Titelbild des Hefts Nummer 55
Scheißdeutsche
Heft 55 / Sommer 2008
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Caudillo voran!

Venezuela auf dem Weg zum totalitären Volksstaat

Im März war es mal wieder soweit: Hugo Chávez, der sozialistische Superstar unserer Zeit, bekam ein weiteres Mal die Chance, sich auf internationalem Parkett als zu allem entschlossener Antiimperialist aufzuführen. Als die kolumbianische Armee den Anführer der „marxistischen“ Mörderbande Farc, Raúl Reyes, getötet hatte und dafür bis auf ecuadorianisches Staatsterritorium vorgerückt war, warf sich der venezolanische Caudillo sofort in die Pose des Verteidigers gegen westliche Aggressionen. Dass Chávez wie sein ecuadorianischer Kollege Rafael Correa sofort Truppen im Grenzgebiet aufmarschieren ließ, war indes weniger durch die Verteidigung der Integrität des Staatsterritoriums motiviert als vielmehr einer außenpolitischen Taktik geschuldet, die darauf abzielt, die militärische, finanzielle und logistische Unterstützung der Farc durch Venezuela zu vertuschen. Seit Jahren betreibt die Farc ihren schmutzigen Guerillakrieg von ecuadorianischem und venezolanischem Territorium aus, ohne daran auch nur ansatzweise von Chávez und Correa gehindert zu werden. Kolumbien wird von Chávez als Brückenkopf des westlichen Imperialismus betrachtet, der die Einheit Lateinamerikas zu unterminieren trachte. Konsequenterweise denunzierte er unmittelbar nach der Tötung Reyes’ Kolumbien als „Israel Lateinamerikas“ (FAZ, 4.3.08). Und um gar kein Geheimnis daraus zu machen, welches Verhältnis er sich zu einem Staat wie Israel vorstellt, drohte Chávez sogleich mit Krieg. Dass der Streit schon nach einigen Tagen beigelegt wurde, war trotzdem nicht überraschend, denn es ist allgemein bekannt, dass Venezuela einen Krieg gegen Kolumbien weder ökonomisch noch militärisch gewinnen könnte. So reduzierte sich die kleine Affäre auf ein kräftiges Säbelrasseln, für das der Präsident bereits seit Beginn seiner Karriere bekannt ist.

Ganz falsch aber läge, wer daraus den Schluss zöge, man dürfe die markigen Worte des Caudillos nicht so ernst nehmen. Die offen zur Schau gestellte Großmäuligkeit ist keine Entgleisung, sondern steht exemplarisch für eine von der Ideologie des so genannten Bolivarianismus gespeiste, durch und durch irrationale und damit unberechenbare politische Strategie, die grundsätzlich jede Schandtat miteinkalkuliert – und die ernstzunehmen ist, da Chávez’ Konzept eines nationalen Bündnisses von Lumpenproletariat, Militär und bolivarianischer Aristokratie gegen die vermeintlichen Imperialistenknechte im Inneren und Äußeren aufzugehen scheint und bei einer satten Mehrheit der Venezolaner offensichtlich verfängt. Die Tatsache, dass die Mehrheit auch der Chávez-treuen Venezolaner nach wie vor arbeitslos oder im informellen Sektor tätig und somit ausgesprochen arm ist, sagt für sich genommen wenig über den Zustand einer Gesellschaft aus, wenn man außen vor lässt, welche Funktion diese verelendete Mehrheit in der Gesellschaft innehat. Zur Entschlüsselung dieser Funktion muss auf die Technik politischer Herrschaft, die die venezolanische Gesellschaft augenblicklich gewaltsam zusammenhält, eingegangen werden.

Zur Technik bolivarianischer Herrschaft

Der Bolivarianismus als ein dem eigenen Selbstverständnis nach republikanisches Konzept betreibt praktisch die Aufhebung des Republikanismus auf seinen eigenen Grundlagen und mit seinen eigenen Mitteln. Er behält alle Merkmale republikanischer Herrschaft – etwa freie Wahlen und Volkssouveränität – bei, unterminiert aber dessen stillschweigende Voraussetzungen, die sich auf den Resultaten der Aufklärung bewegen. Das seiner selbst bewusste Subjekt, das aus wohlverstandenem Eigeninteresse mit seinen Konkurrenten einen fiktiven Gesellschaftsvertrag eingeht und sich dem im allgemeinen Gesetz inkarnierten, im staatlichen Gewaltmonopol seinen Fluchtpunkt findenden objektiven Zwang unterwirft, tritt im Bolivarianismus nur noch als entsubstantialisiertes Subjekt in Erscheinung: indem sein realer Mangel an Privateigentum kurzerhand in eine Tugend umgemünzt und in eine direkte Abhängigkeit vom allmächtigen Staat übersetzt wird. Der Einzelne wird Almosenempfänger und Gefolgsmann zugleich und tritt dadurch als politisches – und zwar nur noch als politisches – Subjekt auf, das sich durch seine ungeteilte Loyalität gegenüber dem wahren Souverän beweist, dessen Macht dadurch nahezu schrankenlos wird, weil er alle Sphären der Gesellschaft durchherrscht und in Form von kommunalen Komitees sogar die einzelnen Straßenzüge unter Kontrolle hat. Die Privatsphäre als klassischer Rückzugsraum des Bürgers, in dem dieser sich die Zeit sowohl fürs Denken als auch für Genuss nehmen kann, wird nicht nur durch die prekäre Eigentumssituation, sondern auch noch politisch massiv eingeschränkt. Es darf keinen Rückzugsraum geben (1), denn alles soll im Namen der „partizipativen Demokratie“ öffentlich sein. Der totalisierte Zwangscharakter dieser Herrschaftsform besteht also nicht darin, dass keine freien Wahlen zugelassen würden, sondern darin, dass die logische Voraussetzung dieser Wahlen, die relative Autonomie des Individuums, ganz erheblich eingeschränkt wird. Das geht praktisch so vonstatten, dass die Chávisten ein dichtes Netzwerk von Nachbarschaftsinitiativen und so genannten „bolivarianischen Zirkeln“ aufgebaut haben, das den Einzelnen kontrolliert und als Mitglied einer verbindlichen politisch-moralischen Gemeinschaft zurichtet. Zusätzlich zu den verschiedenen bolivarianischen Stadtteilmilizen gibt es Nachbarschaftsräte, die Consejos Comunales, die einen Straßenzug laut Gesetz lückenlos erfassen und kontrollieren sollen. Das zuständige Ministerium schreibt den Consejos Comunales, die als „Wurzel der Volksmacht“ gesehen werden, u. a. folgende Aufgaben zu und spricht dabei den totalitären Charakter der bolivarianischen Herrschaft ganz unverblümt aus: „Soziale Kontrolle bei allen Aktivitäten ausüben, die sich in der Comunidad entwickeln, seien sie staatlicher, gemeinschaftlicher oder privater Art (Verpflegung, Bildung, Gesundheit, Kultur, Sport, Infrastruktur, Kooperativen, Missionen usw.) […] Die Ordnung herstellen und gegen die Kriminalität und die Korruption kämpfen.“ (2) Wie umfassend die soziale Kontrolle ist, wenn sie von Nachbarschaftskomitees ausgeübt wird, kann sich vorstellen, wer schon einmal Erfahrungen mit Denunzianten gesammelt hat. Aber nicht nur die neugierigen Nachbarn sind das Problem: Denn auch die Polizisten, insbesondere in den Barrios, werden dort eingesetzt, wo sie auch wohnen. So entsteht ein dichtes Netz unmittelbarer, d.h. persönlich ausgeübter Kontrolle. Die jeweiligen Patrouillen gehen zwar lokal und eigeninitiativ vor, handeln aber immer im höheren Interesse der Nation, das mit dem Willen Chávez’ identifiziert wird, der als Vaterfigur in jeder Entscheidungssituation präsent ist wie Gott in den Gläubigen. Parallel zur basisdemokratischen Kontrolle in den Barrios geht der Führer Chávez höchstpersönlich gegen Volksfeinde vor und simuliert darin die Verschmelzung von Volk und Staat. Oppositionelle und gewöhnliche Abweichler erleiden Repressionen auf allen Ebenen: Von der Enteignung unliebsamer Unternehmer (3) bis zur Entziehung der öffentlich-rechtlichen Sendelizenzen von Fernsehkanälen (4).

Das Chaos als Ordnung

Obwohl der Anschein größtmöglicher Homogenität der Massen herrscht, ist das venezolanische Gebilde tatsächlich durch ein alles durchdringendes Chaos der Loyalitäten gekennzeichnet. Chávez’ Staatsbürokratie lässt sich am ehesten als ein personaltechnisches Durcheinander charakterisieren, das stets im Wandel begriffen ist, weil ständig Minister und Beamte gefeuert oder zwangsversetzt werden. Chávez selbst ist es, der Kündigungen von vermeintlich unfähigen Schergen öffentlich bekannt gibt oder Angestellte aus der Verwaltung sogar vor laufender Kamera einmacht. Diese Form öffentlicher Hinrichtung, die die Schaulustigen anzieht wie der Misthaufen die Fliege, sorgt für eine Situation, in der das Chaos die eigentliche Ordnung ist. Die Struktur des Bolivarianismus ist das permanente Tohuwabohu, das dem Einzelnen jede Sicherheit nimmt und die individuelle Panik nährt, indem alle potentiellen Abweichler mit Ausschluss oder Herabsetzung bedroht werden. Diese Form von Unstaat, wie Franz Neumann gesagt hätte, ist die beste Voraussetzung für blinde Gefolgschaft und Führergehorsam. Freud schilderte in seiner Massenpsychologie, dass für den Bestand der Masse alles an der Illusion hängt, dass der Führer „alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt“ (5). Wenn diese Illusion zerplatzen würde, etwa weil der Führer stirbt, würde die Masse wieder in ihre Einzelteile zerfallen. Wohl deshalb ist Chávez in Venezuela überall präsent: Die Bilder sollen beweisen, dass Chávez lebt.

Die linken Kritiker des Chávismus stürzen sich in ihrer Kritik zumeist auf den Personenkult, der um den Caudillo betrieben wird, aber sie verstehen nicht, dass dieser der Kitt des Bolivarianismus ist und dass jener ohne diesen Kitt zusammenkrachen würde. Der Personenkult ist kein äußerlicher Makel, der nur beseitigt werden müsste, um einen echten und unverstellten Sozialismus zu verwirklichen, sondern er ist der Kern des Bolivarianismus. Chávez selbst weiß das, denn er sagte über sein Vorbild Fidel Castro: „Ohne Fidel scheint es keine Bewegung zu geben. Es ist, als wäre er alles.“ (6)

Die viel gelobte und von Chávez zur ersten Aufgabe erklärte Demokratisierung der Gesellschaft, die tatsächlich einer Ausschaltung des Parlamentes als Kontrollinstanz gleichkommt, spielt für die Konstitution der Masse eine unersetzliche Rolle. Indem Chávez als Anwalt des Volkes auftritt, suggeriert er, jedem Individuum zu seinem Recht zu verhelfen. Auch Freud sah schon den demokratischen Charakter der Masse: „Ein demokratischer Zug geht durch die Kirche, eben weil vor Christus alle gleich sind, alle den gleichen Anteil an seiner Liebe haben.“ (7) Und als solcher, als Christus, spielt sich Chávez deshalb auch keineswegs zufällig gerne auf. Er sieht sich selbst nicht nur als das Menschenkind Hugo Chávez, sondern eben auch als Heiland. In dieser Heilsbringervorstellung ist das Individuum so sehr ausgelöscht wie in den Mitgliedern der Masse. Bei Chávez hört sich das so an: „Wenn diese Person [der Caudillo] das schafft, wenn sie ihr Leben danach ausrichtet, mit der ihr gegebenen mythischen Kraft die Kollektivierung des Anführers, der Projekte und der Ideen zu bewerkstelligen, wenn ich mich aus all diesen Prozessen abstrahieren kann, dann rechtfertigt das die Präsenz eines caudillo.“ (8) Chávez betrachtet sich also selbst als Inkarnation einer mythischen Kraft, die ihre Lehre kollektiviert, d. h. unter der Mensch­heit verbreitet, der sie das Heil bringen will. Eine solche Messiasfigur eignet sich perfekt zur Identifikation. Der Masse nämlich geht es um Identifikation mit dem narzisstischen Führer und dafür ist es erforderlich, dass dieser alle zugleich anspricht und doch unnahbar bleibt. „Chávez ist das Volk“ heißt es deshalb auf Plakaten, die überall in Venezuela aushängen. Indem sich alle auf den Chávismo beziehen, schaffen sie eine Grundlage einer – negativen – Gleichheit, die sie aneinander bindet. Der Einzelne ahmt den Führer nach und richtet alles darauf aus, seine Gunst zu erwerben; er gibt seine Individualität auf, um mit dem Kollektiv verschmelzen zu können – aber diese Entindividualisierung geschieht je individuell und erfordert höchsten persönlichen Einsatz. Durch seine Einbindung in die Masse tritt das Individuum seine Freiheit an das Kollektiv ab und glaubt sie dadurch vervielfacht, mit der Konsequenz, dass das Individuum nicht mehr auf sich alleine gestellt existieren kann. Was die Form Masse mit dem Individuum in seiner ganzen Grausamkeit anstellt, wird oft erst ersichtlich, wenn sich die Masse auflöst und das nun isolierte Massenindividuum in Panik gerät: „Die gegenseitigen Bindungen haben aufgehört und eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei.“ (9) Soweit ist es in Venezuela glücklicherweise noch nicht. Es gibt in Venezuela verschiedene Interessengruppen, die einander bekämpfen und um die Macht im Staat ringen. Es gibt sowohl ein anti-chávistisches Bürgertum als auch eine linksradikale Opposition, die aller­dings relativ klein ist, weil der größte Teil der radikalen oder reformistischen Linken in der einen oder anderen Weise mit den Chávisten zusammenarbeitet oder zwangsintegriert wurde. Dennoch lässt die vom Regime instrumentalisierte Panik für die Folgen eines Zerfalls der Masse in einer Post-Chávez-Ära, die womöglich schneller kommt als im Augenblick zu vermuten steht (10), Schlimmes befürchten. Ein Bürgerkrieg wäre durchaus denkbar.

Die „prätorianische Garde“ des Hugo Chávez

Die Masse, auf die sich Chávez stützt, ist nicht ausschließlich, aber doch mehrheitlich die in den Barrios lebende verarmte Bevölkerungsgruppe. Sie profitiert, weil sie wenig bis buchstäblich nichts außer ihrer unerwünschten Arbeitskraft hat, am meisten von den misiones, den Almosenprojekten des Präsidenten. Das Lumpenproletariat, über das Engels einmal treffend sagte, dass es sich „vermittelst guter Zahlung“ rasch in eine „prätorianische Garde der jedesmaligen Machthaber“ (11) verwandele, bildet so unmittelbar zu­gleich die Machtbasis der bolivarianischen Bewegung und deren passive Schwungmasse, denn die armen Teufel aus den Vorstädten werden eben dadurch, dass sie mit den ohnehin kärglichen Segnungen des defizitären Staatshaushaltes beglückt werden, zugleich ordentlich in ihrer Heimat – dem Schmutz und der Enge der Barrios – festgehalten.

Dass in Venezuela die scheinbar Mächtigen – das „Volk“ – zugleich die Ohnmächtigsten sind, übersehen hiesige Linke in ihrem Eifer und drücken bezüglich der autoritären Form der politischen Herrschaft im besten Falle beide Augen zu, wenn sie sie nicht sogar in Schutz nehmen und verteidigen. Dass die misiones, die Almosenprogramme zur Bestechung der veramten Massen, doch nun wirklich eine tolle Sache seien, wissen deutsche Linke, die ja per definitionem zum Staatsfetischismus neigen, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Für sie ist der Gedanke, der Staat sei endlich einer „des ganzen Volkes“ (Lassalle), wie ein feuchter Traum. Doch es wird gegenwärtig lediglich die personelle Zusammensetzung des Staatspersonals verändert. Verstärkt besetzt die Regierung Chávez die Stellen im Verwaltungsapparat mit Angehörigen des Militärs. Die umworbenen Armen aus den Vorstädten werden in einem deutlich geringeren Maße an die Futtertröge des Staates gelassen. Sie sollen zwar die Herrschaft tragen und zum Zwecke ihrer Legitimierung einen Budenzauber veranstalten, der absurderweise von deutschen Freunden des venezolanischen Sozialismus immer mit Rätedemokratie in Verbindung gebracht wird – zu sagen haben diese Nachbarschaftsinitiativen und basisdemokratischen Zusammenschlüsse aber faktisch nichts. Sie dürfen Vorschläge unterbreiten und ihre Belange insoweit selbst regeln, als sie die Herrschaft nicht beeinträchtigen – die wirkliche Macht jedoch bleibt in den Händen der Bürokratie, die von Chávez selbst angeleitet und gesteuert wird. Konkret bedeutet das: Chávez und der kleine Kreis seiner politischen Berater schleusen neue, vertrauenswürdige Personen als funktionierende Rädchen ins Getriebe der Macht ein und entlassen andere, die der Menge per Fernsehen und Radio als „Verräter“ zum Fraß vorgeworfen werden. Dieser Umbau des Staates läuft – und wer das nicht sieht, will es nicht sehen – geradewegs auf eine Form autoritärer Herrschaft hinaus, die mit dem Wort „Diktatur“ keineswegs unzutreffend zu beschreiben ist. Das Verfassungsreferendum vom Dezember 2007, das Chávez faktisch zum Diktator erkoren hätte – es beinhaltete Vorlagen über eine unendlich mögliche Wiederwahl des Präsidenten, die direkte Unterstellung der Zentralbank unter die Regierung, eine Erlaubnis für den Militäreinsatz im Inneren, die direkte Unterstellung der Armee unter den Präsidenten sowie eine Neuaufteilung der Verwaltungszonen –, war der direkte Ausdruck dieses Strebens nach einer totalitären Gesellschaftsordnung. Dass es glücklicherweise gescheitert ist und den Weg Venezuelas zur Diktatur vorerst gestoppt hat, zeigt, dass die erhoffte Verbesserung der Lebenssituation sich für die Barriobewohner als große Enttäuschung erwiesen hat, weil zwar die soziale Kontrolle ins Unermessliche gestiegen, keineswegs aber abends mehr Fleisch auf dem Teller ist. Insofern ist Chávez’ Strategie zwar vorerst fehlgeschlagen, was Grund zur Freude ist, doch klar ist andererseits, dass das Referendum nicht der letzte Versuch war, den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auch verfassungsrechtlich zu installieren. Dass Chávez seine Niederlage eingestand, ist aber – anders als die meisten linken Lateinamerikaexperten behaupten – nicht seiner Ehrlichkeit und Offenheit zu verdanken, sondern gründet darin, dass er mit der Missachtung des Ergebnisses einen Bürgerkrieg riskiert hätte, dessen Ausgang ungewiss ist. Die venezolanische Gesellschaft ist heute tief gespalten und ein geringer Anlass würde hinreichen, um sie explodieren zu lassen. Aus diesem Grund muss Chávez noch mehr als zuvor auf die politische Feindbestimmung setzen und sie von der Innen- auf die Außenpolitik lenken. Seine demonstrative Freundschaft mit Achmadinedschad und Nasrallah wird aller Voraussicht nach noch intensiviert werden. Auch die oben angesprochene Farc dürfte von Chávez’ neuer Initiative profitieren.

Venezolanischer Antisemitismus

Wen es in Zukunft vermutlich härter treffen wird als bisher, das sind die venezolanischen Juden. Weil der Antizionismus keine bloße Marotte des Präsidenten ist, sondern Ausdruck einer pathologischen Weltanschauung, die auf einer fetischistischen Kapitalismuskritik basiert, beschränkt sich Chávez’ Antisemitismus auch nicht auf die Propaganda gegen den jüdischen Staat. Längst sind die venezolanischen Juden daher ins Visier der Feinderklärung geraten, der Antisemitismus ist dem Bolivarianismus nicht eine äußerliche, von ihm ablösbare Zutat, sondern dessen konsequentester Ausdruck. Das tut den Anhängern des lateinamerikanischen Sozialismus im Westen weh und folglich leugnen sie ihn einfach. Nichts wollen die Fans des Bolivarianismus von antijüdischer Propaganda wissen, die tagtäglich in staatlichen und regierungsnahen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wird und die in ihrer Schärfe durchaus den arabischen Stürmer-Nachahmungen vergleichbar ist. Die Juden werden in der einflussreichen chávistischen Presse durchgehend als Verschwörer, Weltverderber und hintertriebene Kapitalisten dargestellt, die das Volk in den Abgrund treiben wollten. (12) In seinen Reden greift Chávez auf diese Stereotypen zurück, wenn er über Kapitalisten, Imperialisten und Zionisten vom Leder zieht, die Juden des Christusmordes beschuldigt und die israelische Verteidigungspolitik mit dem Vernichtungskrieg der Nazis gleichsetzt. Politisch setzen sich derlei Hasspredigten – und das ist tatsächlich ein neues Phänomen in Venezuela – zunehmend in eine staatliche Verfolgung der venezolanischen Juden um. So wurde bereits zweimal eine jüdische Schule auf unnötig schikanöse Weise wegen des Verdachts der Anhäufung illegaler Waffen und der Unterstützung des Terrorismus polizeilich durchsucht – selbstverständlich ohne Erfolg. Aber es geht Chávez und seinem für die Durchsuchungen verantwortlichen antisemitischen stellvertretendem Innenminister Tarik al-Aissami auch gar nicht so sehr darum, konkret etwas zu finden. Es geht darum, die Juden mit Schmutz zu bewerfen und ihnen das Stigma des Terrorismus aufzuerlegen und damit den ohnehin problematischen Begriff des Terrorismus vollkommen ad absurdum zu führen. Wie Chávez Kolumbien als „Terrorstaat“ denunziert, obwohl er selbst die Farc unterstützt, so werden die Juden als Terroristen dargestellt, obgleich es die venezolanische Regierung ist, die antisemitische Terrorbanden wie die Hisbollah hofiert.

Die venezolanischen Juden, deren Zahl sich in den letzten Jahren halbiert hat, spüren, dass der Antisemitismus keine bloße Phraseologie ist, sondern sie ganz direkt bedroht. Sammy Eppel, ein jüdischer venezolanischer Journalist, drückt es so aus: „[I]ch kann sagen, dass ein großer Teil der jüdischen Gemeinde in Venezuela sehr beunruhigt ist, denn der Antisemitismus kommt von der Regierung. Wenn Gruppen antisemitische Propaganda betreiben, können wir uns wehren, man ist auf Augenhöhe. Aber wie sollen wir uns gegen die Regierung verteidigen? Sie hat alle Macht.“ (13) Eppels etwas übertriebene, aber gerade deshalb der Tendenz nach zutreffende Aussage, die Regierung habe alle Macht, verweist darauf, dass in Venezuela heute zunehmend totalitäre Zustände herrschen.Das Bündnis aus chávistischem Racket, Militär und Lumpenproletariat wird nur durch eine aggressive und religiös aufgeladene Ideologie, sowie durch erdölfinanzierte Almosen zusammengehalten. Dieses Bündnis hat nur dann dauerhaft Bestand, wenn es sich beständig gegen innere und äußere Feinde in Stellung bringt. Antiamerikanismus und Antisemitismus sind daher staatsnotwendig. Die bolivarianische Ideologie soll in alle Bereiche der Gesellschaft vordringen und konkurrierende Anschauungen mit allen Mitteln zurückdrängen. Die staatliche Kontrolle wird an die bolivarianischen Rackets delegiert und dadurch totalisiert. Die viel beschworene Demokratisierung geht mit der Schwächung der Autonomie des Individuums einher und unterwirft den Einzelnen den verschiedenen Nachbarschaftsinitiativen, Kooperativen und Zirkeln – allesamt Formen politischer Rackets, die nur durch ihre unmittelbare Abhängigkeit von Chávez miteinander verbunden sind. Die Hoffnung, dass die Venezolaner Chávez eines Tages stürzen, ist zwar berechtigt, bedeutet aber mit Hinblick auf die autoritäre Durchformung der Gesellschaft nicht notwendig, dass die postbolivarianische Ära sich durch ein größeres Maß an Freiheit auszeichnen würde. Wie es in Venezuela weitergeht, ist daher völlig ungewiss. Dass das Verfassungsreferendum gescheitert ist, gibt Anlass zu der Vermutung, dass sich die Mehrheit der Venezolaner ein gewisses Restmaß politischer Vernunft erhalten hat – und das stimmt allemal zuversichtlich.

Philipp Lenhard (Bahamas 55 / 2008)

Anmerkungen:

  1. Ein wichtiges Kampffeld des bolivarianischen Staates ist die traditionell starke Familie. Um die Familie zu schwächen, werden die Kinder und Jugendlichen in Ganztagsschulen gesteckt, in denen ihnen von morgens bis abends chávistische Ideologie eingepaukt wird. Auch die oft übersehenen Auseinandersetzungen Chávez’ mit der katholischen Kirche speisen sich aus dem Kampf gegen alternierende soziale Sphären.
  2. Zitiert nach: Andrej Holm/Matthias Bernt: Protagonismus der Ausgeschlossenen: Barrios in Caracas, in: Gruppe MovimentoR/Andrej Holm (Hrsg.): Revolution als Prozess. Selbstorganisierung und Partizipation in Venezuela, Hamburg 2007, S. 32.
  3. Vgl. etwa den Fall des Unternehmens Inveval des Oppositionsführers Andrés Sosa Pietri. Vgl. Dario Azzellini: Von den Mühen der Ebene, in: Gruppe MovimentoR/Holm (Hrsg.): Revolution als Prozess, S. 51f.
  4. Zur Einschränkung der Pressefreiheit setzte das von Chávisten dominierte Parlament den Paragrafen 297a durch: „Jede Person, die falsche Informationen verwendet und durch Druckerzeugnisse, Rundfunk, Fernsehen, Telefon, E-Mail oder Flugblätter verbreitet, um die Bevölkerung tatsächlich oder potenziell in Panik zu versetzen oder das Angstniveau in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, wird mit einer Gefängnisstrafe von zwei bis fünf Jahren bestraft.“ Vgl. zur Pressefreiheit www.vcrisis.com/index.php?con tent=letters/200503281631 (13.02..
  5. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt a. M. 1999, S. 102.
  6. Interview mit Blanco Munioz von 1998, zitiert nach: Christoph Twickel: Hugo Chavez. Eine Biografie, Hamburg 2006, S. 118.
  7. Freud, Massenpsychologie, S. 102.
  8. Interview mit Blanco Munoz, zitiert nach: Twickel: Chávez, S. 118.
  9. Freud: Massenpsychologie, S. 104.
  10. Etwa wenn die Almosenprogramme nicht mehr durchführbar sind, weil die öffentlichen Kassen aufgrund eines raschen Sinkens des Ölpreises leer sind. Das Handelsblatt wartete am 16.04. mit der Nachricht auf, vor Brasilien sei das weltweit drittgrößte Ölfeld entdeckt worden. Sollte Brasilien sich daran machen, das Feld zu erschließen, würde der Ölpreis aller Voraussicht nach sinken. Ähnliches gilt perspektivisch, wenn die Ölförderung im Irak wieder in vollem Ausmaß aufgenommen werden kann.
  11. Friedrich Engels: Der 25. Juni, in: MEW Bd. 5, S. 131.
  12. Vgl. dazu etwa Karl Pfeifer: Official antisemitism erupts in Venezuela, 22.02.07 (www.enga geonline.org.uk/blog/article.php?id=.
  13. Vgl. Thilo F. Papacek: Interview mit Sammy Eppel, Journalist. „Der Antisemitismus in Venezuela geht von der Regierung aus“, in: Jungle World, Nr. 6 (7. Februar, S. 20.

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