Seit dem Frühjahr 2008, als die USA, die EU-Länder und danach immer mehr Staaten, die seit dem Krieg von 1999 faktisch vollzogene Separation des Kosovo von Serbien völkerrechtlich anerkannten, ist die Aufsplitterung Jugoslawiens in – Montenegro eingerechnet – sieben souveräne Staaten abgeschlossen. Ein guter Anlass, am Ergebnis zu überprüfen, ob die Antideutschen der ersten Stunde, also auch die Bahamas, sich mit ihren projugoslawischen Interventionen verhoben haben und am Ende gar wegen proserbischer Einseitigkeit schreckliche Kriegsverbrechen gedeckt haben.
Unmittelbar vor der proklamierten Unabhängigkeit von Kroatien und Slowenien am 25. Juni 1991 warnte der damalige jugoslawische Außenminister Budimir Loncar mit der Kraft letzter Verzweiflung: „Was würde im Falle des Auseinanderbrechens Jugoslawiens geschehen? Die grundlegende Hypothese ist die, dass Staaten entstehen würden, die sich nicht nur ständig untereinander in Konflikt befinden, es wäre auch ein jeder von ihnen ethnisch erschüttert. Jeder dieser Staaten wäre unfähig, wahrhaft demokratisch und tauglich für Europa zu sein. Zusammengenommen stellten sie eine Zeitbombe im Herzen Europas dar, wenn sie nicht vorher schon eine Kettenreaktion auf dem Kontinent ausgelöst hätten, auf dem schon sechsundvierzig potentiell gefährliche, ethnische Konflikte schwelen.“ (z. n. Klaus Peter Zeitler, Deutschlands Rolle bei der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Kroatien, Marburg 2000, S. 116) Loncar sollte in zwei wesentlichen Punkten Recht behalten: Ethnische Erschütterrungen auf dem Gebiet der früheren jugoslawischen Republiken leiteten das Ende des Bundesstaates ein und bestimmten auch den Charakter der sezessionistischen Kampf- und Mordhandlungen. Die darüber hinaus von Loncar und zur gleichen Zeit auch von nicht wenigen Antideutschen beschworene europäische Apokalypse blieb dagegen genauso aus, wie der befürchtete Dauerkonflikt zwischen den damaligen Hauptakteuren Slowenien, Kroatien und Serbien. Zu Abspaltungen ist es nach 1990 sonst nur auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion gekommen, die auf europäischem Territorium (Baltische Staaten, Ukraine, Weißrussland) weitgehend unblutig verlaufen sind und zu bemerkenswert stabilen souveränen Staaten geführt haben. Die andere europäische Trennung, die der slowakischen von der tschechischen Republik, verlief sogar ausgesprochen unspektakulär. Slowenien und Kroatien haben sich in kurzer Zeit zum EU-Mitglied bzw. zu einer europatauglichen Republik entwickelt, in denen inzwischen auch wieder serbische Minderheiten leben können, und Serbien hat auf Pressionen gegen das separatistische Montenegro verzichtet und folgt auch nach der internationalen Anerkennung des Kosovo einer Politik, in der radikaler Nationalismus zunehmend nur noch als die lärmende Begleitmusik einer pragmatischen Annäherung an die von der EU für eine Mitgliedschaft aufgestellten Standards eine Rolle spielt. Selbst die FAZ, die über viele Jahre hinweg den spezifisch deutschen (und auch österreichischen) Hass auf Serbien und seine Bewohner bedient hat, muss inzwischen einräumen: „Serbien hat bei der Annäherung an die EU unter dem durch immer schärfere antieuropäische Tiraden auffallenden Ministerpräsidenten Kostunica zumindest formal mehr Fortschritte erreicht als unter dessen 2003 ermordeten Vorvorgänger Djindjic.“ (30.04.08) Die Anerkennung des Kosovo als souveränen Staat veranlasste Sloweniens Außenminister Rupel, „unsere serbischen Freunde“ (FAZ, 16.04.08) zu preisen und nach der Abberufung des serbischen Botschafters aus Zagreb wegen der Anerkennung des Kosovo im April bekräftigte die kroatische Regierung die guten Kontakte zwischen Serbien und Kroatien auf allen Ebenen. Bei soviel Entspannung fühlt man sich eher an die Worte des führenden deutschen Serbokroatikers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hermann Wendel erinnert, der 1921 befand: „Serben, Kroaten und Slowenen sind ein Volk. Sollten die Jugoslawen nicht ein Volk sein, dann sind auch die Deutschen keines“, als an die düstere Prophezeiung Loncars (1). Die Kräfte des Marktes, internationale Ermahnungen und nicht zuletzt die eben doch zivilisierende Wirkung der sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien auf ihre Bürger erwiesen sich wenigstens in den drei genannten Republiken, in denen mehr als Zwei Drittel aller ehemaligen Jugoslawen leben, stärker als der Neofaschismus eines Franjo Tudjman, die allgemeine Ausländerfeindlichkeit im Slowenien der frühen 90er Jahre oder der serbische Ultranationalismus. Doch dafür sprach am Anfang der großen Gemetzel 1991 und auch in den folgenden Jahren nichts.
Verblüffender sind da schon eher die neuen Einsichten, die, wenn auch aus zum Teil diametral entgegengesetzten Gründen, seit einigen Jahren ausgerechnet von dem politischen Spektrum kommen, das mit seiner Schreibtisch-Mordbrennerei manchen Anlass zu auch schrillen Befürchtungen gegeben hat. Diesen FAZ-Deutschen scheint die Lust an völkischen Abenteuern inzwischen so sehr vergangen zu sein, dass noch der Endpunkt deutscher Jugoslawien-Politik ohne jede Euphorie kommentiert wurde: „Die Sezession des Kosovo ist eine direkte Folge des von der Nato geführten Krieges gegen Serbien, zu dem es ein Mandat des UN-Sicherheitsrates eben nicht gab: Es handelte sich um eine ,humanitäre Intervention‘ zugunsten einer bedrohten Volksgruppe. Damals sprach man von einem Ausnahmefall, und bisher ist es das auch geblieben. Aber entsprechende Sorgen sind damit nicht erledigt – auch in Staaten, die sich am Waffengang auf dem Balkan beteiligt hatten. [...] Was wäre, wenn die Türken hierzulande ungehemmt die Minderheitenkarte zögen? [...] Das Völkerrecht ist schließlich zuerst ein Recht der Staaten, darauf bedacht, die bestehende Ordnung zu bewahren. Die Unversehrtheit des Staates ist eine Grundlage der Staatengemeinschaft. Er darf grundsätzlich separatistischen Bestrebungen entgegentreten.“ (FAZ, 26.03.08) Natürlich ist die FAZ von heute nicht zur Anklägerin der Zeitung für Deutschland von gestern mutiert, als Johann Georg Reissmüller seinen journalistischen Feldzug gegen Serbien geführt hatte. Unverdrossen wird auch heute noch von „bedrohten Volksgruppen“ geredet und weiter unten im gleichen Text betont, dass „kollektive Rechte von Minderheiten gegen staatliche Souveränität“ grundsätzlich zu verteidigen seien. Und doch mag man, seit der türkische Ministerpräsident in Köln die Deutschen vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewarnt hatte, die Minderheitenkarte nicht mehr gar so selbstverständlich zücken, wie noch vor 17 Jahren. Tayyip Erdogan hatte von einem den in Deutschland lebenden Türken drohenden kulturellen Genozid, sprich: ihrer Assimilierung gewarnt und hatte damit die gleiche Sprache gesprochen, wie einst die antijugoslawischen und antiserbischen Einpeitscher in Kroatien oder bis vor kurzem noch im Kosovo. Und wieder die FAZ: „Viel, womöglich zu viel wird auf dem Balkan von Minderheiten und ihren Rechten sowie deren angeblichen oder tatsächlicher Verletzungen gesprochen. Serben im Kosovo, Albaner in Südserbien, Ungarn in der Vojvodina, Griechen in Albanien, Albaner in Griechenland – mitunter scheint vor lauter Minderheiten die Sicht auf die Mehrheiten versperrt.“ (5.5.08) Wäre deutsche Außenpolitik 1990/91 gegenüber Jugoslawien diesen Einsichten, die damals fast nur Antideutsche ausgesprochen hatten, gefolgt, dem Land wäre wahrscheinlich nicht die schrittweise Auflösung, wohl aber ein furchtbarer Bürgerkrieg erspart geblieben.
Doch unabhängig davon führte deutsche Außenpolitik nicht einfach aus, was ihnen die antiserbische Kampfpresse vorschreiben wollte. Es lohnt sich, Wolfgang Pohrts Vorschlag zu folgen und sich von der Anfang der 90er Jahre naheliegenden und dennoch falschen Annahme zu lösen, die „westliche Balkanpolitik werde von Taz und FAZ gemacht“ (Ders., FAQ, Berlin 2004, S. 113). Im Abstand der Jahre wurde deutlich, dass antideutsche Kritik an der Zerschlagung Jugoslawiens der zu lange ungeprüften Unterstellung aufsaß, dass das neue voll souveräne Deutschland die Politik des 1918 und erneut 1945 untergegangenen alten wiederholen müsse. Reissmüllers FAZ, Erich Rathfelders Taz und viele andere aus Medien und Politik haben das innenpolitische Klima ab 1991 so weit aufgeheizt, dass der Eindruck entstehen musste, die Exekutive sei nur noch das Vollzugsorgan der öffentlichen Meinung. Obwohl die Politik sich häufig der von den Medien vorgegebenen Sprache bediente – der entlang völkischer Kriterien betriebenen Anerkennungspolitik folgte keine Militarisierung der Außenpolitik, und von einer allgemeinen deutschen Kriegsbegeisterung, wie sie der Konkret-Redakteur Wolfgang Schneider 1997 im Vorwort des von ihm herausgegebenen Sammelbandes „Bei Andruck Mord – Die deutsche Propaganda und der Balkankrieg“ unterstellte, konnte nicht die Rede sein. „Binnen kürzester Frist“, so Schneider damals, „sind die Deutschen, die eben noch als vermeintliche Opfer eines Atomkrieges in ihrer Friedfertigkeit sich von niemanden wollten übertreffen lassen, zu einem Volk mutiert, das sich berufen glaubt, mit der Waffe in der Hand weltweit nach dem Rechten zu sehen.“ (S. 08) Deutschland hatte damals – vertreten durch seine öffentliche Meinung und in einem Fall auch das Auswärtige Amt – im Namen des Westens gegen Jugoslawien im allgemeinen und die Serben im besonderen gehetzt und gewann damit für einige Jahre mit aus der eigenen Geschichte entlehnten Phrasen die ideologische Hoheit über den restlichen „Westen“. Wolfgang Pohrt fasste das Ergebnis dieser Offensive 2004 auch selbstkritisch so zusammen: „Nicht etwa Deutschland allein gegen alle, sondern Deutschland im Auftrage aller – so lief das Spiel“ (a.a.O. S. 12). (2)
Deutschland hatte 1991 die Avantgarderolle unter den westlichen Staaten übernommen, als es ohne Absprache mit den Bündnispartnern die staatliche Souveränität Sloweniens und Kroatiens anerkannte und damit Europa und die USA unter Zugzwang setzte. Daraus abzuleiten, es hätte damals ein durch die Wiedervereinigung und damit Wiedererlangung der eigenen vollen Souveränität ausgeprägten kollektiven Willen zur Zerstörung gegeben, mehr noch: Deutschland habe sich wieder zur bewussten Destruktivkraft aufgeworfen wie bis 1945, schoss weit über die politische Realität hinaus. Gerade Hans Dietrich Genscher, der 1990/1991 die Weichen für die deutsche Außenpolitik gegenüber Jugoslawien gestellt und damit eine Linie festlegt hatte, die bis zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nachwirken sollte, hat weniger aus Größenwahn denn aus einem Gefühl der Gleichzeitigkeit von Können und Müssen gegenüber den Amerikanern gehandelt. Die Pflicht zur Partnerschaft auf Augenhöhe, die Bush senior als neue Weltordnung für die europäischen „Partners in Leadership“ 1991 ausrief, verstand einer wie Genscher als die außenpolitische Kür des wiedervereinigten Deutschlands, die weniger ein strategisches Durchmarschieren denn ein deutscher Intuition folgendes Hineinstolpern ins Unbekannte war, dessen verheerende Folgen man den Amis noch heute nicht verzeiht: „Die Vereinigten Staaten, welche über einzigartige politische und militärische Mittel verfügen, wären der einzige internationale Akteur gewesen, der es vermocht hätte, in dem komplizierten Konflikt auf dem Balkan eine gemeinsame Linie der Verbündeten durchzusetzen. Weil sie vier Jahre lang nach dem offenen Ausbruch des Krieges im ehemaligen Jugoslawien auf die dazu nötige Führung verzichteten, müssen die USA einen Großteil der Verantwortung für die verfehlte westliche Reaktion im Jugoslawien-Konflikt tragen.“ Nur in dieser völlig verantwortungslosen und projektiven Weise ist es heute in Deutschland möglich, über ein maßgeblich mitverschuldetes Desaster zu sprechen. Das Zitat entstammt einem im Jahr 2000 erschienenen Buch des Münchner Ost-Europa-Instituts mit dem Titel „Die Rolle der Vereinigten Staaten im Jugoslawien-Konflikt und der außenpolitische Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland (1990–1996)“ (S. 179). So werden die politischen Folgen der Durchsetzung „einer in Deutschland vergleichsweise hohen Sensibilität für das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung“ (ebenda S. 49) denen in die Schuhe geschoben, die nicht zuletzt deshalb, weil sie mit dem ersten Irak-Krieg 1990/91 außenpolitisch stark engagiert waren, ein damals deutsch geführtes Europa hatten gewähren lassen. Solche halbamtlichen Einschätzungen lassen den Umkehrschluss zu, dass es Aufgabe amerikanischer Politik sei, antiimperialistische Lockerungsübungen aus Deutschland oder Europa zu stoppen, bevor deren pazifistische Beiträge, die man heute „verfehlte westliche Reaktionen“ nennt, zur Verwüstung eines ganzen Landes führen.
Der gleiche deutsch inspirierte europäische Antiimperialismus, der Israel seit Jahrzehnten bedroht, hat auch bei der Zerschlagung Jugoslawiens seine Zerstörungskraft entfaltet. Das war unter den Kritikern der deutschen Jugoslawienpolitik nie Konsens, auch wenn es bis 1999 so aussehen wollte, als ob recht unterschiedlich gestimmte Protagonisten an einem Strang zögen. Einer, der gegen die Zerschlagung Jugoslawiens von Anfang an gekämpft hatte, schrieb 1999 anlässlich des Krieges gegen Serbien: „Es ist für mich ein antifaschistischer Reflex, auf der Seite der Israelis und Juden wie der Jugoslawen und Serben zu stehen. Tatsächlich möchte ich das gleichsetzen: Sowohl Israel als auch Jugoslawien sind Staaten, die von den Opfern und Gegnern des Nationalsozialismus aufgebaut wurden. Wenn diese Staaten und die Menschen dort bedroht sind, bin ich solidarisch [...]. Dies gilt vor allem dann, wenn diese Menschen erneut, wie während des Nationalsozialismus, durch deutsche Waffen bedroht werden – die Israelis durch deutsches Giftgas, die Jugoslawen durch deutsche Bomber.“ (Jürgen Elsässer, Andrei S. Markovits (Hg.), Die Fratze der eigenen Geschichte, Berlin 1999, S. 198) Wenn das Großhirn nicht im Spiel ist, muss die Zuckung von gestern mit dem willensgesteuerten Handeln von heute nichts zu tun haben. Der von Elsässer vor neun Jahren noch propagierte Zusammenhang von antifaschistisch motivierter Israelsolidarität und einer nicht minder antifaschistisch begründeten Solidarität mit den von allen gedemütigten und verachteten Verlierern eines Bürgerkriegs – dem nicht nur mehr als 100.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, sondern auch ein Modell friedlichen Zusammenlebens von so lange Zeit verfeindeten „Völkern“ – hat einiges für sich. Für eine Solidarität auch mit Serbien spricht der unter ungeheuren Opfern geführte, letztlich siegreiche Widerstand gegen die osmanische Despotie im 19. Jahrhundert. Für Serbien sprechen auch zwei von ihm maßgeblich ausgehende, aber gescheiterte Versuche, die Volkstumshölle auf dem Balkan durch die Einrichtung eines allen dort lebenden Menschen freundlicheren Staatswesen abzuschaffen. Für Serbien spricht der erbitterte Widerstand gegen die österreichisch-ungarische Invasion 1914 ff. und die deutsche Besatzung 1941–44 und vor allem der fast unbegreifliche Umstand, dass die Bevölkerung dieses Landes mit großem Erfolg alles dafür tat, die dort lebenden und die ab 1940 dorthin geflüchteten Juden dem deutschen Zugriff zu entziehen. Es gibt also einige gute Gründe für eine Solidarität mit „den“ Serben, die nicht gleichbedeutend ist mit der Leugnung des erheblichen serbischen Beitrags an den Gemetzeln der 90er Jahre.
Doch Elsässer propagiert heute lieber seine Solidarität mit den Feinden Israels als antifaschistischen Imperativ und bleibt wohl deshalb weiterhin projugoslawisch bzw. -serbisch, weil er im gleichen Jahr 1999, aus dem das freundliche Zitat stammt, zu der sehr unfreundlichen Einsicht gekommen ist, dass Serbien wie die Feinde Israels eine Speerspitze gegen den alles verderbenden US-Imperialismus sei. Dass er so längst im Bündnis mit den erbitterten Feinden der Serben steht, die Bosnien Anfang der 90er zum zweiten Palästina ausgerufen haben (3), ist ihm vermutlich noch nicht einmal bewusst. Einer wie Elsässer war es gewohnt, deutsche Außenpolitik als imperialistisch oder völkisch zu geißeln, und er tat das – wie bis Mitte der 90er üblich – im Wege der Analogiebildung zu den deutschen Großmachtträumen und Massenmordtaten auch gegen Serbien bzw. Jugoslawien im ersten Weltkrieg und mehr noch im Nationalsozialismus. Dieses auch in frühen Nummern dieser Zeitschrift des öfteren bemühte Erklärungsschema brachte zwar manches über ideologische Kontinuitäten zutage, erwies sich aber spätestens dann als unbrauchbar, als evident war, dass der angeblich in Gründung befindliche deutsche Hinterhof in Ost- und Südosteuropa nie entstanden ist und deutsche Großmachtträume nicht auf die Etablierung von Herrschaftsgebieten ausgehen.
Die letzten Imperien sind 1917/18 zusammengebrochen. Danach gab es in Form der stalinistischen Sowjetunion ein wenigstens ähnliches Gebilde, der deutsche Nationalsozialismus dagegen wollte zwar die Welt erobern, sie aber zum großen Teil nicht verwalten und davon profitieren, sondern auspressen und ihre Bevölkerung(en) entweder selbst vernichten oder der Vernichtung durch Hunger, Kälte und Seuchen preisgeben. Die USA dagegen verfügten nie über ein Imperium und führten nie um der Arrondierung ihres Territoriums oder gar der Vernichtung willen Expansionskriege. Während man die Gegnerschaft zu den deutschen Untaten als antifaschistisch bezeichnen kann, weil der sonst so schwammige Begriff in diesem Fall immer auch antinationalsozialistisch bedeutet, wird seine Ausdehnung, oder besser: Übertragung auf die Politik der USA zur Verharmlosung des Nationalsozialismus und besonders seiner antisemitischen Verbrechen. Antiimperialist sein und zugleich Antifaschist bleiben zu wollen, ist nur über den Weg der völligen Sinnentleerung des Begriffs Faschismus möglich. Folgerichtig sass Elsässer schon 1999 einem bis heute fortwirkenden Missverständnis auf, wenn er Israel wie Jugoslawien in der Hauptsache durch deutsche Bomber bzw. deutsches Giftgas bedroht sah. Damit machte er deutlich, dass er die wirklich gefährliche deutsche Waffe gar nicht zu erkennen vermag, die ihrem Wesen nach keine substantiell andere ist „wie während des Nationalsozialismus“. Nur geht es dabei nicht um die deutsche Beteiligung an Kriegseinsätzen, die höchstens – und auch dann widerwillig – symbolisch erfolgt, sondern um den nach 1945 pazifistisch gewendeten und spätestens ab 1968 antifaschistisch aufgeputzten Antiimperialismus, den Elsässer in der Form des Antiamerikanismus selbst propagiert. Einen ähnlich blinden Fleck unter allerdings umgekehrten Vorzeichen weisen im übrigen jene erklärten Freunde Israels auf, die beispielsweise in den Zeitungen des Springer-Verlages Stimmung gegen Jugoslawen und Serben machten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie sehr sie sich dabei in ihrer Argumentation dem deutschen Antiimperialismus und damit den Feinden Israels annäherten.
Ausgerechnet der Zionistenfresser und langjährige Intimfeind Elsässers in der Jungen Welt,Werner Pirker, ist der deutschen Wunderwaffe beinahe auf die Schliche gekommen, als er nach dem Dayton-Abkommen zur ethnischen Aufteilung Bosniens von 1996 feststellte: „Der Bellizismus erweist sich als gewalttätiger Pazifismus. Wer da immer noch den quälenden Ziel-Mittel-Konflikt in sich verspürt, wird mit Reminiszenzen an die antiimperialistische Solidarität in erhöhte Kampfbereitschaft versetzt.“ (Schneider ,Hg., a.a.O S. 221) Weil der Antiimp Pirker aber den echten Antiimperialismus vor dem falschen retten wollte, verfehlte er das Thema dann doch um Längen. Er gab nämlich bezugnehmend auf die deutsche Beteiligung am Dayton-Prozess vor, er habe eine pazifistische Gewalt wirken gesehen und nicht den von ihm ganz richtig diagnostizierten zerstörerischen Pazifismus,der nun einmal andere und nicht die Bundeswehr darin bestärkt, für den Weltfrieden völkische Kriege zu führen. In dem im Jahr 2000 erschienenen Buch über „Deutschlands Rolle bei der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Kroatien“ wurden die Bedingungen für das pazifistische Tätigwerden des deutschen Antiimperialismus so formuliert: „Die Entscheidung, ob die Kroaten als Volk und somit als potentieller Träger des Selbstbestimmungsrechts zu qualifizieren sind, hängt davon ab, ob folgende Kriterien vorliegen: es ist zu prüfen, ob eine Homogenität vorliegt, die auf objektiven sprachlichen, kulturellen oder ähnlichen Merkmalen einschließlich der geschichtlichen Entwicklung begründet ist und ob ein entsprechendes politisches Selbstbewusstsein festzustellen ist“ (Zeitler a.a.O. S. 70). (4) Nicht nur die notorischen Antivölker Amerikas und Israels sind so einmal mehr delegitimiert, sondern erst recht Titos nichthomogenes, sprachlich und kulturell uneinheitliches Gebilde, dem man allerdings den Vorwurf nicht ersparen kann, ähnlich der Sowjetunion ein „Völkerzoo, Reservat (gewesen zu sein), wo die barbarischen Gebilde der Vorgeschichte nicht aufgelöst und humanisiert, sondern unter Artenschutz gestellt“ wurden, wie Wolfgang Pohrt formulierte (Ders., Das Jahr danach, Berlin 1992, S. 301).
Um zu erfassen, unter welchen Bedingungen und warum Genscher mit der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens „die Antwort des Westens durch Deutschland“ (Samuel Huntington) überhaupt festlegen konnte, darf man diese neue deutsche Politik nicht als Bruch mit dem noch aus dem Kalten Krieg stammenden „Genscherismus“ missverstehen, sondern wird die Jugoslawien-Politik ab 1990 als dessen konsequente Fortführung unter veränderten Vorzeichen lesen müssen. Geprägt wurde das Wort Genscherismus Mitte der 80er Jahre als Ausdruck für die Annäherung von Teilen der CDU/CSU-Fraktion um Volker Rühe an die sozialliberale Ostpolitik in Abgrenzung vom sogenannten Stahlhelmflügel um den damaligen Fraktionschef Alfred Dregger. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung von Stahlhelmern und Genscheristen stand die Frage nach der Bedeutung militärischer Abschreckung. Die Genscheristen wollten Deutschland im Windschatten der Amerikaner zur „Zivilmacht“ (Hanns W. Maull) ausbauen, die zugleich unabhängig von den Amerikanern und der Nato handeln sollte. Das ist der Grund, warum Genscherismus nach und nach auch zum Schimpfwort bei den Amerikanern wurde, die darin die beabsichtigte Unterminierung der amerikanischen Politik der militärischen Abschreckung erkannten: „Aus Anlass immer wiederkehrender ,Raketenstreitigkeiten‘ ist der Begriff ,Genscherismus‘ entstanden. Er fasste den Verdacht vor allem der angelsächsischen Partner zusammen, dass Genscher eine ,Schaukelpolitik‘ betreibe, dass er der pazifistisch gestimmten deutschen Öffentlichkeit zuviel nachgebe und die Bundesrepublik zu einem unzuverlässigen Verbündeten mache.“ (FAZ, 28.04.92) Dieser Richtung folgend setzte Genscher auch im Fall Jugoslawien von Beginn an gezielt auf die pazifistische, jugoslawienfeindliche Stimmung in der Bevölkerung und betrieb seine Außenpolitik unter Umgehung der Nato, die erst wieder von den Amerikanern unter Clinton im Fall Bosnien und fortfolgend im Kosovo ins Spiel gebracht wurde. Die deutsche Zivil-Politik gegenüber Jugoslawien trieb solche Blüten, dass Genscher ganz pazifistisch dem jugoslawischen Souverän das Recht auf militärisches Vorgehen gegen Sezessionstendenzen im eigenen Land pauschal absprach, wie er mit Nachdruck in seinen „Erinnerungen“ festhielt: „Für die deutsche Außenpolitik war von Anfang an das Verbot der Anwendung militärischer Gewalt zur Lösung politischer Fragen ein wichtiges Kriterium. [...] Überall legte ich unsere Meinung dar, dass nichts, aber auch gar nichts einen Einsatz militärischer Macht rechtfertigen könne, vielmehr alle Fragen politisch gelöst werden müssten“ (Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 939 u. 967). (5) Man sollte die Worte Helmut Kohls spätestens heute für bare Münze nehmen, der einen Tag nach der Anerkennung von Slowenien und Kroatien am 17. Dezember 1991 auf dem Dresdener CDU-Parteitag erklärte: „Ich möchte an dieser Stelle auch allen, die uns andere Motive unterstellen, sagen: für uns Deutsche geht es nur um das Schicksal dieser Menschen, um ihre Zukunft in Frieden, Freiheit und Demokratie und nichts anderes.“ ( z. n. Zeitler, a.a.O. S. 181) Handeln im Namen des Höheren ohne Rücksicht auf Verluste, Allgemeines ohne Besonderes, wenn es eine Kontinuität in der deutschen Politik gibt, dann ist damals von Kohl benannt worden, was Wolfgang Pohrt als den vermutlich immerwährenden Unterschied zwischen amerikanischem Pragmatismus und deutscher Destruktion so beschrieb: „Sie (die Deutschen, S.P.) kennen den Zwiespalt nicht, der sich ausdrückt in der Haltung, einen Pinochet zwar als Werkzeug im Kampf gegen den Sozialismus zu benutzen, den Verbrecher aber deshalb noch lange nicht in Washington zu empfangen“ (ebenda, S. 294). Im Falle der Zerschlagung Jugoslawiens hieß der Deutschen Pinochet bekanntlich Franjo Tudjman und empfangen haben die Bonner den Kroaten-Führer nicht nur einmal.
Genschers Nachfolger Kinkel, der ab 1992 im Amt war, agierte trotz mancher markigen Sprüche um einiges zurückhaltender als sein Vorgänger: „Der deutsche Alleingang war insofern ,erfolgreich‘, als die europäischen Partner sich gezwungen sahen, ebenfalls Slowenien und Kroatien anzuerkennen. Er blieb jedoch letztlich ohne positives Ergebnis, weil die deutsche Außenpolitik fortan deutliche Zurückhaltung üben musste. Der Dezember 1991 (der Monat der Anerkennung, S.P.) wurde so etwas wie ein deutsches Trauma. Als die Kontroverse über die Aufhebung des Waffenembargos für Bosnien-Herzegowina begann, war es Außenminister Kinkel, der kategorisch erklärte: `Es wird auf jeden Fall keinen deutschen Alleingang geben...’“ (6) Diese Lageeinschätzung aus dem Jahr 1993 stammt aus der Feder eines Autors der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einem Verein, dessen Präsidium u.a. Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Volker Rühe und Rudolf Scharping angehörten. Auch wenn der Rede von einem deutschen Trauma selbst schon wieder etwas Paranoides anhaftet, so ist doch erstaunlich, zu welchen „Schlussfolgerungen“ besagter Autor auf die Frage: „Das vereinte Deutschland nicht mehr der Musterknabe des Westens?“ kommt: „Von einer Definition seiner nationalen Interessen ist Bonn noch weit entfernt. Moralische Werte und nicht Interessen bestimmen die öffentliche Auseinandersetzung.“ (ebenda S. 101)
Wenn es auch fraglich ist, ob das Berlin von heute seine nationalen Interessen im Zweifelsfall klarer definiert als das Bonn von gestern (7), so lässt sich doch festhalten, dass das Ende des Genscherismus erst mit der Machtübernahme von Rot/Grün im Jahr 1998 erfolgte. Gerhard Schröder: „Im Grunde mussten wir mit der Kosovo-Entscheidung in der Aussenpolitik das nachholen, was in den neunziger Jahren von den Konservativen versäumt worden war. Da ist nicht reflektiert worden, was auf dieses vereinigte Deutschland an neuen Verpflichtungen zukommen würde.“ (Ders., Entscheidungen, Hamburg 2006 S. 84) Dabei bestand im Fall Kosovo gar kein unbedingtes militärisches Muss für die Deutschen, anders als beispielsweise im erklärten Bündnisfall Afghanistan 2002. Entsprechend überrascht war deshalb die damalige amerikanische Aussenministerin Madeleine Albright vom deutschen Willen zur – natürlich kaum mehr als symbolischen – militärischen Beteiligung: „Joschka Fischer war ein unverhoffter und deshalb besonders wichtiger Verbündeter.“ (Dies., Madam Secretary, München 2003 S. 496) Der Mythos, die Deutschen hätten gar nicht anders gekonnt, als ihre „lächerlichen“ (Wolfgang Pohrt) elf Tornados für die Bombardierung Jugoslawiens zur Verfügung zu stellen, ist damit aus berufenem Munde einmal mehr erschüttert. Was Joseph Fischer damals umgetrieben haben muss, vermag Frau Albright aufzuhellen: „Besonders bemerkenswert fand ich seine (Fischers, S.P.) Einschätzung Milosevics. In einem Telefonat am 30. März sagte er zu mir: `Zehn Jahre lang hat sich Milosevic‘ aufgeführt wie die Nazis in den dreissiger Jahren. Zuerst hat er Jugoslawien zerstört, dann Kroatien, dann Bosnien und jetzt das Kosovo.“ (ebenda)
Und all das soll nur Schauspielerei eines deutschen Aussenministers gewesen sein? Fischer in der Rolle eines vom Antifaschismus Getriebenen, dem es eigentlich um etwas ganz anderes ging? 1999 kam einer Antwort darauf wohl kaum einer so nah wie ausgerechnet Frank Schirrmacher in seiner FAZ am 10. Mai: „Vielleicht stimmt es ja, und die deutschen Tornados im Himmel über Jugoslawien bombardieren in Wahrheit nicht die Serben, sondern die deutsche Wehrmacht von 1941“. Man möchte hinzufügen: wie in den Augen des jungen Joseph Fischer schon der Vietcong gegen US-amerikanische Faschisten kämpfte und die Araber gegen israelische. Dass ein Fischer den Faschismus in Serbien überhaupt entdecken konnte, hatte eine linksdeutsch-antifaschistische Vorgeschichte, deren Propagandisten, die von der alten KPD bis zu den Spontis bzw. Autonomen reichen, sich über die Spezifika des Nationalsozialismus ausschwiegen, um überall und jederzeit auf der Welt im Namen des Antiimperialismus den Faschismus zu bekämpfen. Fischer hat in seiner Zeit als Außenminister den deutschen Antifaschismus zur Staatsräson gemacht, der bis heute in der Tageszeitung des Werner Pirker am entschiedensten gepflegt wird.
Der Formwechsel vom Genscherismus zum verstaatlichten Antifaschismus war keine Zäsur im deutschen Denken, daran erinnerte Samuel Huntington in seinem „Kampf der Kulturen“, ein vielfach auch kritikwürdiges Buch (8), das heute noch von Ideologen in toto abqualifiziert wird, die es nie gelesen haben: „Zivilisation ist eine kulturelle Größe, ausser im deutschen Sprachgebrauch. Deutsche Denker des 19. Jahrhunderts unterschieden streng zwischen Zivilisation, wozu Mechanik und materielle Faktoren zählten, und Kultur, wozu Werte, Ideale und die höheren geistigen, künstlerischen, sittlichen Eigenschaften einer Gesellschaft zählen. Diese Unterscheidung hat sich im deutschen Denken behauptet, während sie ansonsten abgelehnt wird“ (München 2002 S. 51). Nach der Zerschlagung Jugoslawiens muss man Huntington im letzten Punkt leider widersprechen. Mit dem Vorpreschen der Deutschen Anfang der 90er hat das Vernünftige, das die jugoslawische Staatsidee verkörperte, und das von der ehemaligen amerikanischen Aussenmininsterin Albright als „die einfache Prämisse“ bezeichnet wurde, „dass jeder Mensch wertvoll ist und dass ein Nachbar in dem anderen nicht den Serben, Kroaten oder Moslem sehen soll, sondern den einzelnen, individuellen Menschen“ (a.a.O. S. 238), gerade keine Zustimmung erfahren. Seitdem lässt sich die Germanisierung westlichen Denkens in der Kulturfrage nicht mehr wegdiskutieren. Deshalb gibt die folgende Feststellung Huntingtons nicht die Realität wieder, sondern formuliert unfreiwillig eine antideutsche Utopie: „Die angestrebte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation hat sich nicht durchgesetzt, und außerhalb Deutschlands ist man sich einig, dass es illusorisch wäre, `die Kultur nach Art der Deutschen von ihrer Grundlage, der Zivilisation, trennen zu wollen´“ (ebenda).
Sören Pünjer (Bahamas 55 / 2008)
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