicher Aussagen auf einen Abschied von den Voraussetzungen des „linken Faschistengeschwätzes“ (Gremliza) zielten, wiesen die Texte der Revolutionären Zellen in die entgegen gesetzte Richtung: die Konservierung dieser Voraussetzungen unter veränderten Rahmenbedingungen.
Neben dieser permanenten Konservierung und Modernisierung linker Gewohnheiten – und das verweist auf einen weiteren Grund der linken RZ-Begeisterung – gelang es den Revolutionären Zellen, das Konzept Stadtguerilla zu demokratisieren. In den Verfassungsschutzberichten konnte Jahr für Jahr nachgelesen werden, dass das RZ-Konzept einer „Vermassung militanter Aktionen“ tatsächlich aufging. Seit Beginn der 1980er Jahre mussten die Verfassungshüter immer wieder konstatieren, dass die Anzahl der Brand- und Sprengstoffanschläge, die von unbekannten Kleingruppen nach dem Vorbild der Revolutionären Zellen verübt wurden, zunahmen. Vor diesem Hintergrund sprachen BKA-Chef Herold und der damalige Bundesanwalt Kurt Rebmann in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zeitweise davon, dass die Revolutionären Zellen die „gefährlichste deutsche Terroristengruppe“ seien. (vgl. Radikal 111/1982, 114/1983) Nach dem Muster der RZ, mit Hilfe der „Praxis-Sondernummern“ des RZ-Blättchens Revolutionärer Zorn, ihrer Bastelbroschüre „Feuer und Flamme für diesen Staat“ und weiterer Brandsatz- und Bombenbau-Guides der Gruppe konnte jeder autonome Hobbybastler seine eigene Revolutionäre Zelle werden; mit Hilfe ihrer Bastelanleitungen konnte jeder autonome Heimwerker seinem Ressentiment gegen Zionisten, Spekulanten, Amerikaner und andere „Volksfeinde“ (Die Früchte des Zorns: 558) Taten folgen lassen. (5)
Diese Volks- und Bewegungsnähe der RZ beeindruckte die RAF schließlich so sehr, dass sie sich ab 1992 um eine Annäherung an das frühere Konkurrenzunternehmen bemühte: In ihrer Deeskalationserklärung sprach sie plötzlich im Stil der Revolutionären Zellen von einer „Gegenmacht von unten“, bezog sich positiv auf die Autonomen in der Hamburger Hafenstraße, die damals schon mit Pippi Langstrumpf für sich warben, und präsentierte die Bewohner der Hamburger Stresemannstraße, die 1991 eine Bürgerinitiative für Tempo 30 gegründet hatten, als Paradebeispiel an Widerständigkeit. (Geschichte der RAF: 431, 452f.) Damit wuchs am Ende des „bewaffneten Kampfes“ wieder zusammen, was zusammengehört.
Jan-Georg Gerber (Bahamas 54 / 2007)
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