für Zerlina
„Nur durch die Kultivierung der Fähigkeit zu geistiger Kritik werden wir uns über Rassenvorurteile erheben können [...] Die Kritik wird die Rassenvorurteile zum Verschwinden bringen, indem sie auf der Einheit des menschlichen Geistes in allen seinen unterschiedlichen Formen insistiert.“
Oscar Wilde, Der Kritiker als Künstler
I. Verzeihen Sie mir zu Beginn eine kleine Eitelkeit: ich denke, ich darf mir schmeicheln, für den Job, den ich hier zu erledigen habe, nämlich über „Rasse und Individuum“ zu sprechen, besonders qualifiziert zu sein, jedenfalls dürften meine Gegner es so sehen: 16 Jahre ist es nun her, 1993, dass ich auf dem Kongress, den die Zeitschrift Konkret veranstaltet hatte und danach, als – ich zitiere aus dem Gedächtnis – „Rassist“ und „linker Schädelvermesser“ geoutet wurde. Zur Erinnerung: auf diesem Kongress gab es ein Podium über „Identität und Differenz“, auf dem unter anderem Günter Jacob, Diedrich Diederichsen und Christoph Türcke referierten. Und es war Türcke, der dabei den in den Augen der Anti-Rassisten unglaublichen Fauxpas begangen, ohne eilfertige moralische Distanzierung überhaupt von „Rasse“ zu sprechen, überhaupt an biologisch gegebene Naturtatsachen des Menschen zu erinnern. Damit nicht genug, meldete er grundsätzlichen Zweifel an der Erklärungskraft des Begriffs „Rassismus“ überhaupt an, angesichts einer damals längst in Gang gekommenen „Inflation des Rassismus“ (so auch der Titel seines Referats), in deren Gefolge der Begriff auf schlechthin alles, was irgendwie mit Herrschaft oder Unterdrückung zu tun haben könnte, ausgeweitet und damit komplett entleert wurde. Türcke hat dieses jeder Logik und jedem Realitätsbezug hohnsprechende Kasperltheater, das nicht nur bekennende Anti-Rassisten, unter ihnen viele „Antideutsche“, sondern auch die Sozialwissenschaftler damals schon veranstaltet haben, schneidend kritisiert und ihnen damit ihr Lieblingsspielzeug madig gemacht, mit dem sie Gesinnungsfestigkeit und moralische Integrität inszenieren konnten – jenes Kasperltheater, das mit der feinsinnigen Unterscheidung von „biologistischem“ Rassismus (der „alte“ Rassismus, d.h. Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Hautfarbe) und „differentialistischem Rassismus“ (kulturelle Diskriminierung) anhob, und über den „sexuellen Rassismus“ (Diskriminierung von Frauen, Männer kamen nicht vor als Opfer) zunächst zur sogenannten „triple oppression“ (Opfer von Klassenherrschaft, Rassismus und Sexismus) und schließlich zum frei flottierenden Irrsinn einer, man könnte sagen, „multiple“ oppression führte, unter der man allen Ernstes über „lookism“, also Diskriminierung aufgrund des Aussehens oder „ableism“, Diskriminierung wegen Fähig- oder Unfähigkeit diskutierte.
Indem Türcke gegen diesen begrifflichen Mummenschanz darauf insistierte, dass zu einem konsistenten Begriff des Rassismus notwendig der Bezug auf die menschliche Hautfarbe gehört, die Hautfarbe aber bei aller zugegebenen kategorialen Gegenstandskonstitution nun mal eine Naturtatsache sei, wollte er schlicht daran erinnern, dass jeder Rassismus sich sein Objekt nicht einfach willkürlich erfindet, sondern gegebene Fakten in ein durchaus wahnhaftes Gebilde hineinspinnt. Überhaupt ging es ihm ja eben nicht um ein Lob der Differenz – sein Referat endete ja mit einem Plädoyer für eine recht verstandene Gleichheit, mit dem Gedanken, dass nur kraft der Fähigkeit, dem Verschiedenen ein Gleiches abzumerken, die abstrakte Vergleichung, die die kapitalistische Vergesellschaftung stiftet, überhaupt adäquat zu kritisieren sei. (1)
Dem Club der Selbstgerechten und Empörten war das aber einfach egal: man machte Türcke einen Skandal und legte sich dafür alles solange aus und zurecht, bis es passte. Manfred Dahlmann und ich waren damals die einzigen, die Türcke in der Konkret verteidigt und auf den Minimalvoraussetzungen jeder redlichen Diskussion bestanden haben (2) – was selbstverständlich nicht viel nützte, im Gegenteil einige besonders Beflissene, übrigens Mitglieder der damaligen Hamburger Bahamas-Redaktion, noch zusätzlich anspornte, der Kritischen Theorie nachzuweisen, dass ihre Exponenten bzw. diejenigen, die sich heute auf sie berufen, „rassistisches“ und „sexistisches“ Gedankengut in die Linke hineintrügen. (3)
Umso verschnupfter und wütender schlugen die anti-rassistisch und anti-deutsch Gesonnenen um sich, als sie sich etwas darauf einbildeten, dass doch gerade sie dabei waren, theoretisch und praktisch aus der deutschen und der linken Vergangenheit Lehren für die Gegenwart zu ziehen: ja, früher sei man einer „verkürzten Kapitalismuskritik“, einem „ökonomistischen“ Begriff des Kapitals aufgesessen, hiess es damals stereotyp, aber jetzt sei das anders, das stelle man doch gerade dadurch unter Beweis, dass man gegen „Großdeutschland“, gegen ein neues „Viertes Reich“ und den in ihm angeblich vorherrschenden „rassistischen Konsens“ agitiere und auf die Straße gehe. Aber genau diese rituellen Selbstanklagen und der Gesinnungskitsch, der bereits um die „Nie wieder Deutschland“-Kampagne veranstaltet wurde („Deutschland marschiert – wir widerstehen!“), erweckte damals schon nicht nur bei mir den Verdacht, dass das, was unter der anti-deutschen Flagge segelte, von seiner Grundstruktur nicht viel anderes war als ein moralisch selbstbezüglicher, aber nun gewissermaßen nach innen gewendeter Anti-Imperialismus (4) – und im Aufruf zur Frankfurter NWD-Demo hiess es ja auch: „Wir wollen kein Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, denn es ist ein Selbstbestimmungsrecht von Imperialisten.“ (5) Und wie es sich für ein ordentlich dichotomisch strukturiertes, nach Gut und Böse eindeutig sortiertes Weltbild gehört, war die Kehrseite des moralischen Gezeters gegen Deutschland die Identifikation mit neuen Kollektiven: jetzt waren es die Ausländer und besonders die nunmehr feinsinnig „Migranten“ genannten, die in die Rolle eines neuen revolutionären Subjekts gedrängt wurden und teilweise diese Rolle auch ganz gerne übernahmen: erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an so eine funeste Vereinigung wie das „Café Morgenland“, das seine abstrusen Tiraden gegen „deutsche Täter“ mit Vorliebe gegen ihre anti-deutschen Fürsprecher richtete, die sich aber die naheliegende Reaktion, dass die Morgenländer einem schlicht auf die Nerven gehen, aus schlechtem Gewissen und Rücksicht auf ihr neues Subjekt verkniffen.
Wie dem auch sei: jedenfalls waren damals bereits alle Argumentationsfiguren versammelt, die heute in einer anders gelagerten politischen Praxis ihre wahre Bestimmung finden. Heute ist wieder alles am rechten anti-imperialistischen Ort, es geht es nicht mehr gegen das „Vierte Reich“, sondern gegen die „neuen Nazis“ im wahren „Reich des Bösen“, das man in den USA und Israel inkarniert findet, dem „großen“ und „kleinen Satan“ in der Sprache der Islamisten, mit denen die Linken ja auch eifrig fraternisieren. Mein Beitrag in der damaligen Konkret endete mit einem Plädoyer für einen „anderen Anti-Rassismus“. Das hat sich heute erledigt: am Anti-Rassismus ist nichts zu retten, nichts zu beerben, und zwar genausowenig wie am Anti-Imperialismus und am traditionellen Anti-Kapitalismus, mit denen er ja auch die wesentlichen Grundannahmen teilt. (6) Um es kurz und schmerzhaft ausdrücken: „Rassismus“ ist ein ideologisches Stichwort eines anti-rassistischen Rackets, das jeden Realitätsbezugs entbehrt, das seine Mitglieder vielmehr nur als Ausweis von Gesinnungsfestigkeit und Ehrbarkeit vor sich hertragen und das ihnen als probates Mittel dient, um nach Willkür und freiem Ermessen festzulegen, wer gerade als „Rassist“ zu gelten hat. Und dieses „anti-rassistische“ Racket, das sind heutzutage fast alle: längst ist die Gegnerschaft zum Rassismus keine Domäne der Linken mehr, sondern offizielle Staatsraison und common sense aller Ehrbaren und Wohlmeinenden, und das ist die erdrückende Mehrheit.
„Anti-Rassismus“ ist ein Ticket, ein Kombi-Paket an Selbsteinschätzungen, Haltungen und darauf beruhenden Verhaltensweisen, der Anspruch, eine moralisch saubere und politisch wirksame Gegenposition zum Rassismus einzunehmen; und dazu zählen unbedingt: das Wort „Rasse“ und alles, was daran erinnern könnte, aus seinem Wortschatz verbannen, offen sein für „den Anderen“ und seine Kultur, Religion, Sitten und Gebräuche, nur respektvoll über andere Kulturen sprechen – über die eigene eher gar nicht oder schamhaft bis abschätzig, weil die ja den „Imperialismus“, also die Unterdrückung fremder Kulturen repräsentiere, daher überhaupt kein Urteil über die Fremden und ihre Gewohnheiten fällen, das wäre ja „eurozentristische“ Anmaßung und die Verlängerung dieses „Imperialismus“, sondern lieber das Selbstverständnis der Fremden übernehmen, sich zurückhalten und damit symbolisch „Schuld“ abtragen.
Von der moralisierenden Aufdringlichkeit und der enervierenden Verlogenheit einmal abgesehen, ist die Ehrfurcht, die „anderen Kulturen“ entgegengebracht wird und die Unterwürfigkeit, mit der ihre Träger geradezu als Heilsbringer verehrt werden, keine Gegenposition zum Rassismus, sondern dessen logische wie historische Voraussetzung, die im Rassismus und allen naturalisierenden Ideologien als ein Moment überlebt: deren Grundmuster ist die projektive Bekämpfung dessen, was man selbst gern möchte, aber nicht erreichen kann, und deshalb gehört zur Diskriminierung der Neger wegen ihrer „Faulheit“ die Bewunderung für den „Rhythmus, den sie im Blut haben“ und die Achtung vor ihrer „sagenhaften Potenz“; somit ist der „Anti-Rassismus“ nichts weiter als die notwendige Kehrseite des Rassismus selbst, die sich von diesem abgespalten hat und gegen ihre eigene Grundlage wendet. Historisch jedenfalls geht die Wertschätzung fremder Kulturen ihrer späteren, „rassisch“ legitimierten Abqualifizierung voran und sie ist auch logisch deren Voraussetzung: Christoph Columbus etwa beschreibt in seinen Tagebüchern die Eingeborenen, die er 1492 auf den Bahamas, Cuba und schliesslich Haiti angetroffen hat, folgendermaßen: sie sind „ängstlich und feige“, „sehr sanftmütig und kennen das Böse nicht, sie können sich nicht gegenseitig umbringen“, „sie begehren die Güter anderer nicht,“ und er resümiert: „Ich glaube nicht, dass es auf dieser Welt bessere Menschen oder ein besseres Land gibt.“ (7)
Als Columbus dies niederschrieb, gab es weder den Begriff noch eine entsprechende Vorstellung von „Rasse“ – und doch existiert hier bereits die Vorstellung von einem durch bestimmte Eigenschaften und Wesenszüge bestimmten Kollektiv, auf das alle eigenen Sehnsüchte und Wünsche projiziert werden: auf diese Weise wird der Ursprungsmythos vom „guten Wilden“ (8) aufgerichtet. Es werden empirische Menschen an einem Anspruch gemessen, dem sie zu genügen haben, ihnen wird ein idealer „Wesenskern“ untergeschoben, dem sie zu entsprechen haben – und wenn sie dies nicht tun, was unvermeidlich ist, hat dies ihre Abqualifizierung und Verdammung logisch zur Folge: nur zwei Jahre später haben sich für Columbus die Friedfertigen und Sanftmütigen in „grausame Wilde“ verwandelt, die nur zum Sklavendasein taugen und die man mit drakonischen Strafen belegen müsse. (9)
Der Mythos von den guten Wilden, die dem Ursprung der Menschheit am nächsten seien, auf die man sich wieder zu besinnen habe, taucht dann wieder auf im 18. Jahrhundert bei Montesquieu in den „Perserbriefen“ und bei Herder, der Montesquieus Lehre von dem durch natürliche und gesellschaftliche Faktoren bestimmten „Gemeingeist“ von Völkern aufgreift und zu einer Theorie verdichtet: danach gibt es keine universell, für alle Menschen gleichermaßen geltenden Maßstäbe, Kategorien, Prinzipien, Werte, sondern umgekehrt verfügt jede Gesellschaft über eine ganz besondere, unvergleichbare Kollektivseele, einen „Volksgeist“, der gleichermaßen in Sprache, Kunst, Denkweise, Kleidung, Gewohnheiten und Traditionen seinen Ausdruck findet. Es gehe daher nicht an, wie Herder namentlich gegen Voltaire polemisiert, in Aufklärungsmanier die Menschen nach abstrakt-allgemeinen Prinzipien umerziehen zu wollen, sondern man müsse die Völker in ihren angestammten Vorurteilen belassen, repräsentieren diese doch die guten Ursprünge eines Kollektivs: „Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste; das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes.“ (10) Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um zu erkennen, dass Herders Theorie von den guten und gegen die Anmaßung der Aufklärung zu schützenden „Volksgeistern“ ziemlich genau dem heutigen „anti-rassistischen“ common sense in Europa entspricht, der unterschiedslos „Respekt“ und „Toleranz“ für alle „gewachsenen Kulturen“ praktiziert und diese gegen den anmaßenden „Imperialismus“ der USA in Schutz nimmt. Und es ist unschwer zu sehen, dass Herders Lehre von der in allen Lebensäußerungen eines Volkes sich aussprechenden Eigenart Modell gestanden hat für den modernen, im aktuellen Zusammenhang immer wieder reklamierten Kulturbegriff, der mit der als „elitär“ verunglimpften Hochkultur jeden objektiven Maßstab für das, was Kultur ist und was nicht, verabschiedet, dafür einfach jede mit Regelmäßigkeit stattfindende Lebensäußerung unterschiedslos zur Kultur erklärt, aber den Nimbus des alten Begriffs beibehält, mit der Konsequenz, dass aus einem das Alltagsbewusstsein wie auch die Rechtsprechung beherrschenden Kulturdünkel heraus heute schlechthin alles zur Kultur erklärt werden kann: Popsongs als Subkultur, toskanisches Olivenöl als Esskultur, das gewalttätige Agieren von islamischen Ehemännern als traditionelle Kultur und – Gipfel der Perversion! – der europäische Sozialstaat als angeblich gelungene kulturelle Zähmung des Kapitalismus. (11) Herder übrigens war ein erklärter Gegner der gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt aufkommenden Rassentheorien, was ihn zwar persönlich ehrt, aber doch nichts daran ändert, dass seine „anti-rassistische“ Lehre dem späteren explizit rassistischen Deutschnationalismus den Weg ebnet.
Andererseits ist der Anti-Rassismus nicht nur die Voraussetzung, sondern auch die Konsequenz des Rassismus. Alle anti-rassistischen Pamphlete, die vor 20 Jahren wie die heutigen, unterstellen immer, dass es zunächst so etwas wie eine rassistische Doktrin oder Lehre gebe, die dann in einem zweiten Schritt realisiert, in die Tat umgesetzt wird. Die Gegnerschaft bezieht sich also hauptsächlich auf eine Ideologie, weniger auf die Praxis, die durch sie gedeckt wird. Der ältere Anti-Rassismus, wie er sich beispielsweise in den Gründungsstatuten der UNO niedergeschlagen hat (12), bemühte sich deshalb, den Rassismus zu „widerlegen“ und führte zu diesem Zweck naturwissenschaftliche und auch schon soziologische Belege an, die untermauern sollten, dass der Rassismus nicht nur verwerflich, sondern auch unhaltbar ist. (13) Der moderne Anti-Rassismus pfeift auf solche wissenschaftliche Gediegenheit und hält es dafür lieber mit protestantischer Innerlichkeit: gemäß der Devise, dass vor der schlechten Tat der schlechte Gedanke und das schlechte Wort kommen, die man demzufolge austreiben muss, damit alles besser wird, besteht anti-rassistische Praxis heute aus hochnotpeinlicher Gewissenserforschung und Sprachsäuberung in Permanenz, die wiederum in Gang gehalten wird durch den universellen Verdacht gegen jeden einzelnen, den die Einpeitscher und Sprecher nicht müde werden zu streuen. Aber wie man es auch dreht und wendet: wer es sich zum Ziel gesetzt hat, den Rassismus als Ideologie entweder argumentativ zu widerlegen oder mental zu exorzieren, anstatt nach den Bedingungen seiner Möglichkeit und dem gesellschaftlichen Gehalt zu fragen, der sich in ihm ausspricht, bewegt sich auf dem Terrain, das die rassistische Ideologie ihm bereitet hat und ist dazu verurteilt, dessen Grundannahmen, die substantialistisch legitimierte Sortierung der Menschen in Kollektive, ideologisch und praktisch zu reproduzieren. (14) So kommt es, dass es heute der Anti-Rassismus ist, der, unter dem Vorwand, heldenhaft gegen einen in Wahrheit nicht existenten „Rassismus“ zu kämpfen, Respekt und Toleranz noch für die rückständigsten und unmenschlichsten Sitten und Gebräuche einfordert und damit selbst als Protagonist und Fürsprecher einer Verrassung der restbürgerlichen Gesellschaft fungiert.
Abgesehen davon ist die Annahme, dass der rassistische Gedanke der schlimmen Tat vorangeht, auch sachlich unhaltbar: historisch ist es genau umgekehrt (15). Die Versklavung, Ausbeutung, Unterdrückung und Ermordung andersfarbiger Menschen funktionierte beginnend mit dem Kolonialismus des 15. Jahrhunderts über Jahrhunderte hinweg ohne eine ausgesprochene rassistische Doktrin. Die im 18. Jahrhundert aufkommende Rassenlehre entstammt der durchaus aufklärerischen Bemühung, die Vielfalt dessen, was Menschenantlitz trägt, mit wissenschaftlichen Kriterien zu vermessen, zu klassifizieren und zu systematisieren. (16) Dass jede Erkenntnis und bereits die banale Klassifikation ihren Gegenstand nicht einfach nur passiv abbildet, sondern aktiv konstituiert, dass uns alle Natur nur zugänglich ist durch die mit Allgemeinheit und Notwendigkeit geltenden Denkformen, die das erkennende Subjekt dem Objekt aufgeprägt hat, dass also auch die Einteilung der Menschen nach Hautfarben eine Leistung des menschlichen Verstandes ist und darüber hinaus, materialistisch gelesen, einer gesellschaftlichen Intention entspringt – das ist bekanntlich die erkenntnistheoretische Grundfrage aller modernen Philosophie, namentlich bei Kant, darüber brauchte uns nicht erst die Postmoderne zu belehren. Aber keine Klassifikation wäre sinnvoll möglich, würde ihr nicht am Objekt etwas entgegenkommen: die unterschiedliche Pigmentierung der menschlichen Haut ist eine objektive Gegebenheit, keine bloße Erfindung. Bei aller Kritik am bürgerlichen Klassifikationsbedürfnis als solchem und eingeräumt, dass eine Klassifikation bereits von sich aus zu expliziten Wertungen tendiert: Rassismus beginnt erst dort, wo von vererblichen körperlichen Eigenschaften, hier: dem vererblichen Faktor Hautfarbe auf fixe, natürliche und kollektiv vererbbare Eigenschaften wie Intelligenz, Temperament, Kultur, Charakter geschlossen wird, wo man also einen fixen und vererbbaren kollektiven „Wesenskern“ des Menschen annimmt. Rassismus ist also die Lehre von der erbgenetisch bedingten, d.h. natürlich gegebenen und damit unveränderlichen charakterlichen, kulturellen Ausstattung von Menschengruppen unterschiedlicher Herkunft – das ist die einzige, enge und präzise eingegrenzte Definition, die sich geben läßt. Und nur eine gesellschaftliche Praxis, die unter Berufung auf diese sei’s wissenschaftlich verbrämte, sei’s vulgär vorgetragene Auffassung Menschen sortiert, schikaniert, diskriminiert, versklavt, ausbeutet, beherrscht oder ermordet – nur diese kann legitimerweise „rassistisch“ genannt werden.
Demnach beginnt der explizite Rassismus erst im 19. Jahrhundert und kommt in dem Moment, wo er zum geschlossenen weltanschaulichen System sich rundet, als Rassismus auch schon wieder an sein logisches Ende; dafür prägen die ihm entstammenden Kategorien gleichsam als abgesunkenes Unkulturgut die gesamte öffentliche Diskussion bis ins 20. Jahrhundert. Demnach waren der späte Kolonialismus , d.h. des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts weiterwirkende Rassensegregation in den Südstaaten der USA und das um die Jahrhundertwende beginnende Apartheidsregime in Südafrika Gesellschaften bzw. Herrschaftssysteme, in denen Rassismus der gesellschaftlich notwendige Schein ist und die zentrale Legitimationsideologie abgibt und die deswegen das Prädikat „rassistisch“ auch wirklich verdienen. Demnach ist es aber auch grotesk, heute noch von einem existenten Rassismus zu sprechen; denn zum Rassismus als einer gesellschaftlich wirksamen Ideologie gehören Bewegungen, die ihn sich auf ihre Fahnen schreiben, gehören Exponenten, die sich selbst als Rassisten begreifen und daraus in der Öffentlichkeit keinen Hehl machen – während heute jedes Denken in Rassen gesellschaftlich flächendeckend geächtet ist und die letzten verbliebenen Rassisten keine ernstzunehmende gesellschaftliche Tendenz oder Bewegung mehr repräsentieren, sich vielmehr unmöglich machen, wenn sie sich offen zu ihrer Anschauung bekennen. Was heute fälschlicherweise „Rassismus“ genannt wird, hat mit diesem nichts zu tun, sondern ist ordinärer Fremdenhass. (17)
Die Wirkungsmacht, die der Rassismus als Rassismus entfaltete, ist also viel begrenzter als gemeinhin unterstellt; und diese begrenzte Wirkung folgt aus dessen immanenter Logik, die bei den erklärten Anti-Rassisten verschwiegen wird, weil es nämlich auch ihre höchsteigene ist und sie diese als unbenannte umso unangefochtener in der Praxis vollstrecken können. Wenn wir uns in diese Irrenlogik des Rassismus hineinbegeben, dann stoßen wir auf dessen eigentümliche Dialektik: die Behauptung der erbgenetisch bedingten Höher- und Minderwertigkeit verschiedener Menschengruppen, also die Sortierung der Menschen in lauter besondere, miteinander unvereinbare Rassen impliziert notwendig die Anerkennung der Kategorie „Rasse“ als eines allgemein, d.h. gesellschaftlich gültigen Gliederungs- und Herrschaftsprinzips. Die Partikularisierung der Menschheit wird selbst zum universellen Prinzip und seit jeher laborieren Rassisten und alle rassistisch legitimierten Herrschaftssysteme an dem Widerspruch, dass sie etwas als gesellschaftliches Prinzip erst setzen müssen, was doch ihrer Ansicht nach sowieso von Natur aus gegeben sein soll. (18) Die Willkür eines jeden Rassismus manifestiert sich darin, dass in ihm die bürgerliche Gesellschaft als ein in Klassen, Gruppen, Cliquen, Familien, Individuen gegliedertes Ganzes einfach naturalisierend umdefiniert wird in ein Ensemble von „Rassen“. Und die praktischen Konsequenzen, die sich aus dem verallgemeinerten Rassenprinzip logisch ergeben, sind, idealtypisch formuliert, entweder: die gegenseitige Segregation oder Apartheid, mit der eine mehr oder weniger hierarchische Ordnung der Rassen festgeschrieben wird – sozusagen die reformistische Variante; oder dessen notwendig militante Kehrseite, der gewaltsam ausgetragene Rassenkampf, der zum „Kampf ums Dasein“ ideologisierte Verdrängungswettbewerb.
Kraft immanenter Logik, d.h. kraft dieser in ihm wirksamen Dialektik von Besonderung und Anerkennung ist dem Rassismus in all seinen Spielarten zwar ein mörderisches Potential von erheblichem Ausmaß eingeschrieben – aber gerade nicht die kollektive Vernichtung aus existentieller Feindschaft, die dafür dem Antisemitismus von vornherein innewohnt. (19)
Diese begrenzte Wirkungsmacht und mangelnde Zukunftsfähigkeit des Rassismus als Rassismus lässt sich gerade an jenem Autor demonstrieren, der zurecht als dessen Pate gehandelt wird: dem Grafen Gobineau. Im Jahr 1850, drei Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, fasst Gobineau in seinem „Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen“ die Weltgeschichte als eine des Kampfes nicht der Klassen, sondern der Rassen. Der springende Punkt dabei: die Weltgeschichte ist für ihn eine Geschichte des Verfalls, des Verfalls einer ehemals reinen Rasse, seine Geschichtskonzeption daher eine Untergangsvision. Deshalb ist dieses so epochemachende Werk vor allem das Dokument eines Scheiterns und das ist weder seinen beflissenen Nachbetern noch seinen anti-rassistischen Gegnern aufgefallen. Wenn Gobineau die „reinen“ Menschenrassen auf die Anfänge der Menschheit zurückdatiert und Geschichte als Rassendegeneration konzipiert, dann gesteht er damit ein, dass in der Gegenwart Rassen sich nicht bzw. nicht mehr wissenschaftlich exakt nachweisen lassen; damit aber kann jegliche Rassenlehre genau das nicht leisten, was sie beansprucht: nämlich eine unbezweifelbare Gewissheit über die Identität von Menschen, d.h. über ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu stiften. Denn das, wovon die Rassenlehre ihren Ausgang nimmt und was sie als augenscheinliche Gegebenheit oder als Natur identifiziert, die menschlichen Hautfarben, ist selbst schon das Produkt von Geschichte. Wolfgang Pohrt hat das in einem Aufsatz einmal folgendermaßen formuliert: „Während der Rassismus also vorgibt, bei der Einteilung der Menschen in verschiedene gleichartige Gruppen dem unmittelbaren Augenschein zu folgen und sich dabei auf einfache, objektive und messbare Fakten zu stützen, entspricht dieser Doktrin in Wahrheit keine Realität, denn überall dort, wo der Rassismus vorkommt, hat die Vermischung, Vergesellschaftung jener naturwüchsigen Kollektive bereits stattgefunden, die dem Begriff ,Rasse‘ noch am nächsten kämen, so dass man behaupten kann, die Existenzweise der Menschen als verschiedene Rassen und der Rassismus schließen einander aus, was auch jene Gegner des Rassismus beharrlich ignorieren, die den Begriff ,Rasse‘ stillschweigend akzeptieren, wenn sie die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse verurteilen“ (20) Und zum anderen ist das Schließen von der Hautfarbe auf Charaktereigenschaften bzw. Kultur eines Kollektivs im Resultat nichts weiter als die Mystifikation eines ganz banalen Faktums, als Vorgang eine je individuell stattfindende Projektion.
Was sich im Rassismus ausspricht, ist vielmehr eine strikt gesellschaftliche Bestimmung: die fundamentale Krisenhaftigkeit des bürgerlichen Individuums, seine Angst vorm Verlust seiner bürgerlichen Qualität, dem Rückfall in bloße Natur, aber auch – und das ist das Doppelgesicht des Rassismus – das Liebäugeln mit dem Rückfall in diese Natur. (21) Im Rassismus artikuliert sich der logisch unmögliche, aber praktisch notwendige Versuch des bürgerlich subjektivierten, vergesellschafteten Individuums, seine permanente Zurüstung für die Zwecke der Verwertung, d.h. einen unablässigen und vom Risiko des Scheiterns bedrohten Prozess sich als eine fixe und unverlierbare Natureigenschaft zurechtlegen zu wollen. Als universell vergesellschaftetes Individuum (22) hat es sich gleichwohl ungesellschaftlich, d.h. in fetischistisch-verdinglichter Form als Eigentümer, als Souverän seiner selbst zu denken und zu verhalten, der als Gleicher unter allen anderen Gleichgemachten, aus sich selbst, gleichsam aus seiner „Natur“ heraus jene Differenzen und feinen Unterschiede zu setzen vermag, der ihn gesellschaftlich brauchbar macht und für die Zwecke der Verwertung disponiert – ohne dass jedoch diese permanente Selbstzurüstung des Individuums mit irgendeiner Verwertungsgarantie oder seiner tatsächlichen produktiven Vernutzung verbunden wäre. Der Begriff des Subjekts ist daher der Inbegriff aller Zurüstungen für die Anforderungen der Gesellschaft, die das Individuum an sich vornimmt (23). Das Realparadox kapitalistischer Vergesellschaftung als einer „asozialen Sozialität“ (Stefan Breuer) macht sich im einzelnen Individuum derart geltend, dass sein Bezogensein auf andere Menschen und auf Dinge, seine gesellschaftliche Qualität, sein jeweiliges „Sein-für-anderes“ gewissermaßen zurückgestaucht wird in das einzelne Individuum und in verdinglichter Form als seine „Naturanlage“ oder sein „Wesenskern“ erscheint. Es verhält sich, wie mit dem Fetischcharakter im allgemeinen, so auch hier: wir brauchen von dieser „verrückten Form“ nichts zu wissen, um doch täglich in ihr zu agieren und die Redewendungen „Ich bin...“ bzw. „Ich als...“ (Deutscher, Frau, Mann, Hetero, Homo, Weißer, Schwarzer etc.) demonstrieren – egal, ob sie affirmativ-überzeugt oder „kritisch“-selbstanklägerisch vorgebracht werden – die Behauptung von Identität, d.h. die Reklamation irgendeiner substantiellen, überindividuellen Eigenschaft, die „im“ Individuum stecken soll, mit der es fest verwachsen zu sein behauptet. Diese Substantialisierung bzw. Naturalisierung von Relationalem, von gesellschaftlichen Beziehungen ist die allgemeine und notwendige krisenhafte Bewegungsform des bürgerlichen Individuums als Subjekt; und während die Anti-Rassisten und mit ihr fast die gesamte Öffentlichkeit so tun, als sei gerade der Rassismus der Inbegriff einer zum Zwecke der Ausgrenzung auf Natur rekurrierenden Ideologie und alle anderen Ideologien, namentlich der Antisemitismus, seien entweder nur dessen Spielart oder müssten vom Rassismus her begriffen werden (24), verhält es sich in Wahrheit so, dass der Rassismus, also die Behauptung einer an der Hautfarbe ablesbaren Höher- oder Minderwertigkeit der Menschen, nur eine spezifische, historisch entsprungene und somit vergängliche und dabei nicht einmal die wichtigste Erscheinungsform dieser dem bürgerlichen wie dem nachbürgerlichen Individuum eingeschriebenen Substantialisierung bzw. Naturalisierung seiner selbst darstellt. Die Natur des Individuums, seine Körperlichkeit, sein Triebleben, ist dabei, wie die äußere Natur, nur als gleichgültiger Stoff von Belang, an dem dieser an und für sich abstrakt-allgemeine Prozess, diese Realabstraktion sich illustriert – wie eben z.B. die Rassenlehre die Hautfarbe in Beschlag nimmt. Das bürgerliche Subjekt, als eine gesellschaftliche Unnatur, rekurriert auf Natürliches, damit es seine eigene leibliche Natur und die äußere umso effektiver unterwerfen, funktionalisieren und nach Möglichkeit ganz zum Verschwinden bringen kann; der Dekonstruktivismus ist der irre Traum, der Nationalsozialismus die praktische Umsetzung dieser finalen Selbstentleibung: „Identität ist Tod“ (Adorno). Deshalb lässt sich, da hatte Türcke ganz recht, dieser gesellschaftlichen Naturalisierung nichts Ärgerlicheres entgegensetzen als das Insistieren auf einem Natursubstrat, das im Begriff nicht aufgeht, mit ihm nicht identisch ist (25); und ein solches Beharren weiß sich Adornos Philosophiekritik verpflichtet: als ein – notwendig identifizierendes – Denken um des Nicht-Identischen willen, als Versuch, vermittels der Selbstkritik des Begriffs am Objekt etwas zu erfahren, was nicht bereits vom Subjekt vorgeprägt wurde, um auf diese Weise mit Vernunft der Natur beizustehen und Verhältnisse vorauszudenken, in denen Natur endlich zu ihrem Recht käme. Dann dürfte etwa die menschliche Haut und ihre unterschiedlichen Farbwerte einfach ein schöner Schein sein, ihr Lockendes und Verführerisches hervorkehren, ohne dass sie sofort als das Erkennungsmal irgendeines Allgemeinen in Beschlag genommen würde.
Diese Substantialisierung ist ein von den Individuen jeweils in Konkurrenz zueinander stattfindender, als solcher aber allgemeiner Prozess, dessen Inhalt austauschbar, an dem vielmehr die Form selbst ausschlaggebend ist. Als ein von allen Individuen in Gang gehaltener Prozess kann diese Substantialisierung auch äußerlich die Form einer ausdrücklichen, weltanschaulich fundierten Assoziation oder Bewegung annehmen wie etwa im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – aber dies muss keineswegs notwendig der Fall sein und es scheint so, als sei die Tendenz dafür abnehmend. Die aktuellen regressiven und kollektivistischen Tendenzen sind mittlerweile auch in sich und der äußeren Erscheinung nach höchst individualisiert und bringen es nur zu losen und temporären Koalitionen. Dem modernen, wendigen und anpassungsfähigen Individuum steht für die an sich stereotype Behauptung seiner substantiellen Identität mittlerweile von diversen „Kulturen“ über „Regionen“ und „Geschlechtsidentitäten“ bis zu den „Religionen“ eine fast unübersehbare Vielfalt an All-Gemeinheiten in verschiedensten Kombinationen zur Verfügung, neben der sich das Konzept von „Rassen“-Identität als armselig und anachronistisch ausnimmt. Bekämpft wird es deshalb, weil es ein unzeitgemäßes Relikt aus der Urgeschichte des bürgerlichen Identitätswahns ist
Der Rassismus hat als solcher, wie gezeigt, mit Gobineau bereits seinen Zenit überschritten. In der Folge durchtränken seine konstitutiven Kategorien das allgemeine öffentliche Bewusstsein; als gleichsam abgesunkenes Unkulturgut werden Kategorien wie „Rasse“, „Blut“, „Degeneration“ etc. im jeweiligen Kontext entweder erst recht gefährlich, wie gleich näher auszuführen sein wird – oder sie werden harmlos und banal. Graf Gobineau selber etwa war kein Antisemit und noch Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es Wissenschaftler, die sich in ihrer Gegnerschaft zum Antisemitismus gerade auf die Rassenlehre berufen; und in zionistischen Traktaten aus derselben Zeit ist ebenfalls von Rasse, Blut, von Verbesserung der Rasse etc. die Rede. Was die Antizionisten aller Fraktionen eilfertig und beflissen als Beleg für den „rassistischen“ Charakter des Zionismus herankarren, beweist natürlich das glatte Gegenteil, nämlich das Ausmaß, in dem Kategorien der Rassenlehre zum Allgemeinplatz wurden, so sehr, dass sie nicht nur ihrer wertenden „rassistischen“ Bedeutung verlustig gehen, sondern oft nicht einmal mehr mit Klassifizierung von Hautfarben zu tun haben. In den zionistischen Traktaten etwa ist „Rasse“ nur noch ein Name für eine bestimmte Menschengruppe, etwa synonym mit „Bevölkerung“ und eine Abbreviatur für die Tradierung bestimmter Gewohnheiten, Anschauungen oder Wertvorstellungen über Generationen. (26)
Andererseits beginnt der als eigenständige Doktrin gescheiterte Rassismus zunehmend als Begründungsfolie für den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erstarkenden Antisemitismus zu fungieren. In diesem Zeitraum findet eine Fusion statt zwischen einem rassistischem Denken, das bis dato nicht zwangsläufig antisemitisch konnotiert und einem Antisemitismus, der nicht zwangsläufig rassistisch legitimiert war. Es ist von daher falsch, zumindest schief, vom „nationalsozialistischen Rassenwahn“ zu sprechen, wie es so oft und gerne geschieht, oder vom „Rassismus, der zu Auschwitz führte“. Zum einen hebt man auf diese Weise am Nazi-Antisemitismus genau das hervor, was an ihm gerade nicht zentral oder ausschlaggebend ist: nämlich seine rassenideologische Begründung. Und der Grund dafür ist ziemlich durchsichtig: das „Rassistische“ am Judenhass der Nazis zu betonen ist die probate Legitimation für moderne Antisemiten, die ihre Ehrbarkeit heute gern dadurch herausstreichen, dass sie ja gar nicht von der „jüdischen Rasse“ und der Notwendigkeit ihrer Vernichtung sprechen, sondern im Gegenteil „rein politisch“ argumentieren, wenn sie Israel und seinen Bewohnern das Verderben an den Hals wünschen und dass ihr Agieren ja eine Lehre aus der Geschichte befolge: keine Menschen auszugrenzen, wie die Nazis es taten und die Israelis es angeblich heute tun.
Zum anderen wird den Nazis eine Vorstellung von Rasse unterschoben, über die diese längst hinaus waren. Der Rassenantisemitismus der Nazis vollstreckt und verlängert das Scheitern des einstigen Rassismus; aus der erwiesenen Unmöglichkeit, Rasse auch nur ansatzweise konsistent zu definieren, machen sie ganz einfach eine Tugend. Der durchgängige Verzicht auf jedwede Bestimmung von „Blut“ und „Rasse“, die doch andauernd beschworen werden, ist also kein Mangel, sondern Programm: was „Rasse“ ist und wer zu ihr gehört, bestimmt sich fortan rein negativ, und zwar in totaler Abgrenzung und existentieller Feindschaft zur Gegenrasse, die man in den Juden inkarniert wähnt und die als das schlechthin rassenzersetzende und deshalb vollständig zu vernichtende Prinzip aufgebaut wird. Von Hitler ist bereits von 1920 der Ausspruch überliefert „Eine Rasse sind wir nicht, eine Rasse müssen wir erst werden“ und von Himmler gibt es die bemerkenswerte Aussage von 1942: „Ich lasse dringend bitten, dass keine Verordnung über den Begriff ,Jude‘ herauskommt. Mit all diesen törichten Festlegungen binden wir uns ja nur selber die Hände.“ (27)
M.a.W: Die (germanische, arische etc.) Rasse ist damit nicht mehr als Ursprung, sondern als Ziel gefasst, keine Naturgegebenheit mehr, nichts, was der unmittelbaren Beobachtung sich erschließen würde, sondern etwas, das durch gesellschaftliche Praxis erst (wieder-)erschaffen werden muss, ein in die Zukunft gerichtetes Projekt. So klug wie die poststrukturalistisch gesonnenen Anti-Rassisten von heute, die jedwede körperlich-natürliche Bestimmung des Menschen – Geschlecht, Hautfarbe etc. – zum Ergebnis einer „sozialen“ oder „diskursiven“ Konstruktion erklären und dies auch noch für den Gipfelpunkt kritischen Bewusstseins halten, waren die Nazis allemal. Man kann sie daher ohne alle Übertreibung als die ersten praktizierenden Dekonstruktivisten bezeichnen, die sich mit ihrer gesellschaftlichen „Konstruktion“ einer arischen Herrenrasse und damit die zweite Natur an die Stelle der ersten setzen wollten: Darin treiben sie die im bürgerlichen Individuum prozessierende Realabstraktion auf die Spitze und repräsentieren daher einen bösartig und irre gewordenen, an sich verzweifelten und in der Verzweiflung sich einrichtenden bürgerlichen Schöpfungsmythos, der auch im Poststrukturalismus sich austobt. Mit dem Unterschied freilich, dass sie, anders als die verlegen herumdrucksenden Anti-Rassisten, auch klar benannt und praktisch demonstriert haben, gegen wen sich die „soziale Konstruktion“ einer Rasse notwendig richten muss und wer sie überhaupt in Gang zu setzen und ihr Geltung zu verschaffen vermag: nämlich der Souverän, der als Meister der kapitalistischen Krise auftritt, d.h. eine definitive Heilung des Kapitalverhältnisses von seinem doch unheilbaren Krisencharakter zu organisieren verspricht, indem er die gleichgemachten kapitalisierten Subjekte, und zwar die gleichermaßen Überflüssigen als Kollektiv der Verfolger und damit als Rasse in Stellung bringt gegen das vergleichende, die Krise des Bürgers und seiner Gesellschaft verursachende Prinzip, das man in wahnhafter Projektion in den Juden inkarniert wähnt.
Die Mobilisierung der Subjekte durch den Souverän vollzieht sich in Form vielwissender Andeutungen und bedeutungsvollen Raunens, was sich im Schlagwort der „Rasse“, einem gleichsam in eine Geste zurückübersetzten Begriff, nur konzentriert: was Rasse und was Gegenrasse sein soll, wer jeweils dazugehört und d.h. wer einstweilen überleben darf und wer umgebracht wird, wird absichtsvoll in der Schwebe gelassen, weil jeder einzelne dazu aufgerufen ist, sich aus eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko als „würdiges“ Mitglied der zukünftigen „Rasse“ überhaupt erst zu bewähren: durch vorauseilende Dienstbarkeit, durch die bedingungslose Bereitschaft zum Selbstopfer und zur Opferung der designierten Anti-Subjekte. Das zum Herrschaftsprinzip verallgemeinerte Locken und Drohen, die verallgemeinerte Willkür, hält die Panik der ökonomisch Überflüssigen vor dem doch zugleich herbeigesehnten kollektiven Untergang mit politischen Mitteln in Gang und entfacht eine nunmehr politische Konkurrenz der entindividuierten Subjekte um die Gunst der Macht. Weil es also allein auf tatkräftig unter Beweis gestellte Loyalität und nicht auf irgendwelche Abstammung ankommt, sind auch alle eingeladen, sich zu bewähren, nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Maßstab. „Unser Platz ist an der Seite des kommenden Russlands, an der Seite der Türkei, in den Reihen der Rifkabylen und der Drusen, bei den Ägyptern und bei den Arabern“, schrieb bereits 1925 Gregor Strasser, der Exponent des nationalrevolutionären Flügels der NSDAP im „Völkischen Beobachter“ (28). Und die Kollaboration mit den Nazis in ganz Europa, insbesondere im Osten, die islamischen Hilfstruppen an der Ostfront, die bosnischen SS-Freiwilligenbrigaden, die Kooperation mit dem Mufti etc. lassen die von den Nazis betriebene Transformation der bürgerlichen Subjekte zur Rasse als vorweggenommenes multikulturelles Unternehmen in großem Maßstab erscheinen. Was den Nazis die Rasse war, ist den Anti-Rassisten heute die „Multitude“, das Racket multikultureller USA- und Judenhasser, dem aber zum Glück noch der Souverän fehlt.
Für eine kritische Theorie der Gesellschaft heißt dies schlussendlich: der Begriff der Rasse ist also weder zu „widerlegen“ noch gar aus dem Sprachgebrauch zu verbannen – die Widerlegung hat der Rassismus im 19. Jahrhundert selber schon besorgt und alle Versuche, ihn naturwissenschaftlich zu widerlegen, führen in die Irre – sondern er ist materialistisch zu dechiffrieren. Das Praktische dabei: diese Arbeit können wir uns schenken, das haben nämlich bereits Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ besorgt. Dort heißt es nämlich in der ersten These über den Antisemitismus: „Rasse ist nicht, wie die Völkischen es wollen, unmittelbar das Naturhaft-Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv. Die Harmonie der Gesellschaft, zu der die liberalen Juden sich bekannten, mussten sie zuletzt als die der Volksgemeinschaft an sich selbst erfahren.“ (29) Anders als auf den Begriff Rassismus, der allenfalls von historischem Interesse ist (30), kann also auf den Begriff der Rasse nicht verzichtet werden, denn er erinnert daran: Deutsche, die dem Führer bis zuletzt die Stange gehalten haben; Berufspalästinenser, bereits ihre damaligen Verbündeten, die zwischen sich als Individuum und dem Kollektiv, das sie selbst reklamieren und das sie ihrerseits verpflichtet, nicht mehr unterscheiden mögen und dies durch Verhalten, Mimik, Tonfall, Sprache und ihre schließliche Selbstentleibung als suicide bomber beglaubigen; von Zivilisationsmüdigkeit und Selbsthass umgetriebene Berufseuropäer, die selbstgerecht und dünkelhaft auf einer Kultur beharren, zu der die meisten von ihnen keinerlei lebendige Beziehung mehr unterhalten, weshalb sie wahllos alles vergötzen, was sich als Kultur anpreist und was in den meisten Fällen bereits der simpelsten Vorstellung von Kultur Hohn spricht und etwa suicide bombers als bemitleidenswerte Opfer von „kultureller Entwurzelung“ entschuldigen; und nicht zuletzt erklärte „no global“-Anti-Rassisten, deren Sprecher, wenn sie „ich“ sagen, von sich selbst nur in Form totaler Identität als Vertreter eines in jedem Fall schwer bedrohten Allgemeinen, d.h. einer Kultur, einer Religion, eines Ideals sprechen und auch ansonsten keine Individuen mehr, sondern nur noch kulturell und religiös bestimmte Kollektive kennen, für die sie unterschiedslos „Respekt“ einfordern und die sie als „Multitude“ gegen das Empire der USA und ihre Verbündeten, namentlich Israel, in Stellung bringen wollen (31) – sie alle führen sich auf wie eine minderwertige Rasse und verdienen es, dass man sie als solche bezeichnet, so spinnefeind sie sich untereinander auch sein und so sehr sie sich auch voneinander abgrenzen mögen. Der Begriff der „Rasse“ wird heute nur deshalb so einhellig verteufelt, weil er als einziger noch daran erinnert, wie auch das nachbürgerliche Individuum – zwar mit anderen Inhalten und in vielfältiger Gestalt, aber der grundlegenden Form nach – wie eh und je sich freiwillig seiner Individualität entäußert und sie an ein Kollektiv abtritt. Dieses freiwillige Selbstopfer, das aufscheint in der allerorts zu beobachtenden Neigung der Individuen, ihr Selbstbewusstsein gerade aus empfundenem Leiden abzuleiten und empfundene Benachteiligung und Diskriminierung als Identitätsmerkmal zu reklamieren (32), bleibt dem bürgerlichen Individuum als solchem notwendig und unrettbar eingeschrieben; wahrer Individualismus wäre demgegenüber ein Zukunftsprojekt.
„Was Artie betrifft, er macht mit, weil...“
„... er sich einen persönlichen Gewinn davon verspricht“, rief Artie Wu aus der Küche. „Unterstell mir bloß keine hehren Motive.“
Ross Thomas, Umweg zur Hölle
II. Für einen, der Zeit seines Lebens nicht nur für solch einen unumschränkten Individualismus eintrat, sondern auch versuchte, als Individualist zu leben, war deshalb alle Opfersehnsucht schlicht ein Gräuel: „Zu bedenken ist noch, dass der Individualismus nicht mit irgendwelchem kranken Geschwätz über Pflichten an den Menschen herantritt, womit nichts anderes gemeint ist, als das zu tun, was andere wollen, bloß weil sie es wollen; noch wird er uns mit irgendwelchem abscheulichen Gerede über Selbstaufopferung kommen, was nur ein Rest des barbarischen Brauchs der Selbstverstümmelung ist. Tatsächlich tritt der Individualismus ohne jede Forderung an den Menschen heran.“ (33) Und über die notorische Leidensbereitschaft der Menschen schreibt er gleichermaßen verwundert wie mit klarem Blick für ihre fatale polit-ökonomische Bedingtheit: „(Es) geht von der schrecklichen Wahrheit, dass der Mensch sich durch Leiden verwirklichen kann, eine wundersame Faszination auf die Welt aus. Sonntagsredner und Kleingeister wettern oft genug von Kanzeln und Tribünen herab über die Genusssucht der Welt und lamentieren dagegen. Aber wie selten ist es in der Weltgeschichte vorgekommen, dass man Freude und Schönheit zum Ideal wählte. Weit öfter hat die Anbetung des Leidens vorgeherrscht [...] Das Leiden ist nicht die letzte Stufe der Vollendung. Es ist nur ein vorläufiger Protest. Es hängt unmittelbar zusammen mit schlechten, ungesunden und ungerechten Lebensverhältnissen.“ (34)
Der sich gegen derartige Zumutungen, die das Leben unterm Kapitalverhältnis so unerträglich machen, mit den Waffen eines Dandys und Gentlemans wehrte, ist der Schriftsteller Oscar Wilde, dessen 1891 publizierter und 1904 auf Deutsch in einer Übersetzung von Gustav Landauer erschienener Essay „The soul of man under socialism“ bereits Karl Kraus als „das Tiefste, Adeligste und Schönste, das der vom Philistersinn gemordete Genius geschaffen, mit ihrer unerhörten Fülle der Leben und Kunst umspannenden Betrachtung als das Evangelium modernen Denkens“ (35) erschien. Obwohl Wildes Essay durchaus Züge eines Manifests trägt, ist es doch kein solches, sondern eine Philosophie im besten Sinne: eine Lehre von den Bedingungen des Glücks, von kritischem Geist durchherrscht und mit Charme, Witz und Eloquenz vorgetragen. Es mutet zunächst merkwürdig an, dass Wildes Aufsatz außer ein paar Bemerkungen hier und da so gar keine Rezeption erfahren hat und dort, wo er wahrgenommen wird, auch heute noch bestenfalls Verlegenheit hervorruft (36): weder den Bürgerlichen noch den Sozialisten bzw. Kommunisten mochte es einleuchten, dass ausgerechnet der Meister der Selbststilisierung und Décadent Wilde zum Sozialismus etwas von Belang zu erzählen habe. Man mag soviel Ignoranz (37) bedauern – uns versetzt sie jedenfalls in die komfortable Situation, sich direkt und ohne Umschweife mit Wildes Essay beschäftigen zu können, ohne dabei den unappetitlichen Schutthaufen abtragen zu müssen, der sich üblicherweise um ein Werk aufgetürmt hat und den man dann euphemistisch Rezeptionsgeschichte nennt. Erklärte Absicht ist es, mit diesem Text Oscar Wildes Schaffen, nicht nur dem genannten Aufsatz, um den es im folgenden hauptsächlich gehen wird, unter materialistischen Kritikern endlich die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihm längst gebührt: keine Ideologiekritik, die diesen Namen auch wirklich verdient, die sich nicht Karl Marx, Theodor W. Adorno und Oscar Wilde zueignet.
Wobei es auf den zweiten Blick so merkwürdig gar nicht ist, dass die sozialistische Bewegung Wilde entweder belächelte oder gegen ihn, wie die abscheulichen Stichworte lauten, den Vorwurf des Ästhetizismus, der Dekadenz, des Zynismus erhob, ihm unterstellte, er wolle im Grunde nur die eigene Lebensform als Dandy, Bohemien und Künstler auf die ganze Gesellschaft übertragen – was selbst dann, wenn es wahr wäre, keinen Vorwurf begründen könnte. Die Rancune, die aus dieser Abqualifizierung spricht, hat freilich einen objektiven Anhaltspunkt: denn gerade der Schriftsteller, Ästhet und Dandy Oscar Wilde war den Sozialisten aller Couleurs nicht nur augenscheinlich an Stil, Geschmack und Empfindungsfähigkeit voraus, sondern er blamiert sie in seinem Essay bis auf die Knochen, indem er eine Kritik am Privateigentum formuliert, die einerseits auf den Ökonomiekritiker Marx zurückweist und seine wesentlichen Impulse aufgreift (und das, ohne dass Wilde ihn rezipiert hätte) und andererseits in einer bis dahin nie dagewesenen Radikalität, vergleichbar sonst nur mit der Kritik von Karl Kraus, die an Kunst zu schulende ästhetische Erfahrung als den zentralen Nerv einer jeden Gesellschaftskritik ausweist und darin – man bedenke das Entstehungsjahr 1890! – weit auf die Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Löwenthal vorausweist. Und damit nicht genug, vermag Wilde es auch, nicht nur die sozialistische Bewegung, mit der er doch irgendwie auch sympathisierte, sondern alle idealistisch gesonnenen Sozialreformer und Menschheitsbeglücker, ob bürgerlich oder sozialistisch, als Teil jenes Übels dastehen zu lassen, zu dessen Bekämpfung sie angetreten sind.
Während fast alle Welt, die Sozialisten und Kommunisten, die Gutmenschen, die Bürger, wenn sie schlecht aufgelegt sind, weil eine Krise sie erwischt hat, der Papst und heute allen voran die Islamisten den Kapitalismus dafür anklagen, dass er Solidarität, Gemeinsinn, Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit systematisch zerstöre und dafür eine Herrschaft schranken- und mitleidslosen Egoismus’, scham- und zügelloser Individualität, kalter und unbarmherziger Raffgier errichte, beginnt Wilde seinen Essay über den Sozialismus folgendermaßen: „Der größte Vorteil, den die Einführung des Sozialismus mit sich brächte, wäre zweifellos die Tatsache, dass der Sozialismus uns vom unwürdigen Zwang, für andere zu leben, befreien würde, ein Zwang, der unter den gegenwärtigen Bedingungen auf fast allen so schwer lastet. Es gibt in der Tat kaum jemanden, der sich ihm entziehen könnte [...] Die Menschen ruinieren ihr Leben durch einen ungesunden und übertriebenen Altruismus – sie werden geradezu dazu gezwungen, es auf diese Art zu ruinieren. Sie sehen sich umgeben von schrecklicher Armut, schrecklicher Hässlichkeit, schrecklichem Hunger. All dies macht sie unweigerlich betroffen. Die Gefühle des Menschen regen sich weitaus rascher als sein Verstand [...] Deshalb macht man sich mit bewundernswerten, wenngleich fehlgeleiteten Absichten sehr ehrgeizig und sehr naiv daran, die Missstände ringsum zu beseitigen. Aber die Heilmittel bekämpfen die Krankheit nicht. Sie verlängern sie nur noch. Im Grunde sind sie sogar selbst ein Teil der Krankheit.“ (38)
Die Kategorien Individualismus und Altruismus, die Wilde einander konfrontiert und deren Diskussion seinen Essay wie ein roter Faden durchzieht, bezeichnen keine raum- und zeitenthobenen, abstrakten und konstituierenden Prinzipien, sondern eine gesellschaftliche Konstellation. Vermöge des Begriff des „Altruismus“ gelingt es Wilde, unmittelbar zugleich sowohl die Selbstideologisierung der kapitalistischen Vergesellschaftung in Gestalt abstrakt-idealistischer Prinzipien zu treffen als auch den Versuch, diesen Idealismus sich zum Zweck der Sozialreform als Gesinnung praktisch zuzueignen und zu verwirklichen. Es ist eine grundlegende Existenzbedingung der kapitalistischen Vergesellschaftung, dass ihre Exponenten gleichwelcher Klassenzugehörigkeit den zutiefst profanen und prosaischen Charakter dieser Vergesellschaftung mystifizieren und idealisieren müssen. Der banale Vorgang der Verwertung von Kapital muss, um reibungslos funktionieren zu können, als sein Gegenteil, als höheres kulturelles Ideal, als selbstloser Dienst am Menschen erscheinen. – Wobei diese Idealisierung ursprünglich keine vom Subjekt willkürlich erfundene und zur Realität „hinzutretende“ Bestimmung darstellt, sondern eine Idealisierung, die der kapitalistischen Realität selbst objektiv entspringt und sich dem Subjekt als „objektive Gedankenform“ spontan aufprägt: sie selbst erscheint auf ihrer Oberfläche als harmonisch gefügte, in sich stabile Gemeinschaft freier und gleicher Tauschsubjekte, als ein „Eden“ der angeblich angeborenen und vom Staatsverband bloß garantierten „Menschenrechte“ (39), ein Schein, in der der unhintergehbare, in Krisen sich entladende Zwangs- und Herrschaftscharakter dieser Vergesellschaftung den Individuen nicht unmittelbar evident wird. (40) (41)
Der historische Sozialismus in all seinen verschiedenen Richtungen, ob sozialistisch, sozialdemokratisch oder parteikommunistisch, war, systematisch und historisch betrachtet, nichts weiter als der untaugliche Versuch, den notwendig verkehrten ideellen Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft wiederum „verwirklichen“ zu wollen – was bereits Marx als die „Albernheit der Sozialisten“ bezeichnete, „(namentlich der französischen, die den Sozialismus als Realisation der von der französischen Revolution ausgesprochenen Ideen der bürgerlichen Revolution nachweisen wollen), die demonstrieren, dass der Austausch, der Tauschwert etc. ursprünglich (in der Zeit) oder ihrem Begriff nach (in ihrer adäquaten Form) ein System der Freiheit und Gleichheit aller sind, aber verfälscht worden sind durch das Geld, Kapital etc.“ (42) Eben darin war der historische Sozialismus in seiner erdrückenden Mehrheit de facto nie ein veritabler Antagonist der Bürgerwelt, sondern der von ihr ungeliebte Erbe ihres linken Flügels, nämlich der Jakobiner und Enragés mit ihrem notorischen Staats- und Polit-Idealismus. Den Gegensatz von Ökonomie und Politik, in dem die kapitalistische Vergesellschaftung sich notwendig bewegen muss und der im einzelnen Subjekt als Gegensatz von bourgeois und citoyen aufscheint (43), haben sie, wie ihre Vorgänger in der Französischen Revolution, konsequent als antagonistischen Widerspruch missdeutet; und deshalb galt ihnen die „Politik“, die Sphäre des Staates nicht als das, was sie allein sein kann: als ein den ökonomischen Zwangsverhältnissen komplementäres, diese verdoppelndes Verhältnis, sondern in Gegenteil als Verkörperung des allgemein-menschlicher Tugenden wie Gemeinsinn, Selbstlosigkeit, Altruismus, Sittlichkeit und Moral – kurz: als ein „an sich“ bereits vorhandenes sozialistisches Ideal, das aber noch einer produktiven Basis bedarf, damit es auch tatsächlich „für sich“ verwirklicht ist; und diese Basis ist der sozialistische Volksstaat, in dem die produktive Klasse der Arbeiter endlich, wie es in der schlimmen 3. Strophe der „Internationale“ heißt, die unproduktiven bürgerlichen „Müßiggänger beiseite schiebt“ und die Demokratie, d.h. den „Staat des ganzen Volkes“ verwirklicht.
Dass ein Sozialismus, der sich aus altruistischen Motiven speist und sich auf altruistische Tugenden beruft, den von der bürgerlichen Gesellschaft ausgehenden objektiven „Zwang, für andere zu leben“, in noch schlimmerer, d.h. unmittelbarer Form reproduzieren muss, stand Wilde klar vor Augen, ebenso, dass dies einen veritablen Rückschritt bedeutet: „Aber ich muss gestehen, dass hinter vielen sozialistischen Ansichten, denen ich begegnet bin, Züge von autoritärer Macht, wenn nicht gar von unmittelbarem Zwang hervorscheinen [...] Wenn der Sozialismus autoritär auftritt, wenn die Regierungen ihre heutige politische Macht gegen ökonomische Macht eintauschen, kurzum wenn es zur industriellen Tyrannei kommt, dann hätte sich die Lage des Menschen zum Schlechteren gewandelt.“ (44) Und weiter: „Während das gegenwärtige System immerhin einer sehr beträchtlichen Zahl von Leuten ein Leben mit einem gewissen Maß an Freiheit und Entfaltung und Glück ermöglicht, würde in einem industriellen Kasernensystem oder einer ökonomischen Tyrannei niemand in den Genuss solcher Freiheiten gelangen. Es ist zu bedauern, dass ein Teil unserer Gesellschaft praktisch ein Sklavendasein fristet, aber das Problem dadurch lösen zu wollen, dass man die ganze Gemeinschaft versklavt, wäre kindisch.“ (45) Das von Linken auch heute noch gerne proklamierte „Recht auf Arbeit“ durchschaute Wilde als allgemeinen Arbeitszwang im Staatsauftrag, und darüber ließ er mit sich erst gar nicht reden: „Autorität und Zwang stehen natürlich ganz außer Frage [...] Jeder Mensch muss seine Arbeit frei wählen können. Ihm darf keinerlei Zwang auferlegt werden. Geschieht dies doch, ist seine Arbeit weder für ihn noch an sich, noch für die anderen von Nutzen. Und es sei hinzugefügt, dass ich unter Arbeit jedwede Art von Tätigkeit verstehe.“ (46) Dass der Sozialismus bis heute beansprucht, die „wahre Demokratie“ zu verwirklichen, macht die Sache gerade nicht besser, sondern noch schlimmer; Horkheimers und Adornos demokratiekritische Einsicht in die „Einheit von Kollektivität und Herrschaft“: „Was allen durch die Wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwältigung Einzelner durch Viele: stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft zugleich die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv“ (47), war bereits für Wilde selbstverständlich: „Sämtliche Regierungsformen sind als unzulänglich zu erachten. [...] Einst wurden große Hoffnungen in die Demokratie gesetzt; aber die Demokratie ist nichts weiter als die Herrschaft des Knüppels über das Volk durch das Volk für das Volk.“ (48) bzw.: „Es gibt drei Arten von Despoten: den Despoten, der den Leib knechtet, den Despoten, der die Seele knechtet und den Despoten, der Leib und Seele zugleich knechtet. Der erste heißt Fürst. Der zweite heißt Papst. Der dritte heißt das Volk.“ (49) „Wer das Volk führen will, ist gezwungen, sich dem Pöbel anzuschließen“ (50), wusste Wilde nur zu genau, während die Sozialisten aller Couleurs es bewusstlos praktizierten, wenn sie die zur „antikapitalistischen Sehnsucht“ geadelte antisemitische Mordlust des Pöbels bedienten.
Als rückschrittlich zu kritisieren sind aber nicht nur die autoritär-kollektivistischen sozialistischen Regimes, die Wilde noch nicht kannte, aber vorausahnte, sondern bereits die in der Gegenwart agierenden Bewegungen und die in ihnen zum Ausdruck kommende Haltung, da sie schon für sich genommen den ohnehin existierenden Zumutungen des gegenwärtigen kapitalistischen Alltags noch eine weitere Plage hinzufügen: den Sozialcharakter des „wohlmeinenden und aufdringlichen Weltverbesserers“ oder auch des „gemeingefährlichen Philanthropen“ (51): „Man hört immer wieder, der Schulmeister sterbe aus. Ich wünschte beileibe, dem wäre so. Aber der Menschentypus, von dem er nur ein und gewiss noch der harmloseste Vertreter ist, scheint mir wahrhaftig unser Leben zu beherrschen; und wie auf ethischem Gebiet der Philanthrop die größte Plage ist, so ist es im Bereich des Geistes derjenige, der so sehr damit beschäftigt ist, andere zu erziehen, dass er nie Zeit gehabt hat, an seine eigene Erziehung zu denken [...] Wie schlimm aber, Ernest, ist es, neben einem Menschen zu sitzen, der sein Leben lang versucht hat, andere zu erziehen! Welch eine grausame Tortur! Was für eine entsetzliche Borniertheit, die unvermeidlich aus der fatalen Gewohnheit resultiert, anderen seine persönlichen Überzeugungen mitteilen zu wollen! Wie sehr dieser Mensch durch seine geistige Beschränktheit auffällt! Wie sehr er uns und fraglos auch sich selbst anödet mit seinen endlosen Wiederholungen und seiner krankhaften Besserwisserei! Wie sehr er jedes Anzeichen geistigen Wachstums vermissen lässt! Wie verhängnisvoll ist der Kreis, in dem er sich unablässig bewegt.“ (52) Sie werden, liebe Leser, sicherlich schon die Erfahrung solcher Nervensägen gemacht haben oder eine davon in ihrem Bekanntenkreis wissen; und auch wenn dieser Sozialcharakter des Gutmenschen offenbar eine fast zeitlose Erscheinung darstellt und in den verschiedensten Lebensbereichen anzutreffen ist, ist die Wahrscheinlichkeit, ihm in fortschrittlichen sogenannten „politischen Zusammenhängen“ zu begegnen, besonders hoch: werden doch hier traditionell die altruistischen Tugenden – das Mitgefühl, die Solidarität, Selbstlosigkeit etc. – besonders hoch angeschrieben und deshalb sind sie das geeignete Betätigungsfeld für Sozialcharaktere, die sich als Ersatz für ihr eigenes ungelebtes Leben vorzugsweise mit dem Leiden anderer identifizieren. Es sind aber gerade die höchsten Tugenden, die die niedersten Instinkte decken, wie schon Marx wusste: „Bis jetzt hat der Mensch sein Mitgefühl noch kaum ausgeprägt. Er empfindet es bloß mit dem Leiden, und dies ist gewiss nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist edel, aber das Mitgefühl mit dem Leiden ist die am wenigsten edle Form. Es ist mit Egoismus gemischt. Es neigt zum Morbiden [...] Außerdem ist das Mitgefühl seltsam beschränkt [...] Jeder kann für die Leiden eines Freundes Mitgefühl empfinden, aber es erfordert [...] das Wesen eines wahren Individualisten, um auch am Erfolg eines Freundes teilhaben zu können.“ (53) Und da jeder demonstrative Altruismus nicht nur einen kleinlichen Egoismus bemäntelt, sondern auch mit dem Anspruch des Idealisten einhergeht, erzieherisch auf das Objekt seiner Zuwendung einzuwirken, ist er die adäquate Ideologie von Rackets, und auch das ist Wilde nicht entgangen: Barmherzigkeit, so schreibt er, sei die „lächerlich unzulängliche Art der teilweisen Rückerstattung oder ein sentimentales Almosen, gewöhnlich verknüpft mit dem skandalösen Versuch des rührseligen Spenders, auf (das) Privatleben (der Armen) Einfluss zu nehmen.“ (54)
Im totalisierten Zugriff auf die ihr Unterworfenen ist die sozialistische Bewegung bis auf den heutigen Tag ebenfalls als ein Racket des Tugendterrors anzusprechen, betrachtet sie es doch als ihre Aufgabe, das Proletariat oder das gerade angesagte Subjekt seiner „wahren Bestimmung“ zuzuführen und d.h. es im Sinne der von ihm zu realisierenden Ideale zu erziehen – und das bedeutet stets noch: ihm die Untugenden und Laster auszutreiben, die der Vorhut als Male der individualistischen Bürgerwelt erscheinen: etwa Alkoholabusus, Faulenzerei, „zerrüttete“, „unsittliche“ Verhältnisse zwischen den Geschlechtern etc. Und um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen die selbsternannten Vertreter der Klasse die von ihnen verfochtenen Tugenden in eigener Person glaubwürdig verkörpern und deshalb in einer noch rigideren Weise als der gemeine Bürger sich als Subjekte zurichten, d.h. ihre Individualität dem Allgemeinen (dem Kollektiv, der Klasse, dem Frieden etc.) opfern, um totale Identität mit ihm zu erlangen. Wenn Identität letzten Endes den Tod bedeutet, dann hat die Bemühung um sie vorzeitige Erstarrung und prämortale Leblosigkeit zur Folge – von daher die bis in die Gegenwart zu beobachtenden verhockten, verkniffenen und lauernden Mienen aller professionellen Menschheitsbeglücker, ihre rigide Zwangsmoral und durchgängige Humorresistenz, die immergleichen offiziösen Phrasen, die sie dreschen, die tödliche Langeweile, die von ihnen und ihrem penetranten Sendungsbewusstsein ausgeht, und ihr chronisches Beleidigtsein, wenn sie beim Gegenüber auch nur den Hauch eines Zweifels an ihrer aufgetragenen Gutartigkeit zu erspüren glauben. Und zu alldem glauben diese Leute sich auch noch ermächtigt, diese ihre trostlose Existenz zur verbindlichen Richtschnur für alle anderen zu erklären.
Was die Menschheitsbeglücker in Wahrheit bewirken, ist ihr eigener moralischer Selbstgenuss in der angemaßten oder tatsächlichen Herrschaft über andere, aber gerade nicht die praktische Lösung der Dinge, um die es ihnen vorgeblich so selbstlos zu tun ist: „In den Augen des Denkers allerdings liegt der wahre Schaden, den das moralische Mitgefühl anrichtet, darin, dass es unser Wissen begrenzt und so verhindert, dass wir auch nur eines unserer sozialen Probleme lösen.“ (55) Das Selbstopfer fürs Kollektiv erweist sich nicht nur als die wahre Selbstsucht, sondern auch als gegen die Gattung gerichtet: „Denn die Entwicklung der Gattung hängt von der Entwicklung des Individuums ab, und wo die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit als Ideal abgedankt hat, ist das Absinken des intellektuellen Niveaus, wenn nicht gar dessen gänzliches Verschwinden die unmittelbare Folge.“ (56) Und das vorgeblich so praktische und zielorientierte Tun erweist sich als in Wahrheit konfus und unpraktisch: denn es verlässt den Bannkreis des Notwendigen und Zwanghaften nicht, ja, es bestärkt dessen Macht umso mehr, je auftrumpfender und verblendeter es sich in seiner moralischen Selbstgerechtigkeit verhärtet und alle Selbstaufklärung abwehrt. Solange die Gesellschaft den Individuen als fremde äußere Macht entgegentritt, verkehrt sich die gute Intention regelmäßig in ihr Gegenteil und ist menschliches Handeln „nur blindes Tun, abhängig von äußeren Einflüssen und angetrieben von einem dunklen Impuls, von dem es selbst nichts weiß. Es ist seinem Wesen nach unvollkommen, weil es vom Zufall begrenzt wird, und unwissend über seine eigentliche Richtung, befindet es sich zu seinem Ziel stets im Widerspruch [...] Jede unserer Taten speist die große Maschine des Lebens, die unsere Tugenden zu wertlosem Staub zermahlen oder aber unsere Sünden in Bausteine einer neuen Kultur verwandeln kann.“ (57)
Agitatoren hält Wilde, im Gegensatz zu Weltverbesserern, für „absolut notwendig“, handelt es sich doch bei ihnen um Individualisten, „notorische Querulanten, die in eine vollkommen zufriedene soziale Schicht einbrechen und dort die Saat der Unzufriedenheit säen.“ (58) Und Individualismus wiederum stützt sich nicht auf Altruismus und Moral, sondern auf Kritik, auf die Fähigkeit, Vorgefundenes und Versteinertes aufzulösen und in Bewegung zu bringen: „Die Kritik, die keinen Standpunkt als endgültig anerkennt und sich weigert, dem seichten Schibboleth irgendeiner Sekte oder Schule blind zu folgen, bringt jenen heiteren philosophischen Geist hervor, der die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sie nicht weniger liebt, weil er um ihre Unerreichbarkeit weiß.“ (59) Aber Kritik ist nicht nur ein heiter destruktives Tun, sondern auch ein heiter schöpferisches und darin notwendiger Bestandteil des eigentlich künstlerischen Tuns oder gar dessen Voraussetzung: „Denn nur der kritische Geist erfindet neue Formen [...] Dem kritischen Geist verdanken wir jede neu sich entwickelnde Schule, jedes Gestaltungsprinzip, dessen sich die Kunst bereitwillig bedient hat.“ (60) Und indem die Kritik, der „keine Denkweise fremd, keine Gefühlsregung dunkel erscheint“ (61), in schroffem Gegensatz zur Herderschen Lehre vom Volksgeist „auf der Einheit des menschlichen Geistes in allen seinen unterschiedlichen Form insistiert“, könnte sie nach Wilde jenen Kosmopolitismus befördern, den die Anhänger des Freihandels vergeblich herbeizuführen suchen und den die Friedensfreunde erst recht untergraben – und die Art, wie Wilde diese beschreibt, mag als Beleg dafür dienen, dass exakte kritische Phantasie es möglich macht, bereits 1891 die friedensseligen, anti-rassistischen no-globals und mit ihnen die gesamte der Völkerverständigung verpflichtete Europa-Ideologie von heute aufs Korn zu nehmen: „Heutzutage treten andere Gruppierungen auf, die sich auf das Gefühl des Mitleids oder auf die seichten Grundsätze eines abstrakten, unreflektierten Systems berufen. Sie haben ihre Friedensgesellschaften, die den Gefühlsmenschen so sehr am Herzen liegen, und ihre Vorschläge zur Einrichtung eines unbewaffneten internationalen Gerichtshofs werden von denen freudig begrüßt, die nie in der Geschichte gelesen haben [...] ein internationales Schiedsgericht, dem zum Wohle der Menschheit die Macht genommen ist, seine Entscheidungen auch durchzusetzen, wird wenig ausrichten können. Nur eines ist noch schlimmer als Ungerechtigkeit, nämlich Gerechtigkeit ohne das Schwert in der Hand. Wo Recht nicht auch Macht bedeutet, verkehrt es sich in ein Übel.“ (62)
Der historische Sozialismus war in seiner Affirmation der allgemein-menschlichen staatsbürgerlichen „Tugenden“ und, dazu komplementär, der produktiven Arbeit idealistisch, nicht kritisch. Und in seiner moralisierenden Behandlung des kapitalistisch konstituierten Klassengegensatzes kommt dies deutlich zum Ausdruck: einerseits in der Affirmation der Arbeiterklasse als des zur tugendhaften demokratischen Herrschaft berufenen Kollektivs und andererseits in der moralischen Verurteilung des bürgerlichen Individualismus und all seiner Erscheinungsformen: Egoismus, Liberalität, Müßiggang, Kontemplation, Ästhetizismus und Dekadenz. Wildes Betrachtung des kapitalistischen Klassenverhältnisses hingegen ist nicht nur frei von jeder Anklage, von moralischem Gezeter und identifikationsheischender Parteinahme: die Zurückweisung der „seichten, gefühlsseligen Tugenden“ (63) ist die erklärte Grundlage aller Betrachtung. In einer Passage des Sozialismus-Essays, in der er eine anarchistische Interpretation des Christentums unternimmt, heißt es: „Man beachte, dass Jesus nie sagt, die Armen seien zwangsläufig gut oder die Reichen zwangsläufig schlecht. Das wäre auch durchaus falsch.“ (64) Denn: „Die Reichen, sind, als Klasse gesehen, besser als die Armen, sie sind moralischer, gebildeter und gesitteter.“ (65) Und das ist keine Frage des Charakters, sondern eine der ökonomischen Bedingungen: „Durch die Existenz des Privateigentums sind heute viele Menschen imstande, sich einen gewissen, wenn auch sehr beschränkten Grad an Individualität zu bewahren. Entweder unterliegen sie nicht dem Zwang, für ihren Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, oder sie können einer Tätigkeit nachgehen, die ihrem Wesen entspricht und ihnen Freude macht. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Gelehrten und die Kultivierten – mit einem Wort, die wahren Menschen, die Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die ganze Menschheit ihre teilweise Verwirklichung erfährt.“ (66) Auch unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen hat die Entwicklung von Individualität zwar Privilegiencharakter – aber da Klassenzugehörigkeit „an sich“ kein vorgegebenes Schicksal mehr und die Entwicklung von Individualität „an sich“ für alle erreichbar ist, hat dieselbe eine gesellschaftliche Qualität, die über ihren partikularen Charakter hinausweist und ein Versprechen beinhaltet.
Aber an der bürgerlichen Individualität ist nicht nur zu kritisieren, dass sie de facto nicht allen zugute kommt, sondern sie selbst als Form, d.h. ihr eigener objektiver Zwangscharakter. Heißt es bei Marx: „Die bürgerliche Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihr eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz, die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz“ (67), so nimmt Wilde, ohne auf Marx zu rekurrieren, diese Bestimmungen auf: „Der Besitz von Privateigentum ist häufig ausgesprochen demoralisierend, was einer der Gründe ist, warum der Sozialismus ihn abschaffen will. Tatsächlich ist Eigentum eine schwere Bürde [...] Eigentum verpflichtet nicht einfach, sondern es bürdet einem gleich so viele Pflichten auf, dass jeder Besitz nichts als Ärger einbringt. Ständig sieht man sich Forderungen ausgesetzt, muss sich laufend um seine Geschäfte kümmern und hat nur Scherereien. Wäre Eigentum nur mit Annehmlichkeiten verbunden, könnten wir damit leben, aber seine Verpflichtungen machen es unerträglich. Im Interesse der Reichen müssen wir es abschaffen.“ (68) Die Verschwendung des Kapitalisten besitzt nie „den boda fide Charakter der Verschwendung des flotten Feudalherrn, in ihrem Hintergrund (lauern) vielmehr stets schmutzigster Geiz und ängstlichste Berechnung“ (69), heißt es bei Marx. Als „Produktion um der Produktion willen“ setzt das Kapital den Privateigner nicht frei zum Genuss des universellen Reichtums, sondern unter den Zwang, sich als Funktionär der Verwertung zu betätigen; und daher ist die bürgerliche Individualität zugleich ihr eigener größter Feind: „Das Privateigentum hat den echten Individualismus zerstört und einen falschen Individualismus entstehen lassen. Es hat (einen Teil) der Gemeinschaft eines individuellen Seins beraubt, indem es ihm [...] eine schwere Last aufbürdete [...] Die Anstrengungen, ohne die kein Reichtum zu erwerben ist, sind ebenfalls überaus demoralisierend [...] Der Mensch schuftet sich zu Tode, um seinen Besitz zu vergrößern, was angesichts der ungeheueren Vorteile, die das Eigentum gewährt, auch kaum verwundern kann. Bedauerlich aber ist, dass die Gesellschaft so eingerichtet ist, dass der Mensch in eine Schablone gezwungen wird, in der er seine wunderbaren, faszinierenden und wertvollsten Anlagen nicht frei entfalten kann, ja, in der ihm letztendlich die wahre Freude am Leben verwehrt bleibt. Zudem führt er unter den gegenwärtigen Bedingungen eine höchst unsichere Existenz. Ein steinreicher Kaufmann kann in jedem Augenblick seines Lebens [...] der Willkür von Dingen ausgeliefert sein, die sich seiner Kontrolle entziehen. Eine unerwartet heftige Windbö, ein plötzlicher Wetterumschwung oder sonst ein alltägliches Ereignis kann sein Schiff sinken lassen, seine Spekulationen gänzlich zunichte machen, und schon steht er als armer Mann ohne jede gesellschaftliche Stellung da.“ (70)
Der „Willkür von Dingen“, die sich der Kontrolle entziehen, ist die abhängige Klasse in noch anderem Maße ausgeliefert: „Andererseits gibt es ebenso viele Menschen, die kein Privateigentum besitzen, die ständig am Rande des Verhungerns leben und dadurch gezwungen sind, die Arbeit von Lasttieren zu verrichten, Arbeit, die ihnen ganz und gar nicht zusagt und zu der allein die unerbittliche, vernunftwidrige, erniedrigende Tyrannei der Not sie treibt. Das sind die Armen und in deren Leben gibt es keine Zierde des Benehmens, keine anmutige Ausdrucksweise, keine Bildung oder Kultur, keine verfeinerten Genüsse und keine Lebensfreude. Aus ihrer kollektiven Kraft schöpft die Menschheit erheblichen materiellen Reichtum. Aber der Gewinn ist eben nur materieller Art, und der Arme als solcher ist völlig bedeutungslos. Er ist nur das winzige Atom einer Kraft, die ihn nicht nur missachtet, sondern ihn zermalmt, ja, die ihn sogar lieber zermalmt sieht, weil er dann weit gefügiger ist.“ (71) Bei Wilde also keine moralische Erhöhung der arbeitenden Klasse, keine Verherrlichung einer proletarischen Subkultur, wie es dann später Mode wurde, sondern die nüchterne Diagnose, dass demoralisierende Bedingungen demoralisierte Menschen hervorbringen und deswegen abgeschafft gehören: „Es gibt nur eine gesellschaftliche Klasse, die mehr ans Geld denkt als die Reichen, nämlich die Armen. Die Armen können an gar nichts anderes denken. Das ist das ärgste Elend des Armseins.“ (72) Als einzige „Tugend“ der subalternen Klassen vermag Wilde, in ironisierender Umwidmung des Begriffs, deren Aufsässigkeit anzuerkennen: „die besten unter den Armen sind nie dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, eigensinnig und aufsässig. Und zwar ganz zurecht [...] Allein durch Auflehnung wurde Fortschritt möglich, durch Auflehnung und Aufsässigkeit.“ (73) Hingegen: „Was die tugendhaften Armen angeht, so kann man sie selbstverständlich bedauern, aber keinesfalls bewundern. Sie haben mit dem Feind ihren Frieden gemacht und ihr Geburtsrecht für eine dünne Suppe verkauft. Außerdem müssen sie himmelschreiend dumm sein.“ (74) Die Untugend der Anpassung bewirkt, dass die fällige Revolution vorerst ausbleibt und stattdessen auch die Herrschaft sich sozialstaatlich anpasst: „Wird sie mit einer gewissen Nachsicht ausgeübt und wirbt sie mit Belohnungen und Preisen, so ist ihre Wirkung furchtbar demoralisierend. In dem Fall sind die Menschen sich des schrecklichen Drucks, der auf ihnen lastet, weniger bewusst und gehen mit einer Art dumpfen Wohlbehagens durchs Leben [...] Die Autorität, die den Menschen zur Anpassung verleitet, bewirkt unter uns eine ausgesprochen krude Form übersättigten Barbarentums.“ (75)
Vor allem aber entbehrt Wildes Gesellschaftskritik jeglichen Kultus’ der Arbeit – selbst der kreativen! – den Wilde wie mit einer verächtlichen Gebärde abfertigt: „Und da wir einmal beim Begriff der Arbeit sind, will ich nicht unterlassen hinzuzufügen, dass heutzutage sehr viel dummes Zeug über die Würde der körperlichen Arbeit gesagt und geschrieben wird. Dabei besitzt körperliche Arbeit nichts, was notwendigerweise Würde verleiht, und ist zumindest absolut entwürdigend. Eine Tätigkeit, die ohne Freude ausgeübt wird, ist für einen Menschen geistig und moralisch erniedrigend, und viele Formen der Arbeit sind ganz und gar freudlose Verrichtungen und sollten als solche gesehen werden [...] Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als im Dreck zu wühlen. Alle Arbeiten dieser Art sollten von Maschinen verrichtet werden.“ (76) Wilde setzt also ganz auf die Entwicklung der technischen Produktivkräfte, die unter anderen gesellschaftlichen Umständen endlich dazu dienen können, die gesellschaftlich notwendige Arbeit in einen den Menschen nicht mehr fremden, sondern von ihnen kontrollierten sachlichen Prozess zu verwandeln und sie alle für „Kultur und Kontemplation“ freizusetzen: „Und ich zweifle nicht, dass es dereinst so sein wird. Bislang ist der Mensch bis zu einem gewissen Grad immer der Sklave der Maschine gewesen, und es hat geradezu etwas Tragisches, dass mit der Erfindung jeder Maschine, die ihm die Arbeit abnahm, zugleich auch die Not des Menschen wuchs. Der Grund dafür liegt natürlich in unserem System des Eigentums und des privaten Wettbewerbs [...] Alle mechanische, eintönige und stumpfsinnige Arbeit, alle Verrichtungen, die mit widerlichen Dingen zu tun haben und unter unerfreulichen Bedingungen stattfinden, muss von Maschinen geleistet werden [...] Es ist nun einmal so, dass die Zivilisation nicht ohne Sklaven auskommt. Die Griechen hatten darin ganz recht. Ohne Sklaven, die alle widerwärtige, unerträgliche und monotone Arbeit ausführen, werden Kultur und Kontemplation nahezu unmöglich. Die Versklavung von Menschen ist ungerecht, unsicher und demoralisierend. Vom mechanischen Sklaventum, von der Sklaverei der Maschine, hängt die Zukunft der Welt ab.“ (77)
Die Misere des Sozialismus von seinen Anfängen bis heute war und ist stets zuverlässig abzulesen an seiner Verachtung aller autonomen, zweckfreien, in sich begründeten und eben darin gesellschaftlich bestimmten Kunst, weil sie die – prekäre und unvollständige – Emanzipation des Individuums von Blut, Scholle, Rasse, Kollektiv vorausträumt und ihr Ausdruck verleiht. Die Kunst, die sozialistische Bewegungen oder Regimes dann hervorbringen und fördern, eine Kunst, die „Partei ergreifen“, „Stellung beziehen“ und „gesellschaftliche Verantwortung“ dokumentieren soll, zerstört jedoch sich selbst und ihre Voraussetzungen. (78) Kunst, die sich freiwillig heteronomen Zwecken dienstbar macht, entkunstet sich selbst und antizipiert darin jene freiwillige Entindividuierung, auf die die modernen totalitären Regimes bauen; solche Kunst regrediert auf das, woraus sie einmal entsprang: auf den stereotypen Kult, der als Kult der Arbeit, des Volks, der Indigenen, kurz: des Kollektivs mit modernen technischen Mitteln inszeniert wird und in der Verherrlichung des individuellen Opfers fürs gerade angesagte Kollektiv seinen widerlichen Gipfelpunkt findet. Die unvermeidlichen Konsequenzen sind einerseits die Regression der ästhetischen Formensprache auf Tickets, Clichés, auf Schwulst und Gesinnungskitsch; und, damit korrespondierend, andererseits die Zerstörung der unabdingbar individuellen ästhetischen Erfahrung und jener Lebenshaltungen, die gleichermaßen die Voraussetzung wie das Resultat von Kunsterfahrung sind: Privatheit, Muße und Kontemplation.
Mit Wilde ist in dieser Angelegenheit nicht zu rechten: für ihn ist „engagierte Kunst“ ein Ausdruck jenes altruistischen „Zwangs, für andere zu leben“ (79) und deshalb steht für ihn außer Frage, „dass wo immer eine Gesellschaft oder ein starker Teil der Gesellschaft oder irgendeine Regierung versucht, dem Künstler Vorschriften zu machen, die Kunst entweder ganz verschwindet oder sich in Stereotypen erschöpft oder zu einer belanglosen, billigen Form des Kunsthandwerks verkommt.“ (80) Und umgekehrt: „Sobald der Künstler auf die Bedürfnisse anderer achtet und ihnen nachzukommen versucht, hört er auf, Künstler zu sein, und wird ein erfolgloser oder gefragter Handwerker, ein anständiger oder gerissener Händler. Er hat keinen Anspruch mehr, als Künstler betrachtet zu werden.“ (81) Alle Autorität, die sich anmaßt, über die Kunst und den Künstler zu befinden – sei es der Staat, die Religion, das „monströse und geistlose Wesen“ (82) der öffentlichen Meinung oder die Presse, ist lächerlich und rundweg abzulehnen: „Für den Künstler gibt es nur eine geeignete Regierungsform, und zwar keine Regierung.“ (83) Und nicht nur für den Künstler, denn „was in der Kunst wahr ist, ist auch für das Leben wahr.“ (84)
Zweifellos schreibt Wilde hier aus eigener Erfahrung und ist dabei merkbar in seinem Element – zum Glück, denn eine Verleugnung seiner selbst und seiner Art wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Und doch ist sein Schreiben über Kunst keine platte und schale Selbstrechtfertigung, sondern verströmt einfach jene Großzügigkeit, die aller selbstreflexiven Haltung eignet, weil sie das eigene Tun als allgemein-menschliches erkennt und sich nicht in sich verkapseln muss. Die Kunst und die Erfahrung, die sie ermöglicht, gibt dafür das Modell ab. Alle Individualität, um deren Ermöglichung es doch einem Kommunismus, der den Namen verdiente, gehen muss, bildet und schult sich an ästhetischer Erfahrung; die „Phantasie“ oder „Seele“ – wie Wilde im Vorgriff auf die Psychoanalyse schreibt – die der Erfahrende im Spiegel der Kunst mobilisiert, „kann uns helfen, dem Zeitalter zu entkommen, in das wir hineingeboren sind, und in andere Zeitalter hineinzutauchen [...] Sie kann uns lehren, aus unserer eigenen Erfahrung auszubrechen und die Erfahrungen anderer zu machen, die größer sind als wir.“ (85) Und möglich ist das, weil Kunst selber ein gestaltetes Produkt der Phantasie ist, die Wilde „als die verdichtete Erfahrung der Menschheit“ (86) bestimmt. Der Gebrauchswert von Kunst besteht also gerade in ihrer Zweckfreiheit, also darin, dass sie von sich aus das instrumentelle Verhältnis des Subjekts zur Dingwelt, das im Begriff des Gebrauchswerts doch notwendig gegeben ist, geradezu ins Gegenteil verkehrt – dadurch, dass sie als ein der Dingwelt angehöriges, aber ihr zugleich entsprungenes Artefakt das Subjekt in Anschauung bzw. Anhörung ihrer eigenen Rätselgestalt zur Selbstreflexion und zur Besinnung auf seine eigenen Möglichkeiten provoziert. Das heißt: nicht das Subjekt erkennt Kunst, sondern die Kunst erkennt das Subjekt und ihr ästhetischer Rang bemisst sich daran, je nachdrücklicher es ihr gelingt, als ein solch Sperriges, Nichtidentisches zu fungieren: „Wer sich einem Kunstwerk mit der Absicht nähert, sich des Werks und des Künstlers in irgendeiner Weise zu bemächtigen, nähert sich mit einer Haltung, die es unmöglich macht, dass er überhaupt einen künstlerischen Eindruck empfängt. Das Kunstwerk soll den Betrachter beherrschen: Der Betrachter soll nicht das Kunstwerk beherrschen. Der Betrachter soll empfänglich sein. Er soll die Geige sein, die der Musiker spielt. Und je mehr er seine eigenen absurden Vorstellungen darüber, was die Kunst sein soll oder auch nicht sein soll, unterdrücken kann, desto eher wird es ihm gelingen, das betreffende Kunstwerk zu verstehen.“ (87) Das erfahrende Subjekt „ist lediglich zur Betrachtung eines Kunstwerks eingeladen, um während des Betrachtens, sofern es sich um ein echtes Kunstwerk handelt, alle verblendete Voreingenommenheit zu vergessen – und zwar sowohl die aus Ignoranz als auch aus Wissen geborene Voreingenommenheit.“ (88)
Es ist schon sehr bemerkenswert, wie unbedingt und absolut Wilde in seiner ästhetischen Theorie, die hier nur umrisshaft dargestellt werden kann, die Sache der Kunst verficht und dabei an keiner Stelle der doch naheliegenden Versuchung der Kunstreligion, wie sie im 19. Jahrhundert en vogue war , oder auch nur dem Begriffszauber durch Ästhetisierung der Philosophie wie dann bei Heidegger und im Poststrukturalismus erliegt. Konsequent hebt er stattdessen an der Kunst ihr individualistisches und kritisches Moment hervor: „Kunst ist Individualismus und der Individualismus ist eine verstörende und zersetzende Kraft. Gerade darin liegt sein unermesslicher Wert. Denn was er aufzubrechen versucht, ist die Einförmigkeit des Typischen, die Sklaverei der Konvention, die Tyrannei der Gewohnheit und die Erniedrigung des Menschen auf das Niveau einer Maschine.“ (89) Als zweckfreies, unpraktisches, nicht auf Handlung und Intentionen gerichtetes Phänomen steht Kunst und das von ihr geforderte individuelle Verhalten polemisch gegen das „Reich der Notwendigkeit“: „Denn das Ziel der Kunst besteht in der Empfindung um der Empfindung willen, während die Empfindung um der Tat willen das Ziel des Lebens und eben auch jener praktischen Organisation des Lebens ist, die wir Gesellschaft nennen.“ (90) Und darin gibt sie einen Vorschein tatsächlicher Freiheit, als Befreiung vom Diktat des Praktikablen und Zweckgerichteten, das durch die Automatisierung der gesellschaftlichen Produktion endlich für alle erreichbar wäre: „Ja, Ernest: das kontemplative Leben, jenes Leben, dessen Ziel nicht im Tun, sondern im Sein liegt, und auch nicht im bloßen Sein, sondern im Werden – das ist es, was uns der kritische Geist geben kann [...] Auch wir könnten so leben und uns als Zuschauer den wechselvollen Empfindungen hingeben, die das Treiben der Menschen und der Natur ins uns wecken. Wir könnten uns vergeistigen, indem wir allem Handeln entsagen und unser Wesen durch die Zurückweisung der Tatkraft vervollkommnen. Gelassen, selbstzufrieden und frei von jedem Drang betrachtet der ästhetische Kritiker das Leben [...] Ist ein solches Leben amoralisch? Gewiss; alle Künste sind amoralisch, ausgenommen die niederen Formen der sinnlichen oder belehrenden Kunst, die uns zu guten oder schlechten Taten anstiften wollen [...] Ist ein solches Leben unpraktisch? Pah! Es ist gar nicht so leicht, unpraktisch zu sein, wie der kleingeistige Philister sich das vorstellt [...] Wir brauchen vor allem unpraktische Leute, die über den Augenblick hinaussehen und über den Tag hinausdenken.“ (91) In diesem umfassenden Begriff von Theorie als einer Lebensform, nicht bloß als mentalem Vorgang, wird besonders deutlich, wie Wilde den geistigen Widerschein der ersten Bürgerwelt, die griechische Philosophie, vor dem Hintergrund der entfalteten Bürgerwelt des 19. Jahrhunderts in durchaus materialistischer Absicht wiederaufnimmt und einem der Individualität verpflichteten Sozialismus anverwandelt. Deshalb heißt es auch am Ende des Sozialismus-Essays: der neue Individualismus „wird die Erfüllung dessen sein, wonach die Griechen strebten, was sie aber außer im Geist nicht verwirklichen konnten, weil sie Sklaven hielten und ihnen zu essen gaben [...] Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.“ (92)
Dieser neue Individualismus, das kontemplative, der Kunstbetrachtung gewidmete, individualistische Leben, das nach Wilde die Künstlerexistenz ausmacht und das im Sozialismus verallgemeinert werden soll, hat mit Egoismus, anders als der bürgerliche Individualismus, nichts mehr gemein: an diesem sind gerade die scheinbar altruistischen, weltzugewandten Haltungen Ausdruck einer abgeschirmten Selbstbezüglichkeit, während gerade die scheinbar weltabgewandte, in sich ruhende Kontemplation einen neuen und endlich unbefangenen Weltbezug, einen „Geist vorurteilsfreier Neugier“ (93) ausprägt. Wenn Wilde die „Selbstlosigkeit“ als hervorragende Eigenschaft eines anderen Individualismus rühmt, dann meint dies natürlich nicht das Selbstopfer des Einzelnen, sondern: die Befreiung des Individuums vom Zwang, sich als „Eigentümer seiner selbst“ denken und verhalten zu müssen, die Abschaffung der Notwendigkeit, seine Erfahrungen wie Privat-Eigentum zu behüten, die Verunmöglichung der fatalen Neigung, sich als vermeintlich mit sich identisches Wesen in seiner vermeintlichen Substantialität zu verhärten – bzw. positiv: die Möglichkeit, dass das Individuum sich bewusst als gesellschaftliches, weltzugewandtes Wesen, als „Schauplatz“ (Adorno) aller vielfältigen Beziehungen begreifen kann, die es eingehen kann oder auch nicht. Oder, mit anderen Worten: Selbstlosigkeit meint die „Gabe aller Personen, sich ohne Rest mitzuteilen: als leuchtend vollständige Anwesenheit jedes Einzelnen in dem Verhältnis, das er zu jedem Anderen [...] knüpft“; dass die Individuen „durch keine Zwischenräume fahler Zweideutigkeit getrennt (werden): der Umriss der einen ist die Grenze der anderen.“ (94) Wenn Wilde also schreibt: „Der Individualismus wird ungekünstelt und selbstlos sein“, dann klärt er zugleich darüber auf, wie die „Tyrannei der Autorität“ den Sinn dieser Worte ins Gegenteil verkehrt hat: „Wahrhaft selbstsüchtig ist, wer sein Leben nicht nach eigenen Vorstellungen lebt, sondern andere fragt, wie er leben soll [...] Selbstsucht strebt immer danach, der gesamten Umwelt ein Einheitsmaß aufzuzwingen“, wohingegen: „Selbstlosigkeit bedeutet, andere Leute in Ruhe zu lassen, sich nicht in ihr Leben einzumischen [...] Die Selbstlosigkeit weiß die unendliche Vielfalt als etwas Kostbares zu schätzen, sie akzeptiert sie, lässt sie gewähren und erfreut sich an ihr.“ (95) Wildes Konzeption eines individualistisch geprägten Sozialismus ist darin so bedeutend und gesellt sie der „Kritischen Theorie“ zu, dass in ihr an die Menschen keine höheren Ansprüche gestellt werden, die sie zu erfüllen, kein positives „Wesen“ aufgerichtet, das sie zu beglaubigen, kein Ideal postuliert, das sie zu verwirklichen hätten: „Unter der Herrschaft des Individualismus werden die Menschen vollkommen selbstlos und natürlich sein, sie werden den Sinn der Wörter richtig verstehen und ihn in einem freien und schönen Leben verwirklichen. Denn Egoismus bedeutet, Ansprüche an andere zu stellen, und das wird dem Individualisten völlig fern liegen. Er wird keine Freude darin sehen. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch Mitgefühl entwickeln und es frei und spontan äußern [...] Wenn der Sozialismus das Problem der Armut und die Wissenschaft das Problem der Krankheit gelöst hat, wird der Spielraum für aufgesetzte Rührseligkeit schrumpfen und das Mitgefühl des Menschen wird umfassend, gesund und spontan sein. Der Mensch wird mit Freude das freudige Leben der anderen betrachten.“ (96)
Wildes Denken ist tatsächlich so völlig frei von jeder positiven Wesensmetaphysik und rigider Schulmeisterei, dass er es sich ohne weiteres leisten kann, das Utopieverbot bisweilen zu durchbrechen, ohne peinlich zu werden: „Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn ihr fehlt das Land, das die Menschheit seit jeher ansteuert. Kaum hat sie aber dessen Küste erreicht, hält sie Ausschau, erblickt ein noch verlockenderes Land und setzt erneut die Segel. Der Fortschritt besteht in der Verwirklichung von Utopien.“ (97) Aber Wilde ist kein Utopist im schlechten Sinne, weil er genau weiß, dass Glück unabdingbar individuell ist, nichts, was sich unmittelbar gesellschaftlich herstellen ließe. Herstellen lassen sich nur die Bedingungen der Möglichkeit von Glück und freier Entfaltung, und eben dies ist die Aufgabe des Sozialismus: „Der Sozialismus, Kommunismus, wie immer man die Sache nennen will, wird durch die Umwandlung des Privateigentums in Allgemeinvermögen und dadurch, dass die Kooperation an die Stelle der Konkurrenz tritt, der Gesellschaft den ihr angemessenen Zustand eines gesunden Organismus zurückgeben und für das materielle Wohl eines jeden Mitglieds der Gemeinschaft sorgen. Mithin, er wird dem Leben eine ihm gemäße Grundlage und Umgebung verschaffen.“ (98) Was danach kommen mag, darf man ruhig auch dann und wann vorausträumen; und die Worte, die Wilde dafür findet, gehören neben Adornos Bemerkung, der andere Zustand sei einer, in dem man ohne Angst verschieden kann, zu den klarsten und bewegendsten, die je ein Kritiker und Künstler gefunden hat: „Sie wird wie ein Wunder sein – die wahre Persönlichkeit des Menschen – wenn sie sich vor unseren Augen entfaltet [...] Sie wird keine Zerrissenheit mehr kennen. Sie wird weder streiten noch diskutieren. Sie wird nichts beweisen wollen. Sie wird alles wissen. Doch sie wird sich nicht kleinlich um Wissen bemühen. Sie wird weise sein. Ihr Wert wird sich an keinem materiellen Maßstab messen lassen. Sie wird nichts ihr eigen nennen. Und doch wird sie alles besitzen, und was immer man ihr nimmt, wird ihren Reichtum nicht schmälern. Sie wird sich nicht vor anderen aufspielen und sie drängen, so zu werden wie sie selbst. Sie wird sie lieben, gerade weil sie verschieden sind. Und auch wenn sie sich niemandem aufdrängt, wird sie allen helfen, so wie etwas Schönes uns allein durch sein Dasein hilft. Die Persönlichkeit des Menschen wird ein unvergleichliches Wunder sein.“ (99)
Den Einwand, ein individualistischer Sozialismus laufe der „menschlichen Natur“ zuwider, quittiert Wilde mit der Bemerkung: „Das ist völlig richtig [...] Gerade deshalb ist er es wert, verwirklicht zu werden [...] Von der menschlichen Natur lässt sich nur eins zweifelsfrei sagen, und zwar, dass sie sich unablässig verändert.“ (100) Allen Identitätsaposteln, die nicht vorwärts zur Natur, sondern zu ihr zurück wollen, hat Wilde einen Satz ins Stammbuch geschrieben, der den absoluten Gegenpol zu aller dem bürgerlichen Individuum eingeschriebenen Naturalisierung markiert, der alles im Grunde austauschbare Gerede pro und contra Rasse einfach ignoriert, d.h. den Standpunkt des Kollektivs als solchen negiert und der insofern als der einzige wahre anti-rassistische Satz gelten darf: „Die erste Pflicht im Leben ist, so künstlich wie möglich zu sein. Die zweite Pflicht ist noch unbekannt.“ (101)
Clemens Nachtmann (Bahamas 58 / 2009)
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