Ein Lied mehr zur Lage der Nation
Und zur Degeneration meiner Generation
Zur Unentschlossenheit der Jugend
Zur Verdrossenheit der Tugend
Zu meiner aussichtslosen Lage
Und zur Klärung der Schuldfrage
Und darum klag ich an:
Michael Ende, nur du bist schuld daran
Dass aus uns nichts werden kann
Du hast uns mit deinen Tricks
Aus der Gesellschaft ausgeXt
Mit den Eltern aller Schichten
Willst du uns vernichten
Michal Ende, du hast mein Leben zerstört
Mit diesen treffenden Worten besang die Band Tocotronic im Jahr 1995 ein Gefühl, das Leuten, die in den 80er Jahren sozialisiert wurden, durchaus vertraut sein könnte: Abscheu vor den Gängelungen und Zumutungen durch Erwachsene, die ihre friedensbewegte und ökologische Weltanschauung an ihre Zöglinge weitergeben wollten. Dirk von Lowtzow, Frontmann der Band, beklagte damals in einem Radiointerview die „ständig aufgekocht(en)“ und mit den Worten „Das musst du lesen“ auf den „Präsentierteller gebracht(en)“ Literaturempfehlungen der Bücher Michael Endes als „symptomatisch für die Zeit“ der 80er Jahre. Die Aversion gegen Lehrer, die mit einem antiautoritärem „Ihr könnt mich duzen“ das Klassenzimmer betreten, um die von ihnen geschätzte „Alternativkultur von […] freundlichem Zusammenleben und Phantasie“ mit einem autoritärem „Du musst jetzt Phantasie haben“ und „Fernsehen ist eh‘ schlecht“ an den Schüler bringen, sei Auslöser für den Text gewesen. (1) Mittlerweile lässt sich die Schar der Ende-Verehrer nicht mehr auf das linksalternative Milieu eingrenzen. Es sind tatsächlich die „Eltern aller Schichten“, die ihren Kindern die Bücher des Schriftstellers nicht nur ans Herz, sondern auch auf den weihnachtlichen Gabentisch legen. Deren Lektüre muss Schülern dementsprechend nicht mehr durch Empfehlungen wollpullitragender Lehrer nahe gebracht werden. Vielmehr gehört der Autor seit etlichen Jahren zum festen Bestandteil des Literaturkanons an deutschen Schulen, seine Bücher sind als Schullektüre nahezu verbindlich geworden.
Endes größter Erfolg wurde der bei Deutschlehrern besonders hoch im Kurs stehende Roman „Momo“, seit 35 Jahren eines der beliebtesten deutschen Jugendbücher. (2) Das Buch – 1973 erstmals und mittlerweile in der 47. Auflage erschienen und inzwischen in 39 Sprachen übersetzt – wurde mehrfach verfilmt und bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen mit dem renommierten Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. (3) Wie kein anderes Buch wird „Momo“ seit seinem Erscheinen mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben, der Utopie von einer freien Welt und vor allem mit der lebensnahen Darstellung von Phantasie, Kreativität und Sinnlichkeit in Verbindung gebracht. Endes Geschichten beflügeln den Einfallsreichtum der keineswegs nur minderjährigen Leserschaft, so der allgemeine Tenor. Dabei halten solche Qualifizierungen bezogen auf Endes gesamte Produktion und gerade im Hinblick auf „Momo“ noch nicht einmal einer ersten, kursorischen Überprüfung, geschweige denn gründlicher Textkritik stand. Doch die findet nicht statt. Als ob ein ungeschriebenes Gesetz existierte, welches besagt, dass über „Momo“ nichts als nur Gutes ausgesagt werden dürfe und mögliche Einwände schon im Keim zu ersticken wären, ist der legendäre Ruf dieses Buches seit seinem Erscheinen nahezu unantastbar. Vielleicht wagt schon deshalb keiner, auf die Drittklassigkeit des Autors und die Leblosigkeit seines Hauptwerks, seinen bedrückenden Mangel an Phantasie und die fade Schablonenhaftigkeit seiner Gestalten hinzuweisen, weil alle insgeheim wissen, dass Momo gar nicht als literarisches Kunstwerk, sondern als hochideologisches Traktat den Deutschen generationenübergreifend so unentbehrlich geworden ist. Es verwundert also nicht, dass das fürwitzige Michael-Ende-Bashing von Tocotronic schon zwei Jahre später von der Band mit Bedauern zurückgenommen und seither auch nicht mehr in die Konzertprogramme aufgenommen wurde. (4) Wahrscheinlich findet die Momo-Kritik aber auch deshalb nicht statt, weil Eltern und Lehrer, die es einem einst nahegebracht haben, mit ihrer Erziehungsleistung so durchschlagenden Erfolg hatten, dass sogar zur Kritik später Befähigte niemals vermuten würden, dass dieser Quell reiner Lesefreude ihrer Adoleszenz Gegenstand vernichtender Kritik zu sein hätte. Das mag seinen Grund auch darin haben, dass vielfach noch nicht einmal die Lektüre von Adornos „Notizen zur Literatur“ die Beschäftigung mit Weltliteratur nach sich zieht, was wiederum zu der verbreiteten Unfähigkeit führt, ein ausgesprochen triviales Volksbuch aus jener scheinbar besseren Zeit, als Willy Brandt Bundeskanzler war, wenigstens im Nachhinein als den gefährlichen Schund, der es ist, zu erkennen.
Schon die Lieblosigkeit mit der Ende seine Titelfigur gezeichnet hat, sollte misstrauisch stimmen. Missmut aber müsste aufkommen, wenn man zum Vergleich einen Blick auf eine Gestalt wirft, die Goethe vor über 200 Jahren mit sehr viel Genauigkeit und Liebe kreiert hat, und bei der Ende offensichtlich Anleihen für seine Momo genommen hat: Michael Ende war so kühn, ausgerechnet die Mignon aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ als Rohstoff für Momo zu verwenden, weil er davon ausgehen konnte, dass niemand sein Geschöpf an einem Original messen würde, mit dem zumeist nicht mehr als ein zu Tode gesungenes und vielfach verballhorntes Zitronen-Lied und diffuses Herzeleid verbunden wird. Der Vergleich zwischen den Figuren Mignon und Momo lässt einen in einen Abgrund von schlechtem Geschmack und dichterischem Unvermögen schauen.
Schon bei Mignons erstem Erscheinen tritt eine Figur in die Romanhandlung ein, die mit Geheimnissen, Rätseln und einer sonderbaren, feierlichen Fremdheit eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Romanhelden ausübt, der sich ihr nicht entziehen kann. Die Kindfrau Mignon ist zwischen 12 und 13 Jahren alt und auf den ersten Blick wird nicht ganz klar, ob sie Knabe oder Mädchen ist. Goethe zeichnet sie als reizvolles Geschöpf, das Sinnlichkeit, Wehmut und Trauer, Unschuld und leidenschaftliches Begehren in sich vereint. Mignons Sehnsucht nach Italien, dem Land ihrer Herkunft, von dem ihr seit ihrer gewaltsamen Verschleppung durch eine Gauklerbande nur die dunkle Ahnung einer glücklichen Kindheit blieb, vermischt sich mit ihrer ebenso unerfüllbaren, mehr ahnungsvollen als bewussten Sehnsucht nach Wilhelm, der ihr nur väterliche Liebe zu geben bereit ist. Von ihrer brennenden Begierde wird sie verzehrt, und sie stirbt an gebrochenem Herzen.
Momo taucht ebenso plötzlich wie Mignon im „Wilhelm Meister“ in Michael Endes italienischer Stadt auf. Um sie ranken sich jedoch keine Geheimnisse, denn sie hat einfach keine Geschichte. Während Mignon über ihre Herkunft schweigt, die Neugier über ihre rätselhafte Fremdheit vom Autor durch Andeutungen und kleine Hinweise genährt und erst am Ende der Geschichte vollends befriedigt wird, wird das Geheimnisvolle und Faszinierende, das Momo umgebe, lediglich behauptet, ohne dass der Autor zur Begründung mit einem außergewöhnlichen Schicksal aufwarten würde. Wo keine Vergangenheit ist, fehlt die Persönlichkeit und entsprechend gelingt Ende nicht mehr als die Beschreibung eines charakterlosen, langweiligen und kontaktgehemmten Mädchens ohne besondere Eigenschaften, einer Person also, von der unmöglich die unterstellte Faszination auf ihre Umgebung ausgehen kann. Lediglich ein Merkmal zeichnet sie aus: sie hört sich die Probleme der Leute immer geduldig an, was in Zeiten, in denen immer mehr Leute gegenüber Wildfremden ihr Innerstes nach außen kehren, noch nicht einmal eine Eigenschaft ist. Auch von Sinnlichkeit und Sexualität findet sich bei Momo keine Spur. Sie ist zwar etwa im gleichen Alter wie Mignon, wird aber völlig geschlechtsneutral geschildert. Da ist weder Begehren noch die Fähigkeit, andere zu bezaubern (Mignon ist dagegen zum Beispiel eine faszinierende Sängerin); im Vergleich zu Momo verfügt selbst Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf über mehr Koketterie, Reiz, Witz und Charme. Momo ist nicht mehr als die Projektionsfläche für das Manifest eines anthroposophischen Ideologen, der geahnt haben muss, dass er mit einer reinen Erbauungsschrift nur einer jener belächelten Idealisten geworden wäre, die ihre autoritären Sehnsüchte zur Menschheitsbeglückung im Selbstverlag herausbringen.
Ende ist von dem Wunsch nach einer harmonischen, widerspruchslosen und konfliktfreien Gemeinschaft umgetrieben, die den Einzelnen unter ihre wärmenden Fittiche nimmt und ihn vor den Zumutungen der bösen Welt zu schützen hat, und da Gemeinschaft ohne Führer nicht zu haben ist, fällt Momo diese Aufgabe zu. Sie ist die Verkörperung von Sinnstiftung, die von vornherein Erkenntnis und Selbstreflexion abwehrt. Ihre Funktion besteht darin, ein sich, mit ihrer Ankunft in einem Wohnbezirk der Stadt, wundersam konstituierendes Kollektiv zusammenzuhalten. Das gelingt durch ihr „übernatürliches“ Talent: das Zuhören. Durch ihre bloße Anwesenheit lösen sich Streitereien in nichts auf und der Frieden kehrt in die Gemeinschaft zurück. Droht einer einmal an seiner eigenen Ohnmacht zu verzweifeln, sorgt Momo dafür, dass diese schmerzhaft aufblitzende Erkenntnis sofort einer die Harmonie wieder herstellenden Lüge weicht. Ihr gelingt es, den Abweichler ins Kollektiv zu reintegrieren, denn sie stiftet neue Hoffnung und spendet Kraft zum Durchhalten: „Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle [!] Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.“ (Ende 2005, S.15)
Die Gemeinschaftsvorstellung in Michael Endes Roman steht im krassen Gegensatz zu jenen Kinderbanden, die in der Kinder- und Jugendliteratur so häufig anzutreffen sind. Erscheint dort die kindliche Gemeinschaft oftmals als Notwendigkeit, sich gegen die triste und langweilige, mitunter auch bedrohliche Welt der Erwachsenen zu behaupten, ist dieser Widerspruch bei Ende schlichtweg nicht existent. Vielmehr zeichnet er eine kleine Welt, in der es Kinder, die das Bedürfnis haben, sich von Erwachsenen abzugrenzen, gar nicht erst gibt. Ein Generationskonflikt wird somit im Buch gar nicht erst möglich. „Mit den Eltern aller Schichten/ willst du uns vernichten“ sang Tocotronic und hat damit recht gut erkannt, dass es bei intergenerativen Pädagogikveranstaltungen gleich welcher Art um die Auslöschung der Kindheit durch die brutalstmögliche pädagogische Zurichtung ganz kleiner Menschen zu alters- und geschichtslosen Mitgliedern einer freudlosen Gesellschaft geht, der „Degeneration einer Generation“ und eines ganzen Lebensabschnitts eben.
Neben der Mär von der ach so phantasievollen literarischen Welt des Michael Ende wird eine weitere Lüge in Hinblick auf „Momo“ ständig aufs Neue kolportiert. Ende würde, so kann man von seinen begeisterten Anhängern immer wieder hören, in „Momo“ eine Gesellschaft entwerfen, die über die jetzt bestehende hinausweise. Im Buch hätte er die Utopie von einem besseren Leben verwirklicht, das mit etwas Gemeinsinn im Hier und Jetzt durchaus auch realisiert werden könne. Wie dürftig die Endesche Utopie tatsächlich ist, offenbart sich am Schluss des Buches. Das Happy End gestaltet sich, nachdem Momo das Böse besiegt hat, so: „Und in der großen Stadt sah man, was man seit langem nicht mehr gesehen hatte: Kinder spielten mitten auf der Straße und die Autofahrer, die warten mussten, guckten lächelnd zu und manche stiegen aus und spielten einfach mit. Überall standen Leute, plauderten freundlich miteinander und erkundigten sich ausführlich nach dem gegenseitigen Wohlergehen. Wer zur Arbeit ging, hatte Zeit, die Blumen in einem Fenster zu bewundern oder einen Vogel zu füttern. […] Die Arbeiter konnten ruhig und mit Liebe zur Sache arbeiten, denn es kam nicht mehr darauf an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit fertig zu bringen. Jeder konnte sich zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte, denn von nun an war ja wieder genug davon da.“ (Ebd., S. 296) Es ist keine Utopie die Ende da zeichnet; es gibt kein befreiendes Moment, nichts was auch nur ansatzweise über die bestehende Ordnung hinausweisen würde. Ende schreibt lediglich die bestehenden Verhältnisse fort und gibt vor, dass dem sinnlosen Treiben und Getriebensein mit ein wenig mehr Gemütlichkeit, Zeit und einem klein Bisschen weniger Hektik der Sinn doch noch einzuhauchen sei. Letztlich fällt Ende noch weniger ein, als Heinrich Böll zehn Jahre vor dem Erscheinen „Momos“ in seiner „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“, einer Ironisierung der alltäglichen Jagd nach Geld und Erfolg im Wirtschaftswunder-Deutschland, vorzubringen vermochte. Bölls Bild vom (natürlich italienischen) Fischer, der zufrieden mit sich und der Welt dösend am Hafen liegt, ohne den Ehrgeiz, mehr zu erwirtschaften, als er von der Hand in den Mund braucht, ist wenigstens als Widerwort gegen einen Touristen, der ihn zu mehr Leistung anspornen will, sympathisch. Problematisch wird die Parabel dort, wo nicht nur, entgegen den tatsächlichen Verhältnissen, behauptet wird, dass in südlicheren Gefilden wegen permanent schönen Wetters und überquellender Fanggründe der Kampf ums physische Überleben unnötig sei. In der Fischerfigur taucht zugleich einer auf, der mit seiner überreichlich vorhanden freien Zeit offensichtlich nichts anzufangen weiß, also weder sich selber noch anderen Vergnügen zu bereiten vermag. Aber immerhin: Bölls italienischer Fischer hat nicht vor, andere an seinem Wesen genesen zu lassen.
Ende ist viel realistischer und damit bösartiger als Böll in seinem Gleichnis vom Fischer, den weder Ehrgeiz noch sine Fru anspornen. In „Momo“ herrscht eine zutiefst deutsche Vorstellung von Arbeit vor, die um ihrer selbst Willen betrieben wird, was die Momo-Italiener auf intensive Suche nach dem Sinn ihrer täglichen Plackerei gehen lässt. Arbeit erscheint in Momos Gemeinschaft nicht als von den Verhältnissen aufgezwungene Notwendigkeit, um die eigene körperliche Existenz zu sichern, sondern als identitätsstiftend für die Einzelnen. Diese haben sich nach Endes Vorstellungen ruhig und fügsam ins gesellschaftliche Ganze einzupassen und aus ihren miesen und unterbezahlten Jobs gefälligst Sinn und Freude zu ziehen. Sie dürfen, als Belohnung dafür, dass sie die Verhältnisse nicht in Frage stellen, auch mal etwas langsamer und gemächlicher vor sich hin werkeln. Sinnbild dieses Arbeitsethos ist die Figur des Straßenkehrers. Beppo, der „seine Arbeit gern und gründlich“ tat und „wusste“, dass „es [...] eine sehr notwendige Arbeit“ war, bringt Endes Vorstellungen folgendermaßen auf den Punkt: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken […]. Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. […] Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ (Ebd., S. 37f.). „Der Weg ist das Ziel!“ hatten italienische Faschisten in den frühen 20er Jahren ihr futuristisches Programm vom ständig angespannten, dynamischen Volkskörper überschrieben. Heute ist die Beppo-Ideologie schon lange nicht mehr die von Straßenkehrern oder Mussolinis Schlägertrupps, sondern die von anthroposophisch geschulten deutschen Führungskadern, die beim autogenen Training genauso wenig an „die ganze Straße“ denken wie bei ihren Leitungsaufgaben oder beim Radsport. Ruhig atmen, in kleinen Schlucken drei Liter Wasser am Tag niedermachen und den demenzkranken Vater schrittweise aufs Heim vorbereiten, das macht Freude, dann macht man seine Sache gut.
Es verwundert wenig, dass in Endes Buch Luxus und Wohlstand als verdammenswert gelten. Momos Freunde sind zwar arm, aber dafür umso glücklicher. Die Leser, die lernen sollen, wie die sprichwörtlichen Schuster bei ihren Leisten zu bleiben, erfahren anhand verschiedener Protagonisten des Buches, dass materieller Reichtum das „Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter“ (Ebd., S. 78) werden lässt. Die Allgemeinplatz gewordene Binsenweisheit vom charakterverderbenden Geld wird von Momos Freund Gigi formuliert, dessen Traum von Wohlstand und Ruhm in Erfüllung ging: „Ich sage dir eines […], das Gefährlichste, was es im Leben gibt, sind Wunschträume, die erfüllt werden.“ (Ebd., S. 230) Denn wahres Glück lässt sich nicht in materiellen Gütern finden, sondern nur in der Gemeinschaft: „Es gibt Reichtümer, an denen man zugrunde geht, wenn man sie nicht mit anderen teilen kann.“ (Ebd., S. 237) Ende denunziert nicht etwa die Vorstellung, Glück ließe sich erreichen, wenn man nur eifrig und verbissen genug an der eigenen Karriere und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg bastele. Ihm geht es vielmehr darum, dem Wunsch nach Veränderung selbst seine Berechtigung abzusprechen, und der drückt sich zunächst in dem Ehrgeiz aus, Armut und Elend hinter sich zu lassen. In diesem Ehrgeiz sieht Ende zu Recht die größte Bedrohung für seine Gemeinschaftsutopie begründet – die man heute „gewachsene soziale Milieus“ nennt und erfolglos unter Naturschutz zu stellen versucht.
Und so zieht Momo aus, um das zu bekämpfen, was seiner zersetzenden Wirkung wegen, als das Böse schlechthin gebrandmarkt wird. Es sind die grauen Herren, die nicht nur als Angestellte eines Bankinstituts mit dem Geld identifiziert werden, sondern auch mit eleganten Autos und guten Anzügen die Moderne repräsentieren. Sie – die von außen in die heile Welt der Endeschen Phantasie einbrechen, wie „ein Schatten, der wuchs und wuchs“ (Ebd., S.43), einem Krebsgeschwür gleich in die Gemeinschaft hineinwuchern, sich „unauffällig [...] im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt“ (Ebd., S. 62) hatten – sind der teuflische Gegenentwurf zu Momos Gemeinschaft. Während es vor der Ankunft der Bösewichter in der Stadt ruhig und beschaulich zuging, verwandelt sich diese Gemütlichkeit mit der Ankunft der grauen Herren in Hast. Sie „huschten“ (Ebd., S. 149) umher und gingen „rastloser Tätigkeit“ (Ebd., S. 87) nach, die Menschen werden unter ihrem Einfluss „nervöser und ruheloser“ (Ebd., S. 75) und eine „blinde Besessenheit“ (Ebd.) befällt sie.
Den Einfluss der grauen Herren – der die naturwüchsige Gemeinschaft im alten, eher dörflichen Stadtviertel zerstört, ihre Mitglieder anstiftet, ihrem Herkunftsort den Rücken zuzukehren und sie, vereinzelt und auf sich allein gestellt, in die große, ständig wachsende Metropole hinausschleudert – kann sich Ende dann auch nur als groß angelegte Verschwörung vorstellen. Die grauen Herren verstanden es, sich „auf unheimliche Weise […] unauffällig zu machen“, „im Geheimen (zu) arbeiten“ (Ebd., S. 43) und so ihrem „Geschäft nach(zu)gehen“ (Ebd., S. 106), auf das sie sich so gut verstanden, „wie Blutegel sich aufs Blut verstehen“ (Ebd., S. 61). Sie sitzen im Verborgenen und weben die Fäden, in denen die Menschen sich wie Fliegen zappelnd verfangen: „Das Netz, das sie über die große Stadt gewebt hatten, war [...] dicht und – wie es schien – unzerreißbar.“ (Ebd., S. 207) Ende ist zwar einfallslos, aber in der Beschreibung und Charakterisierung des Typus des geldgierigen Geschäftemachers äußerst beredt. Neben der mehrfachen Verwendung des Verbs „raffen“, rundet Ende die Beschreibung der grauen Herren mit folgender Darstellung ab: „Sie trugen runde steife Hüte auf den Köpfen und rauchten kleine aschenfarbene Zigarren.“ (Ebd., S. 44)
Im Gegensatz zu Mignon tritt Momo nicht als handelndes, mit einem eigenen Willen ausgestattetes Subjekt der erzählten Geschichte auf. Praktisch alles geschieht ohne ihr Zutun; sie hat nahezu keine eigenen Bedürfnisse, die sie zum Handeln im eigenen Interesse verleiten könnten. Sie ist so identisch mit der Gemeinschaft, dass sie nur dann zufrieden und glücklich sein kann, wenn diese reibungslos funktioniert. Momo ist nicht Individuum, sondern willenloses Instrument des Schicksals. Der hässliche und autoritäre Kern der Endeschen Vision tritt in der Figur von Meister Hora zutage, dieser gottgleichen, gütigen Vaterfigur, die immer weiß, wo’s langgeht, die alle Antworten parat hat und Momo auf ihre Mission schickt. Hora klärt Momo über den wahren Charakter und die schändlichen Ziele der grauen Herren auf und schärft ihr ein, dass sich „die Menschen [...] von diesen Plagegeistern befreien“ (Ebd., S. 270) müssten.
Während in spannenden Kinderbüchern der Held durch Klugheit und Witz, Einfallsreichtum und Raffinesse den Bösewichtern immer fair das Handwerk legt, sie verjagt, oder sie gar durch Überzeugungskraft von ihren finsteren Plänen abbringt und vom Bösen zum Guten bekehrt, geht es in „Momo“ um etwas ganz anderes. Zur physischen Vernichtung des als Gemeinschaftszersetzer und -schädling stigmatisierten Gegners gibt es keine Alternative; sie ist „die einzige und letzte Möglichkeit“, wie Hora Momo gegenüber betont. (Ebd., S. 272) Momo ist die vom Schicksal Auserwählte, eine von kosmischen Mächten gesandte Erlöserin, die allein in der Lage ist, „Stimmen aus undenkbaren [!] Fernen und von unbeschreibbarer [!] Mächtigkeit“ (Ebd., S. 181f.) zu hören. Sie ist das von Ende ersehnte Werkzeug der Vernichtung, das ohne eine Spur von Gnade oder Erbarmen den totalen Feind auslöscht.
Die Frage, wen Ende vor den grauen Herren schützen möchte, lässt sich beantworten, wenn man sich vor Augen führt, wo die Handlung von „Momo“ angesiedelt ist. Es ist Mignons Herkunftsland, in dem er seine Figuren in Aktion bringt und in das er 1970 seinen Hauptwohnsitz verlegte. Endes Italiensehnsucht ist eine ordinär deutsche. Er halluziniert sich Italien als einen Hort der Ursprünglichkeit, an dem sich – um es im Jargon seiner Fans auszudrücken – der Mensch noch nicht von sich selbst entfremdet hat. Die Charakterisierung der Figuren in „Momo“ offenbart, wie sehr Italien als geographischer und ideeller Ort allein der Endeschen Sehnsüchte fungiert und anders als bei Goethe keine Entsprechung im wirklichen Italien hat. Im Momo-Italien herrscht noch echte Gemeinschaft, Solidarität und kollektive Wärme, hier kann sich der Einzelne noch sicher vor den Zumutungen der Individuation und Vereinzelung wähnen. Ende schreibt den Italienern einen Nationalcharakter zu, der sich in nichts von den platten und dümmlichen So-sind-Land-und-Leute-Beschreibungen alternativer Italienreiseführer unterscheidet. Er zeichnet die Italiener als lebenslustige und sonnige Gemüter, immer fröhlich, grundehrlich und genügsam von Natur aus. Mit anderen Worten: Momos Freunde sind im Grunde naive und unschuldige Kinder, letztlich liebenswerte Tölpel, die, weil sie niemandem etwas Böses antun können und wollen, Gefahr laufen, ahnungslos und blind in die durch die grauen Herren personifizierte Gefahr zu rennen. Es sind „einfache Leute“ und Träumer, wie der Friseur Fusi, der Maurer Nico und der Restaurantbesitzer Nino, die leicht um ihre Identität gebracht werden können und also schutzbedürftig sind – nicht zuletzt vor falschem Begehren in sich selbst. Momo tritt als Artenschützerin auf, die den „Italienern“ zeigen soll, wie sie ihren von Ende imaginierten „Volkscharakter“ gegen wurzellose Gesellen verteidigen können. Solch fragwürdiges Kontrastieren von ursprünglicher, „menschlicher“ Vorstadt mit kalten Neubaukolossen ist seit den späten 50er Jahren auch in der italienischen Literatur und mehr noch im Film anzutreffen, vermag aber wegen der genau und häufig auch ironisch gezeichneten Charaktere und der stringent erzählten Geschichten in der Regel als bloße ideologische Zutat das Kunst- oder häufiger Kulturbetriebsprodukt selber nicht nachhaltig zu beschädigen. Italiener mögen von deutscher Ideologie überreichlich gekostet haben, eine so hanebüchene Selbstcharakterisierung wie Ende sie vorgenommen hat, verböte ihnen schon die bloße Selbstachtung.
Was Mignon von Momo unterscheidet – und damit Goethes Italien von dem Michael Endes – ist der Gegensatz von regressiver Sehnsucht, die doch nichts weiter will, als an einen niemals wirklichen Ort verklärter Kindheit zurückzukehren, und einer Sehnsucht, die sich eine Ahnung von der Möglichkeit der Versöhnung von Sinnlichkeit und Zivilisation bewahrt hat. Endes Italienbild hat nichts mit der Sehnsucht Goethes nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ gemein, dem es eben nicht um rohe Natur, Ursprünglichkeit und traditionelle Bindungen an Sippschaft und Boden zu tun war. Schon allein der Verweis auf die Zitronenbäume deutet auf eine Vorliebe für Kulturlandschaften statt für deutschen Wald. Die Sehnsucht erscheint bei Goethe als etwas Unauflösbares, dass auf keinen Fall preiszugeben ist. Mignons Sehnsucht bleibt unerfüllt und unerfüllbar, würde sie eingelöst werden, wäre es endgültig vorbei mit dem Zauber, der von ihr ausgeht. Mignon stirbt und mit ihrem Tod bleibt ihre Sehnsucht als eben auch bittere Erinnerung an das erst noch einzulösende Glücksversprechen schmerzlich bestehen. Von Momo hingegen bleibt am Ende nichts übrig. Da sie ihre Mission erfüllt und mit der Ausrottung der grauen Herren zugleich die Aussicht auf einen Zustand jenseits der schlechten Verhältnisse vernichtet hat, verliert sie ihre Funktion und könnte sich ebenso wie ihre Feinde ins Nichts auflösen.
„Was will uns der Dichter damit sagen?“ Diese Frage beschäftigt heute noch wie seit Generationen deutsche Pädagogen, gleich ob sie den Schülern ein Meisterwerk wie „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ oder ein Machwerk wie „Momo“ andienen. Hat man bei Goethe immerhin noch einige lästige Fragen ästhetischer Natur abzuarbeiten, darf man sich also auf Handlung und Botschaft allein nicht beschränken, zumal die Botschaft des Wilhelm Meister irgendwie vertrackt, ja eigenartig vage und doppeldeutig ausfällt. So bietet sich die Ausdeutung Momos wie ein Befreiungsschlag an: Mit Momo sagen, was man sich über Dichtung und Wahrheit immer schon so gedacht hat. Wirft man einen Blick in das wohl wichtigste Handwerkszeug von Deutschlehrern, mit dessen Hilfe sie den von den Kultusministerien empfohlenen Literaturkanon pädagogisch aufbereitet an die Schüler bringen – in diesem Fall also in die Lehrerbegleitliteratur zu Endes „Momo“ –, wird man feststellen, dass der regressive Wahn des Kinderbuchautors zwar höchst differenziert gedeutet, jedoch zutiefst affirmativ geteilt wird. Dietrich Steinbach, Autor zahlreicher literaturdidaktischer Schriften, spricht in einem Lehrerbegleitheft (5) mutig aus, was er immer schon gegen Goethe und Konsorten vortragen wollte, aber nicht darf und bringt im uneingeschränkten Lob Michael Endes „positiv“ zum Ausdruck, dass er das autonome Kunstwerk und seine Aura nie verstanden aber immer schon verachtet hat: Endes Bücher würden „keineswegs allein in der frei stehenden Schönheit ihrer ästhetischen Existenz ruhen“, sondern sie „verkünden Lehren“. (Ebd., S. 9) Die Lehre, die aus „Momo“ zu ziehen sei, ist die der „Heilung des Menschen durch die Rettung der ihm zugemessenen individuellen Zeit“. (Ebd.) In diesem Sinne sei „Momo“ ein „Buch des Widerstandes gegen die Vernichtung der individuellen und subjektiven Zeit […], durch die vermeintlich objektive ökonomische und zweckrationale Zeit, die allein der Beschleunigung und dem Mehrwert des Produktionsprozesses gehorcht.“ (Ebd., S. 19) Seine Kollegin Astrid Gathmann wird im gleichen Heft noch drastischer. (6) Momo kämpfe „gegen die lebensvernichtenden Kräfte der Gleichgültigkeit, Passivität, Dummheit, Leere, die dem Menschen auflauern wie Räuber in der Nacht“. (Gathmann, S. 25) Auch sie warnt vor tödlichen Anschlägen auf die Zufriedenheit: „Die Flucht in die Zukunft und die vorauseilende Begierde, immer mehr haben oder sein zu wollen, töten das Bewusstsein für das Hier und Jetzt.“ (Ebd., S. 23) Doch es gibt ja Momo, die stellvertretend für uns alle „gesellschaftliche Zwänge […] mutig bekämpft“ (Ebd., S. 22), indem sie ausgerechnet das „Hier und Jetzt“ affirmiert und es sich und ihren Freunden verbietet, von einer Flucht in ein „Draußen, irgendwann später“ wenigstens zu träumen. „Ihren Traum vom Leben“ sieht Astrid Gathmann zusammen mit Momo in einer bescheidenen Existenz verwirklicht, in der nicht „äußerer Glanz oder äußerer Schein, sondern Wahrhaftigkeit und Intensität […] wichtig sind“. (Ebd.) Wo allein könnte der Quell solcher in sich ruhenden Innerlichkeit liegen? Es kann nur der Deutschen mythische Urheimat sein, wo stille Veilchen über stolze Rosen den Sieg davon tragen und nur die ganz stillen Wasser als tief gelten. In jener Welt also, wo angeblich weder Ehrgeiz noch falsches Begehren den Menschen zum Opfer künstlicher Paradiese, mithin ihm wesensfremden Verhältnissen machen: „Momo verkörpert die Sehnsucht nach etwas Vergangenem, nach authentischem, einfachem, ehrlichem Leben, dessen Gesetze von der Freiheit und den vielfältigen Möglichkeiten eines menschlichen Daseins Kunde geben.“ (Ebd., S. 23) Im Roman ließe sich „ein utopischer Entwurf einer Gesellschaft“ (Ebd., S. 24) finden, in der nicht „Angst und Hetze und Perfektion […] die herrschenden Maßstäbe (sind), sondern Gefühle wie Freude, Brüderlichkeit, Geborgenheit in einer Gemeinschaft freier Menschen.“ (Ebd., S. 25) Vor der Gefährdung solcher Geborgenheit kann nicht schrill genug gewarnt werden. „Die Bedrohung der Freiheit ist vielfältig. In welchen Erscheinungsformen sie uns begegnen kann, verdeutlicht Ende in den grauen Herren. Sie sind unsichtbar und doch Wirklichkeit. Sie sind die Allegorie des Bösen, das die Freiheit und das Leben der Menschen vernichtende Potenzial, das im Menschen selber steckt. Es ist konkret, es kann tödlich sein.“ (Ebd., S. 24) Gegen diese imaginierte tödliche Bedrohung hilft nach Ansicht Gathmanns nur eines: Selbst ein wenig wie die Romanfigur zu werden, und wie diese „nach innen, in den Herz-Innenraum“ zu hören. (Ebd., S. 22) Man kann nur hoffen, dass die Kinder von Frau Gathmann für sich rechtzeitig Tocotronic entdeckt haben und gegen das regressive Bedürfnis ihrer Mutter nach ewig währender Infantilität, die sie ihnen aufherrschen wollte, erfolgreich polemisiert haben. Denn gegen Leute, die die „Wahrheit und […] Wahrhaftigkeit des Kindseins“ in einer „Stärke“ erkennen, „die aus dem Mut zur Phantasie erwächst“ (Ebd., S. 24), bestehen Kinder nur unter Aufbietung eines Höchstmaßes von Selbstverteidigung. Alle Mittel der Subversion, von der Playstation bis hin zur exzessiven Nutzung der Kinder-Chatrooms im Netz sind Ausdruck legitimer Notwehr gegen die Zumutungen, die Christiane Michaelis (7), Autorin eines anderen Lehrerbegleitheftes zu „Momo“, den Kindern andient. Sie agitiert gegen die verdorbene Phantasie des „Lügner(s) Girolamo, der seine Geschichten kommerziell ausschlachtet, um sich seinen Traum von Ruhm und Reichtum zu erfüllen. Doch diese Geschichten haben mit kreativ-originärer Fantasie nichts mehr zu tun.“ (Michaelis, S. 13) Gegen diese von Ruhmsucht und Profitgier verdorbene Phantasie breitet sie schon einmal jene Folterwerkzeuge sprachlicher Verderbtheit und rigorosen Verbots aus, mit denen versucht wird, die Kindheit „auszuixen“: „Positiv-produktive Fantasie ist unabhängig von materiellen Gütern und frei von zweckorientiertem Handeln. Dies verkörpert Momo insbesondere durch ihr unkonventionelles Aussehen und ihren inspirativen Einfluss auf die Kreativität ihrer Freunde […]. Moderne Spielsachen […] oder die kommerzielle Vermarktung von Geschichten wirken dagegen kontraproduktiv, denn sie beschränken die Freiräume der Fantasie und verursachen durch mechanisch-künstliche Stereotypie eher Langeweile.“ (Ebd., S. 13f.)
In seinen pädagogischen Reflexionen aus den 1960er Jahren, knüpfte Adorno die Hoffnung, dass die Einrichtung zivilisierter Verhältnisse in der postnazistischen Bundesrepublik möglich sei, an die schulische Erziehung, wenngleich er sich durchaus dessen bewusst war, dass sich diese Hoffnung an etwas zutiefst Prekäres heftete. (8) „Sicherlich ist, solange die Gesellschaft die Barbarei aus sich heraus erzeugt, zum Widerstand dagegen die Schule nur minimal fähig.“ (Ebd.) Jedoch unter der Voraussetzung einer geübten „Kritik am Erziehungsprozeß selbst, der […] bis heute im allgemeinen misslingt“ (Ebd., S. 81), also unter der Voraussetzung, dass auf die barbarischen Momente, die in der Erziehung angelegt sind, reflektiert würde, könnte Schule „unmittelbar auf die Entbarbarisierung der Menschen hinzuarbeiten“. (Ebd., S. 86) Die Begeisterung für Endes „Momo“ von Lehrern, die im Literaturunterricht in miserablem Deutsch gegen die autonome Kunst wettern, die ihnen in der „frei stehenden Schönheit ihrer ästhetischen Existenz“ als mindestens so artfremd erscheint, wie Girolamos „Lügengeschichten“ bekräftigen die Zweifel Adornos daran, dass seine Kritik bei ihren Adressaten etwas bewirken könnte. Die in der Lehrerbegleitliteratur zu „Momo“ herauspräparierten Unterrichtsentwürfe und -ziele laufen auf die unhinterfragbare Identifizierung der Schüler mit dem „Hier und Jetzt“ in seiner missvergnügten, ideologischen Variante hinaus, auf den Appell, die widerspruchsfreie und damit vollends autoritäre Gemeinschaft einzurichten. So sollen schon die Grundschüler bei der gemeinschaftlichen Lektüre des Romans „Momo“ lernen, dass „gemeinsames Lesen […] Spaß (macht)“, um „über das Lesevergnügen […] den Zauber gemeinsamen Zuhörens und Erlebens“ zu „erfahren“. (Gathmann, S. 26) Diese „Erfahrungen“ sollen ihnen vermitteln, wie „wichtig“ für den Einzelnen der „Zusammenhalt in der Gruppe“, also einer „Gemeinschaft, in der einer dem anderen am Herzen liegt“, zu sein hat. (Ebd., S. 29) Sekundarschülern wird nahegelegt, dass egoistisches Verhalten und das Streben nach „Reichtum und Erfolg“ (Michaelis, S. 11) schlimme „Konsequenzen […] sowohl für den Einzelnen (Verlust der Identität) als auch für die Gemeinschaft (Momo verliert einen Freund)“ hat. (Ebd., S. 52) Angesichts einer praktizierten Gemeinschaftserziehung, die ihre wesentlichen Motive aus einem antisemitischen Kinderbuch zieht, wirken Adornos Forderungen nach einer „Erziehung zur Entbarbarisierung“, die in erster Linie Aufgabe der Schule sein sollte, scheinbar naiv. Und doch sind Adornos Forderungen gegen Lehrer, die mit „Momo“ in der Hand die gesamtgesellschaftliche Regression beschleunigen, aktueller denn je. Die professionellen Lehrer in ihrer Mehrheit kommen als Adressaten dieser Kritik, gar als Akteure, die in ihrem Bereich aktiv gegen den Rückfall in die Barbarei kämpfen würden, allerdings nicht in Betracht. Eine Erziehung gegen „Momo“ wird sich notwendig gegen die Schule zu richten haben.
C. und A. gewidmet, die Michael Ende totgesungen haben. Für wertvolle Hinweise danke ich Justus Wertmüller.
Peter Siemionek (Bahamas 55 / 2008)
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