„Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält“, schrieben Horkheimer und Adorno 1969 zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung, „verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen.“ (Horkheimer/Adorno 1995: IX) In diesem Satz formuliert sich zweifellos ein Programm, das jede Gegenwart erneut für sich zu interpretieren hat, will sie ihm auf der Höhe der Zeit gerecht werden. Denn das „Heute“ Horkheimers und Adornos gehört längst der Vergangenheit an. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stellt sich die „politische Spaltung“ der Welt „in übergroße Blöcke, die objektiv dazu gedrängt werden, aufeinander zu prallen“ (ebd.), offensichtlich nicht mehr als Konfrontation zwischen Kapitalismus und Realsozialismus, sondern zwischen Okzident und Orient dar. Auch die von Horkheimer und Adorno erwähnten „Konflikte in der Dritten Welt“ und „das erneute Anwachsen des Totalitarismus“ (ebd.) verdichteten sich bereits im Schatten des Zweiten Weltkrieges und der Systemauseinandersetzung zu jener antikolonialistisch-islamischen Erweckungsbewegung, welche die Erde gegenwärtig mit ihrem Suizid- und Tugendterror überzieht.
So richtig es ist, den Islamismus als modern-antimoderne Reaktion auf die Krise des Kapitalverhältnisses zu begreifen, so wenig vermag der alleinige Rekurs auf den prozessierenden Wert, die konkrete Form des islamischen Hasses auf die Zivilisation und die Juden zu erhellen. Unter ausschließlichem Rückgriff auf das Fetischkapitel des Marxschen Kapitals lässt sich nicht bestimmen, was den islamistischen Selbstmordattentäter vom japanischen Kamikaze-Piloten, den muslimischen Tugendterroristen vom puritanischen Sittenwächter à la Oliver Cromwell unterscheidet. Für Horkheimer und Adorno war es jedenfalls selbstverständlich, die nationalsozialistische Transformation des falschen Ganzen ins ganze Böse von Auschwitz im Kontext der abendländischen Geschichte von den antiken Griechen bis in die Gegenwart zu reflektieren. Die Bühne, auf der sie das geschichtsphilosophische Drama der Dialektik der Aufklärung, von Natur und Naturbeherrschung, das heißt: von Trieb, Recht, Opfer und Individuation, nachzeichneten, stand dabei im Westen. Vor dem Hintergrund, dass sich das Hauptquartier der barbarischen Erweckungsbewegung, als deren Prototyp der Nationalsozialismus fungierte, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Richtung Osten verschoben hat, wäre der Blick auf jenes Drama der Zivilisationsgeschichte des Orients zu erweitern, als deren Regisseur seit dem 7. Jahrhundert der Islam agiert. Dabei wird die orientalische Dialektik der Aufklärung ihre Spezifik eben nicht erst in der Konfrontation mit der bürgerlichen Gesellschaft offenbaren, sondern bereits am Christentum, das Horkheimer erst in seinen Spätschriften wieder im großen Maßstab für sich entdeckte.
Die hier vorgeschlagene Aktualisierung des kritischen Programms, der Versuch, eine Dialektik der Aufklärung für den Orient zu schreiben, und diese mit der des Abendlandes in Beziehung zu setzen, kann, da erst am Anfang stehend, im folgenden lediglich anhand ausgewählter Beispiele skizziert werden. Dabei wird u.a. zu zeigen versucht, dass die spätestens seit dem Erscheinen von Edward Saids Orientalism (1979) von Postmodernisten und Postkolonialisten verbreitete Behauptung, der Okzident habe sich stets in Abgrenzung zum Orient als seinem ganz Anderen konstituiert, gegen ihre antiwestliche Intention durchaus wahr ist. Sie wäre zugleich gegen den Verrat der sogenannten undogmatischen Linken am kritischen Denken zu richten: So diskutieren ausgerechnet selbsternannte Antisexisten, von denen einige nicht mehr zwischen Leviathan und Behemoth, zwischen Bikini und Burka, zu unterscheiden wissen, in Phase 2 und Jungle World ernsthaft darüber, inwieweit es sich bei der antideutschen Islamkritik und der Verteidigung des bürgerlichen Rechts um die „Instrumentalisierung des Feminismus“ für einen rassistischen und sexistischen Frieden mit den „deutschen Zuständen“ handele und inwieweit dagegen das islamische Patriarchat in Schutz genommen werden dürfe. (vgl. Lindner/Lindner 2007; AFBL 2008; Antisexismusbündnis 2010) Und da scheint noch die zarteste Islamkritik etwa in Konkret nunmehr ausschließlich erlaubt zu sein, solange sie doppelt flankiert wird: erstens durchs Aufblähen und Zurückweisen der gesellschaftlich völlig irrelevanten Zweckentfremdung von Islamkritik für ordinären Ausländerhass (2), und zweitens durch Angriffe aufs Christentum.
Die Geburt des neuen Orients aus dem Djihad
Mit einer Verzögerung von zwei bis vier Jahrhunderten vollzog sich die Geburt des neuen Orients in Form einer schlechten Kopie der Konstitution Europas. Zwar rangen hier wie dort die Barbaren des Hinterlandes (das heißt: Germanen, Goten etc. hier; Araber dort) die jeweilige Hochkultur der alten Welt (das heißt: Rom hier; Persien dort) militärisch nieder, wobei sich ein Monotheismus (das heißt: Christentum hier; Islam dort) zur zentralen Vergesellschaftungsideologie aufschwang. Bereits die Reihenfolge der Ereignisse dieses Prozesses wies jedoch einen eklatanten und folgenreichen Unterschied auf: In Europa hatten die Römer sich nämlich längst und freiwillig christianisiert, als Rom den einfallenden Barbaren unterlag, die alsdann – fasziniert von den kulturellen Höhen der besiegten Zivilisation – ebenfalls freiwillig konvertierten. Krieg und Gewalt im Namen christlicher Mission blieben in der Folge episodisch und regional begrenzte Praktiken, die als Abweichungen vom christlichen Ideal theologisch stets umstritten waren. Sie erlangten daher zu keinem Zeitpunkt den systematischen Status von Dogmen. Im Orient dagegen wurden zuerst die arabischen Barbaren islamisiert, die dann als zivilisierte Muslime ihre Eroberungszüge organisierten, um die besiegten Polytheisten zu ermorden oder zu islamisieren und die Schriftbesitzer zu unterwerfen. Dabei soll – hier sind sich Islamkritiker und Apologeten einig – der schlichte und tautologische Monotheismus Mohammeds als ideologisches Band fungiert haben, das die Araber, die zuvor konkurrierende Stammespolytheismen pflegten und sich gegenseitig bekriegten, zur Gemeinschaft der Ein-Gott-Gläubigen verschmolz. Der Glaubenskrieg gegen Nicht-Muslime kanalisierte nicht zuletzt die herkömmliche anarchistische Raub- und Kriegsökonomie nach außen und stiftete so die Möglichkeit inneren Friedens. Dieser Frieden konnte zugleich dadurch gewährleist werden, dass das arabische Gewohnheitsrecht (etwa die Blutrache) durch die Scharia ersetzt wurde. Neben der Übernahme der Sklaverei, der Einführung des Patriarchats und der Dhimmitude bildete damit der Djihad von Anfang an einen zentralen Gegenstand der islamischen Jurisprudenz und Eschatologie.
Nicht nur die islamische Verquickung von Krieg und Erlösung, das heißt: die Schariatisierung der Welt als Voraussetzung des Jüngsten Tages, ist eine neue, dem Juden- und Christentum noch gänzlich fremde Vorstellung. So tritt an die Stelle des jüdisch-christlichen Blutzeugen oder Märtyrers, der Verfolgung, Folter, Tod in Standhaftigkeit für seinen Gott passiv erduldet – und dessen Selbstopfer stellvertretende Buße für die Sünden des eigenen Kollektivs ist –, im Islam der Shahid. Der Shahid opfert sich, ohne den Umweg über die Grabesstrafe, die primitive Variante des Fegefeuers, nehmen zu müssen, im aktiven Kampf gegen fremde Kollektive für einen privilegierten und unmittelbaren Zugang zum Paradies. (3) Während Juden und Christen zudem vom Paradies selber bzw. der Erde nach dem Jüngsten Gericht allegorische Phantasien hegen, nach denen die den Tod überwindenden Menschen auf höherer Stufe als vor dem Sündenfall wieder mit Gott und allen Kreaturen im Einklang leben, meint Erlösung im Islam etwas anderes: die Vertreibung des Geistes aus einem Schlaraffenland, das sich durch zügel- und bindungsloses Penetrieren von Jungfrauen auszeichnet. Allen irdisch noch geltenden sozialen und rituellen Reglementierungen des Koitus enthoben, sollen statt Milch und Honig vor allem Wein und Sperma in Strömen fließen.
Vom jüdischen Messianismus, den noch das Christentum in der paradoxen Gestalt eines bereits gekommenen und wieder erwarteten Messias aufbewahrte, ist in der islamischen Eschatologie von Krieg und Kopulation nichts übriggeblieben. Die Protestation gegen das irdische Elend, gegen die falsche Einrichtung der Welt, die Marx fahrlässigerweise der Religion schlechthin zugutehielt – und deren Säkularisierung seinen kategorischen Imperativ als Konsequenz der Religionskritik begründete (4) – wich im Islam, dessen Gott seinen Gefallen am Blut ausdrücklich bekundet, vollends der Verdoppelung des irdischen Unglücks.
Zum Phallozentrismus
Vollzieht sich der Übergang vom Nomadenleben zur Sesshaftigkeit, vom Gemeineigentum zum Individualbesitz unter Wahrung androkratischer Kontinuität, dann ist Besitz nicht nur vorm Raub zu schützen, sondern auch dessen männliche Vererbungslinie zu garantieren. Dies führte in historischer Perspektive notwendig zur Zerstörung matriarchaler Vergesellschaftungsformen durch die Aufrichtung des Patriarchats, das wesentlich Frauen auf Monogamie und Keuschheit verpflichtete. Damit einher gingen die Legalisierung der innerehelichen und die Verteufelung der außerehelichen Sexualität. Das islamische Patriarchat weist jedoch – insbesondere verglichen mit dem von der bürgerlichen Gesellschaft überwundenen abendländischen – zahlreiche Eigentümlichkeiten auf, die auf eine rein phallozentrische Lösung der Dichotomie von innerehelicher Triebabfuhr und außerehelichem Triebverzicht zurückzuführen sind: Die gesellschaftlich geforderte Triebregulation wird unterm Primat männlicher Potenz zur mehr oder weniger alleinigen Angelegenheit der Frauen erklärt. Islamspezifisch ist der innereheliche Koitus nämlich nicht nur legal, sondern dessen Maximierung aus zwei Gründen Glaubenspflicht:
Erstens werden die Fortpflanzung und mit ihr die männliche Potenz wie die weibliche Fruchtbarkeit politisch und eschatologisch zum Geburten-Djihad stilisiert. Für Mohammed al-Ghazali, den wichtigsten Theologen des Islam, ist der große Djihad, das heißt, „es mit Frauen und Kindern auszuhalten“, ebenso verdienstvoll wie der kleine Djihad, das heißt, „im heiligen Krieg zu kämpfen“ – nicht zuletzt, weil der große Eifer dem kleinen das nötige Menschenmaterial liefert: „Heiratet und vermehret euch“, zitiert er in seinem Buch der Ehe aus der Sunna, „denn am Jüngsten Tag will ich vor den übrigen Völkern Staat machen mit euch, sogar mit der Frühgeburt.“ Entsprechend werde dem Muslim für die geschlechtliche Vereinigung mit seiner Frau „der Lohn eines Sohnes angeschrieben, der für die heilige Sache kämpft und stirbt“.
Zweitens versteht die islamische Theologie den innerehelichen Koitus als den einen von zwei entscheidenden Beiträgen zum außerehelichen Triebverzicht. Da Männern ein stärkeres Verlangen unterstellt wird als Frauen, ist die Pflicht zur Kopulation primär Erektionsentsorgung durch die Frau, also weiblicher Sexualdienst. Derart kann die Gattin eine gerichtliche Scheidung nur dann mit Aussicht auf Erfolg beantragen, wenn sie öffentlich nachzuweisen imstande ist, dass ihr Mann sie misshandelt, seltener als alle vier Monate befriedigt, sich als impotent bzw. zeugungsunfähig erweist oder ihren Unterhalt einstellt. Ihr Mann kann sie dagegen jederzeit und unbürokratisch verstoßen, sobald sie ihm den Gehorsam, etwa die Einwilligung in den Sexualakt, verweigert. Jeder schariakonforme Ehevertrag besiegelt daher zentral den Tausch männlicher Unterhaltspflicht gegen weiblichen Gehorsam mit dem Brautgeld. Um die einzelne Muslima mit der Dämpfung der Sinnlichkeit ihres Gatten und als Saatfeld nicht zu überfordern sowie den potentiellen Männermangel einer kriegerischen Gesellschaft auszugleichen, kombinierte der Islam dann auch von Anfang an die weibliche Monogamie mit männlicher Polygamie: mit dem Vorrecht des Mannes auf die kostspielige konventionelle Mehr- und die preiswerte Genuss- bzw. Zeitehe.
Der zweite entscheidende Beitrag zum außerehelichen Triebverzicht begnügt sich weder mit dem patriarchatstypischen Ehebruchtabu (Strafe: öffentliche Steinigung). Noch gibt er sich mit der ergänzenden Kriminalisierung des sexuellen Verkehrs auch unverheirateter Personen (Strafe: öffentliche Auspeitschung) zufrieden, die den unbedingten Erhalt weiblicher Jungfräulichkeit bis zur ersten Ehe zum zentralen islamischen Gebot macht. Vielmehr soll jede Situation, die zu Ehebruch und Unzucht überhaupt nur führen könnte – also bereits die bloße soziale Begegnung miteinander nicht verheirateter und verwandter Männer und Frauen – ausgeschlossen werden. So materialisiert sich die solch rigidem Konsequenzialismus entspringende Geschlechterapartheid in einem Jungfrauen- und Keuschheitskäfig, der um die dämonisierten Frauen errichtet wird, weil diese andernfalls qua ihrer puren Weiblichkeit wie der Leibhaftige Unruhe stiften, zu Zina verführen und so die Umma ins (vorislamische) Chaos zurückstürzen würden.
Abgesehen von der Vaginaverstümmelung, der Rolle der Menstruation im Ehe- und Penetrationsrecht sowie der Ineinssetzung von Hymen und Familienehre, die die Vagina in ein Saat- und Schlachtfeld des großen und des kleinen Djihad verwandeln, institutionalisiert sich der religiöse Eifer für die Tugend in der häuslichen Isolation und der öffentlichen Verschleierung der Frau sowie in ihrer Züchtigung. Diese Züchtigung kann bei Unbotmäßigkeit bekanntlich bis hin zum Ehrenmord führen. Denselben Trieb, den die Muslima im Privaten permanent, und „sei es auf dem Rücken eines Kamels“ (Sunna, nach al-Ghazali), zu stillen hat, gilt es öffentlich, das heißt bei fremden Männern, über die Desexualisierung des eigenen Körpers gar nicht erst zu wecken. Noch vor dem Gebet und anderen religiösen Ritualen veredelt die Muslima ihren Charakter daher im „großen Djihad gegen das Ego“ (Ibn Juzayy), indem sie dem eigenen Ehemann willige, hörige, dankbare, dienende und gehorsame Söhnefabrik ist, die sich ansonsten keusch verhält. Umgekehrt besteht die Ich-Abstreifung, die der Mann zu bewerkstelligen hat, in der die Vergewaltigung einschließenden Triebabfuhr zwecks Produktion von Nachkommen, der Dämpfung der Sinnlichkeit und Entspannung fürs Ritual sowie in der selbstlosen materiellen Unterhaltung, Erziehung und Züchtigung seiner Angehörigen, um sie und sich selber vor der Hölle zu bewahren. Während das christlich-paternalistische Patriarchat die Frau halbwegs als Person anerkennt und materiell absichert – etwa übers Scheidungstabu, die männliche Monogamie, Virilokalität, das Liebesideal, die Reduktion von Sexualität auf Fortpflanzung – und im bürgerlichen Ehekontrakt Kants bereits das weibliche Selbstbestimmungsrecht beschlossen liegt, unterwirft das orientalische Patriarchat die Frauen vollends einem sexistischen Dreiklang aus Geld, Gewalt und Koitus.
Fatima gegen Odysseus
Als Schimpfwort für Menschen, deren Sexualität von der gesellschaftlichen Norm abweicht, die deshalb als tierisch, naturhaft und triebenthemmt erscheint, wird seit jeher der Begriff des Schweins verwendet. Diese Zuschreibung dürfte zum einen, wie Horkheimer und Adorno vermuten, aufgrund gewisser Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Schwein hinsichtlich Anatomie und Geschmack des Fleisches erfolgt sein, zum anderen aufgrund des beim Schwein noch dominanten und beim Menschen allmählich unterdrückten und verdrängten Geruchsinns. Das Glück dieses Sinnes, der „wie dem Geschlecht so dem Eingedenken der Vorzeit am nächsten liegt“, ist im Bild des Schweines jedoch schon zum „unfreien Schnüffeln“ auf allen Vieren entstellt. (Horkheimer/Adorno 1995: 78 f.) In Homers Odyssee jedenfalls verwandelt Kirke die ihr verfallenden zivilisierten Männer zur Strafe in Schweine. Demgegenüber wird Odysseus’ Selbstbeherrschung – als die „Unterdrückung des Triebes“, die ihn „zum Selbst macht und vom Tier trennt“ (ebd.) – paradoxerweise mit dem belohnt, was die Enthemmten vergeblich wünschen und wofür sie bestraft werden: Sexualverkehr mit Kirke, der ihrer Unterwerfung gleicht. Damit denkt der Mythos die Herrschaft über sich selbst, das heißt die Bändigung der inneren Natur mittels Vernunft, als Voraussetzung der Herrschaft über die äußere Natur und die mit ihr als „Rätselbild der Unwiderstehlichkeit“ (ebd.: 79) identifizierten Frauen. Ähnliches gilt für Odysseus’ Ringen mit den Sirenen. Horkheimer und Adorno setzen hier freilich den Akzent auf das Widerstehen bzw. die Überlistung des Schicksals als Bedingung von Individuation. (ebd.: 66 ff.) (5) Darüber hinaus bleibt uneindeutig, ob Odysseus, der an den Mast gefesselt ist, während seine Mannschaft mit verstopften Ohren rudert, eher entsagt oder sublimiert, wenn er derart präpariert dem Gesang der Sirenen sich hingeben, sich also von ihm fesseln lassen kann, ohne zugleich sich wegzugeben und zu entfesseln. Es bleibt jedoch: die „Sehnsucht dessen, der vorüberfährt“. (ebd.: 67)
Der Islam dagegen umschifft solche Individuations-Dilemmata und tötet die Sehnsucht, indem er umgekehrt die Sirenen, also die Frauen, zum Verstummen bringt und fesselt. So wird die Verschleierung selbst vom postkolonialen Vordenker Frantz Fanon, der sie als Waffe im Kampf gegen die in die Kolonisatoren projizierten voyeuristischen Blicke affirmiert, als „traditionelle Fessel“ bezeichnet. (6) Schon Fatima antwortet auf die Frage des Propheten nach dem Besten für eine Frau, „dass sie keinen Mann sieht und von keinem gesehen wird“. Eine Antwort, die Mohammed entzückt: „Daran erkenne ich meine Tochter.“ (Sunna, nach al-Ghazali) Schließlich soll der Mann unterm Islam Schwein oder Ziegenbock selbst da noch bleiben dürfen, wo ihm Triebverzicht abverlangt wird. Mit der Verschleierung und der Aufforderung, den Blick zu senken und keine akustischen Signale zu senden, also zu schweigen und auf klappernde Absätze zu verzichten, wird die Muslima unsichtbar, unhörbar und blind zugleich für andere gemacht: auf dass Sehnsucht sich gar nicht erst regen möge, wohin auch immer die entfesselten Blicke der muslimischen Männer schweifen. Zwar dehumanisiert diese Verrohung des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität die schariakonforme Muslima zum Gespenst und zur Söhnefabrik. Indem sie darin aber zur Hüterin der öffentlichen Ordnung nach Innen und zur Djihadisten-Produzentin nach außen aufsteigt, wird es ihr möglich, die eigene Unterwerfung zu erotisieren, das heißt, das Kopftuch bzw. den Sohn als ihren Phallus über die Maßen zu begehren. Selbstbewusste und gebildete Kopftuchträgerinnen sprechen daher nicht für die Harmlosigkeit des Kopftuchs oder gegen phallozentrische Unterdrückung, sondern für den Verlust eben jenes Selbst, auf dessen Existenz desto inbrünstiger gepocht wird.
Demgegenüber besteht die „destruktive Tendenz“ des Fortschritts der männlichen „Selbstverstümmelung“ (Horkheimer/Adorno 1995: 80) im Abendland zwar darin, Herrschaft von Menschen über Menschen, insbesondere von Männern über Frauen zu begründen, und mittels der selbstherrlichen Entsagung Natur zu überwinden bzw. zu brechen anstatt zu versöhnen. (vgl. ebd.: 79) Dies kommt am sinnfälligsten im Kastratentum der alten Kirchenväter zum Ausdruck, die die Bergpredigt etwas zu wörtlich genommen haben: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Du sollst nicht ehebrechen.‘ Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau begehrlich anblickt, hat in seinem Herzen schon die Ehe gebrochen. Wenn dich daher dein rechtes Auge zur Sünde reizt, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde reizt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle fährt.“ (Matthäus 5:27–30) Der abendländische Fortschritt selber tritt aber damit – gerade in Absetzung vom islamischen Orient – eben auch deutlich zu Tage: nämlich die Entrohung und Humanisierung des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität; wie ja die von Postfeministinnen beklagte „Entkleidung des westlichen Frauenkörpers“ (z.B. Christina von Braun und Bettina Mathes) ebenfalls ohne die Disziplinierung des männlichen Blickes und Triebes gar nicht zu denken ist. (7)
Das Unrecht der Scharia
Vom fest in den Traditionen des Abendlandes verankerten bürgerlichen Recht unterscheidet sich die Scharia noch vor jeder inhaltlichen Bestimmung durch drei wesentliche Voraussetzungen, die in den öffentlichen Diskussionen bemerkenswerterweise kaum eine Rolle spielen:
Erstens: Gegen den Rechtsgrundsatz der abstrakten Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz – sowohl juristischer Ausdruck der jüdisch-christlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott als auch der repressiven Egalität der Warengesellschaft, die vom Besonderen abstrahieren muss, um es komparabel zu machen – gebietet die Scharia, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Auf diesen Grundsatz verweisen der Zentralrat der Muslime und juristisch geschulte Konvertiten wie Murat Hoffmann immer wieder mit einigem Stolz; als handele es sich dabei um einen Einspruch im Namen des konkreten und unverwechselbaren Einzelnen gegen seine Zurichtung aufs Allgemeine und nicht etwa um die bloße Legitimation der herrschaftlichen Ungleichbehandlung von Menschengruppen: von Männern und Frauen (Patriarchat), Gläubigen und Ungläubigen (Dhimmitude, Sklaverei und Djihad).
In diesem Sinne ist der Scharia zweitens das Konzept passiver individueller Rechte vollkommen fremd. Sie beansprucht stattdessen lediglich, alle denkbaren menschlichen Handlungen im politischen, zivilen und rituellen Lebensvollzug den fünf Kategorien pflichtgemäß, empfehlenswert, verboten, verpönt und erlaubt zuzuordnen. „Rechte“ sind daher stets und automatisch identisch mit den Pflichthandlungen anderer: wie dem Recht des Gatten auf weiblichen Gehorsam oder der Gattin auf männlichen Unterhalt. Deshalb eben kann der Islam das individuelle Recht etwa auf körperliche Unversehrtheit gar nicht kennen. Er belegt im Gegenteil die geringsten Vergehen mit jenen barbarischen Leibesstrafen, die die westliche Öffentlichkeit allein gewillt scheint, als schariatypisch zur Kenntnis zu nehmen: z.B. Handabhacken für Diebstahl; Auspeitschung bzw. Steinigung für Alkoholkonsum, Unzucht und Ehebruch.
Allerdings tobt sich am „quälbaren Leib“ (Bertolt Brecht), an der Kreatürlichkeit des Delinquenten, nicht bloß archaischer Sadismus aus. So gibt es explizite Vorkehrungen, um Ausschweifungen und Exzesse zu vermeiden. Vielmehr versteht sich die öffentliche Peinigung als rituelle Reinigung des besten Kollektivs auf Erden. Indem die „Rückzahlung der verbotenen Lust in der Münze des Schmerzes“ (Farideh Akashe-Böhme) Hieb für Hieb und Wurf für Wurf – bei der Steinigung tatsächlich, bei der Auspeitschung mimetisch – von der Menge mitvollzogen wird, reinigen sich alle Beteiligten von den schuldigen und unreinen, abgespaltenen und auf die Delinquenten projizierten Anteilen des eigenen Ichs. Zudem steht zwischen der Strafphantasie und ihrem tatsächlichen Vollzug ohnehin der Strafvereitelungscharakter der Strafprozessordnung als drittes Charakteristikum der Scharia. So verlangt die Verurteilung von Kapitalverbrechen nach einem vier Mal abzulegenden Geständnis des Sünders oder vier männlichen Augenzeugen des Vergehens. Dabei gilt bereits eine bloß unbewiesene (also nicht erst eine erwiesen falsche) Anschuldigung als Verleumdung, die ihrerseits zum Kapitalverbrechen erklärt wird. Etwaige Zeugen machten sich also bereits ohne Verfahren schuldig, wagten ihrer weniger als vier auszusagen. Zugleich rät der orientalische Gott vom Geständnis ab: „Jeder in meiner Gemeinschaft (Umma) darf mit der Vergebung seiner Sünden rechnen, mit Ausnahme derjenigen, die ihre Sünden kundtun.“ (Sunna) Er sucht etwaige Zeugen mittels der Eschatologie zum Schweigen zu bestechen bzw. unter Druck zu setzen: „Wer [die Sünden] seines Nächsten in dieser Welt bedeckt, dessen Sünden wird Gott am Jüngsten Tag bedecken.“ (Sunna) Oder: „Diejenigen, die wünschen, dass etwas Abscheuliches [das] über die Gläubigen [erzählt wird] allgemein bekannt wird, haben eine schmerzhafte Strafe zu erwarten, [und zwar] im Diesseits und im Jenseits.“ (Koran 24:19) (8)
Sowohl islamkritische Scharia-Experten wie Christine Schirrmacher als auch Islamapologeten wie Georg Klauda, der im Internet als „Lysis“ sein Unwesen treibt, wollen im Verzicht der Scharia auf expansive Strafverfolgung Humanität verbürgt wissen. Die eine deutet die „Dehnbarkeit“ des Strafrechts als Versuch, die drakonischen Strafen abzumildern bzw. zu umgehen, der andere die Selbstbeschränkung des Gewaltmonopols als Freiheitsgewinn der Individuen im Privaten und Verborgenen, über das Allah seinen „Schutzschleier“ (Sunna) verhängt. (9) Beide verkennen, dass diese Praxis den barbarischen und despotischen Charakter der Scharia erst vollends entblößt: Die Strafe der Scharia widerspricht dem Begriff, der Idee, der Form von Recht und Gesetz schlechthin, weil sie ihr Ziel verschiebt und ihre Berechenbarkeit verliert. „Rechtssicherheit“ – und damit ein rationales Verhältnis zwischen dem Gesetz und den ihm Unterworfenen (also den Subjekten) – wird von ihr nicht einmal angestrebt. Schließlich gilt die Strafe, wird sie als exemplarische Ausnahme, um die Strafandrohung aufrecht zu erhalten, einmal wirklich vollzogen, nicht mehr dem ursprünglichen Vergehen selbst, sondern entweder dem Geständnis dieses Vergehens, das viermalig wiederholt als unverfrorenes Bekenntnis zur Sünde erscheint und damit zum eigentlichen Vergehen wird. Oder sie richtet sich – bei fehlendem Geständnis – gegen die mangelhafte Geheimhaltung bzw. Vertuschung der begangenen Sünde, so dass vier männliche Augenzeugen sich zur Aussage genötigt sehen. Im Unterschied zur abendländischen Rechtstradition – zum Kirchenrecht, zur Beichte und zur Inquisition, die das bürgerliche Recht vorbereiteten – kommen dem Geständnis und der Wahrheit im Islam keine strafmildernde Wirkung zu, sie werden vielmehr selbst kriminalisiert. Indem, einem arabischen Sprichwort zufolge, die verborgene Sünde zu zwei Dritteln vergeben ist, richtet sich das Unrechtsbewusstsein nicht mehr auf die Vergehen an und für sich, sondern nur noch auf ihr Bekanntwerden. Dann erst nämlich schlagen die Schariagerichtshöfe zu – und zwar unerbittlich.
Die Dehnbarkeit des islamischen Strafrechts, die Schirrmacher fasziniert, ergibt sich aus der Unbestimmtheit jener Grenze zwischen dem Verborgenen und dem Öffentlichen, die von tagespolitischen Interessen und der Stimmung des Kollektivs beständig verschoben wird, keinem Gesetz also gehorcht außer dem der Willkür. In der von der Scharia geschützten Privatsphäre, die Klauda als Hort der individuellen Selbstbestimmung halluziniert, lauert von Anfang an das Recht des Stärkeren, weil der Verzicht des islamischen Staates aufs Gewaltmonopol identisch ist mit seinem höchsten Rechtsgut: der sich hauptsächlich selbst regulierenden Ehre des Kollektivs und Allahs, in deren Namen die größten Abscheulichkeiten, die die Gläubigen einander antun, gedeckt werden sollen. So mag es zwar auch im Islam Sünde sein, Frau und Kinder halbtot zu prügeln oder zu vergewaltigen. Täter, Opfer und nicht beteiligte Angehörige haben solch Schändliches aber familienintern zu regeln, weil sie andernfalls Schande über die Gemeinschaft der Gläubigen brächten.
Der islamische Behemoth
Im Allgemeinen schon ist das Verhältnis der Scharia zum irdischen Gewaltmonopol, zur staatlichen Souveränität, von einer denkwürdigen Spannung geprägt: Auf der einen Seite durchzieht das Ideal der „Einheit von Religion und Staat“ die Geschichte des Islam. Demnach soll Mohammeds zum goldenen Zeitalter verklärte Herrschaft in Medina, während der die Gesetze Allahs irdisch regierten, wieder hergestellt werden. Auf der anderen Seite lässt sich dieses Ideal auf Basis der Scharia gerade nicht verwirklichen. Denn erstens enthalten die kanonischen Texte nicht nur keine konkreten Bestimmungen zur legitimen Amtsnachfolge Mohammeds, sondern auch keine Hinweise auf präferierte Regierungsformen – wie etwa die naheliegende Theokratie. Wenn daher die Scharia nach staatlicher Herrschaft verlangt, zugleich aber die Frage der Legitimität und institutionellen Verfasstheit politischer Gewalt unbeantwortet lässt, dann kann eben auch jede konkrete irdische Staatsform und Rechtspraxis mit Koran und Sunna als unislamisch angegriffen werden, weshalb Anarchie, Despotie und Palastrevolten nicht ganz zufällig die Realgeschichte islamischer Staatlichkeit prägen. Zweitens die Scharia noch das Gewaltmonopol selbst, indem sie ihre judikative und exekutive Anwendung zur Aufgabe eines jeden einzelnen, freien und männlichen Muslims erklärt: „Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen entstand. Ihr gebietet das, was Rechtens ist, und ihr verbietet das Unrecht, und ihr glaubt an Allah.“(Koran 3:110, vgl. 7:71; 9:112; 22:41) Hier soll nicht Staatsgewalt im (ideologischen) Sinne der repräsentativen Demokratie von der Bevölkerung ausgehen, hier dezentriert und multipliziert sich das Gewaltmonopol gegen seinen Begriff in Selbstjustiz.
Die angeblichen Gesetze und Rechte der Scharia, die dem Begriff nach eigentlich statisch zu sein und auf Rechtssicherheit sowie Wahrheit hinauszulaufen hätten, weisen damit bereits dem Ideal nach den Charakter dynamischer, der jeweiligen Situation bzw. den jeweiligen Interessen und Stimmungslagen des Kollektivs anpassbarer Maßnahmen mit kurzer Geltungszeit auf, so wie Ahrendt, Neumann, Adorno und Horkheimer es in Bezug auf den nationalsozialistischen Unstaat herausgearbeitet haben. Der „Behemoth“ (Hobbes), der sich durch die Abwesenheit einer verlässlichen Souveränität auszeichnet, reproduziert keine Ordnung, sondern hält die Gemeinschaft in kämpferischer Bewegung, also Unordnung, um wie im NS das Gesetz der Natur, im Stalinismus das Gesetz der Geschichte und im Islam den geopolitischen Auftrag Allahs zu exekutieren. Darauf zu beharren, dass der arabische Ausdruck „Scharia“ nicht, wie es gewöhnlich geschieht, mit „islamisches Recht“ oder „islamisches Gesetz“ übersetzt, sondern stattdessen auf die wortwörtliche Übertragung „Weg zur Tränke“ zurückgegriffen wird, basiert nicht auf pedantischer Philologie. Es ist im Gegenteil ein Gebot der Sache – spricht sich hier doch das Telos des Islam unumwunden selber aus: eine Hammelherde in Gang zu setzen, die ge- und entschlossen sich selbst und die Welt der Scharia unterwirft, damit der Jüngste Tag eintreten kann, wobei das Individuum stets dem Kollektiv geopfert wird. (10)
Dem Islam primär vorzuwerfen, er habe im Unterschied zum Christentum und Judentum keine Lehre der zwei Gewalten (der weltlichen und der göttlichen) als Anknüpfungspunkt für die spätere säkulare bis laizistische Trennung von Staat und Religion hervorgebracht (11), verstellt nicht nur den Blick auf den viel relevanteren despotischen Charakter des islamischen Rechts- und Staatsverständnisses. (12) Vielmehr wird auch die eigentliche zivilisatorische Leistung des Kirchenrechts aus dem kulturellen Gedächtnis des Abendlandes verdrängt. Diese besteht nämlich bis zur bürgerlichen Revolution weniger in der machtpolitisch notwendigen Teilung der irdischen Gerichtsbarkeit als in der Aufbewahrung und Weiterentwicklung römischen – und somit der Vorbereitung bürgerlichen – Rechts gegen das heidnische Gewohnheitsrecht der germanischen, gotischen etc. Barbaren. Die Kirche und ihre Vertreter, nicht Fürst und Kaiser, sprachen im vorbürgerlichen Okzident das fortschrittlichere Recht.
Die orientalische Subjektivität
Es entspricht Geist und Buchstaben der Scharia, dass die kostengünstige Selbstjustiz als Regulativ zur Bewahrung der kollektiven Ehre den staatlichen Eingriffen vorgelagert ist. So wurden und werden die Mörder von Apostaten oder Ehebrecherinnen auch bis heute von den offiziellen Gerichten der islamischen Welt freigesprochen oder nur milde bestraft. Und so agieren die männlichen Familienvorsteher patriarchatstypisch gegenüber Frauen und Kindern nach wie vor als Legislative, Judikative, Exekutive und Sozialstaat in Personalunion. Im Unterschied zu den Schariagerichtshöfen, die zwar willkürlich aber immerhin gebunden an Geständnis oder Zeugen zuschlagen, genügt dem Tugendterroristen das Gerücht, weil dieses, ob wahr oder falsch, bereits am Ansehen der Familie kratzt. Gott liebe die Eifersucht, die auf einem Verdachtsmoment beruht, überliefert al-Ghazali die Tradition. Sollte etwa die Ehrengemordete sich im Nachhinein als unschuldig erweisen, dann ist das für die Mörder noch lange kein Grund zur Reue oder Scham. Ihr Opfer hätte sich eben nicht so verhalten dürfen, dass es Gerüchten Anlass gibt.
Die Folgen dieses Unrechtsbewusstseins für die Individuation und Subjektbildung der ihm Unterworfenen sind nicht zu unterschätzen: Noch der autoritärste Gesetzes-Staat setzt auf die bestimmte Furcht seiner Untertanen, weil die kausale Beziehung zwischen Ungehorsam und staatlicher Konsequenz stabil (und damit rational kalkulierbar) bleibt. Eine Anpassung, etwa an die rigideste Sexualmoral, garantiert wenigstens das Überleben. Im Gegensatz dazu zerstört die Instabilität des despotisch-chaotischen Maßnahmen-Unstaates jegliche Möglichkeit von Rationalität im vorauseilenden Gehorsam und erzeugt damit unbestimmte Angst in den Unterworfenen. Indem die Wirklichkeit allen Handelns sich dem öffentlichen Schein unterzuordnen hat, werden nicht nur Lüge und Verstellung zu den „moralischen“ Tugenden einer Vergesellschaftung unterm Islam; moralische Subjektivität schlechthin wird notwendig prekär. Anders als das schlechte Gewissen des abendländischen Subjekts nämlich, das – wie der christliche und jüdische Gott, dessen Verinnerlichung es ist – alles, auch das Verborgene, sieht und beurteilt und so ausschließlich dem eigenen Handeln in (wenn auch bedingt) rationaler Form als Richtschnur dient, ist das schlechte Gewissen des islamischen Subjekts gezwungenermaßen auf etwas gerichtet, das sich gleichsam kategorisch seiner rationalen Kontrolle entzieht: das Gerücht über die eigenen Handlungen sowie die Aktivitäten derer, die die Gruppen-Ehre tangieren. Der verinnerlichte kollektivistische Ehrenkodex zielt damit also nicht auf Subjekte, die ihre tatsächlichen Handlungen auf ein Bewusstsein für richtig und falsch abstimmen und dafür die individuelle Verantwortung übernehmen. Im Gegenteil verlangt das Gesetz des guten Rufes vom Einzelnen, Verantwortung für die öffentliche Wahrnehmung der Handlungen anderer zu übernehmen, wobei sich solch Schein, auch die eigenen Handlungen betreffend, nur begrenzt individuell verantworten lässt. Auf dieser Basis entstehen zwangsläufig eher Moralobjekte denn -subjekte, die sich – ob Täter, ob Opfer des Tugendterrors – stets von den Umständen getrieben wähnen. So heißen die Ehrenmörder z.B. in der Türkei wenig überraschend: „Opfer des Schicksals“. Dieser despotische Geist, der die klassische islamische Gesellschaft vom (der Vernunft und damit der Theodizee entbundenen) Willkür-Gott bis zur Scharia, von den Regierungsformen bis zur Kindererziehung durchweht und das Verhältnis der Individuen zu Sünde und Delinquenz bestimmt, markiert daher keinen Unterschied in der Moral, sondern den zwischen Moral und Amoralität. (13)
Mit seinen bis heute einflussreichen Polemiken gegen das „abendländische Geständnistier“ oder die „Hermeneutik des Selbst“ als „Wahrheitsregime“, die totalisierende Ausweitung der „Pastoralmacht“ oder die Inbesitznahme des Leibes durch die Seele hat der postmoderne Philosoph Foucault nur scheinbar das Destruktive des Fortschritts, das heißt: die Entsagung und die Brechung von Natur kritisiert. Denn indem er die Zunahme an Rechtssicherheit, an Rationalität im Verhältnis zwischen Subjekt und Gesetz sowie die Entrohung von Sexualität und Geschlechterverhältnis etc. pp. entweder nicht zur Kenntnis nimmt oder ausschließlich mit der Subtilisierung von Macht und Herrschaft identifiziert, erledigt er die Residuen von Freiheit, die Tendenzen zur realen Humanität, zu Individualität und Versöhnung, den Fortschritt also in der Zivilisationsgeschichte des Abendlandes, gleich mit. Spricht man sein Denken von bösen Absichten frei, dann ist es die im Geist der Postmoderne propagierte Preisgabe materialistischer Dialektik, die zwischen Foucaults anfänglich wenigstens als antifaschistisch und herrschaftskritisch noch behaupteter Mikropolitik der Ent-Individualisierung und seinem späteren islamophilen Kotau vor dem autoritären, wahrheits- und vernunftfeindlichen Kollektivismus des Orients vermittelt.
Trieb und Opfer im Ritual
Die drei für die Vergesellschaftung unterm Islam zentralen, miteinander verschränkten Imperative der Djihad- und Märtyrerdoktrin, der phallozentrischen Triebregulation im Patriarchat und der despotischen Gruppenehre als Fluchtpunkt der Scharia wie der Moral, die allesamt auf Formen des Opfers des Einzelnen für die Belange des Kollektivs hinauslaufen, spiegeln sich auch dort wider, wo man den Islam für vergleichsweise harmlos hält: im Ritual, den sogenannten fünf Säulen des Islam. So einfach es z.B. ist, Mitglied der Umma zu werden – es genügt das Glaubensbekenntnis vor Zeugen (erste Säule) –, so unmöglich soll es sein, die Gemeinschaft der Gläubigen lebend (wieder) zu verlassen, das heißt das Kollektiv zu schwächen: auf Apostasie steht der Tod.
Im Allgemeinen lassen sich die ausgeklügelten monotheistischen Rituale als Überwindung und Sublimierung archaischer Opferkulte deuten, als Einspruch gegen die – wie Nietzsche sagt – „widerliche barbarische Form des Schuldopfers“, das stets „Opfer des Unschuldigen [Hervorhebung im Original; T.M.] für die Sünden der Schuldigen“ ist. (Nietzsche 2005: Abs. 41) So wird das Menschenopfer des Erstgeborenen in der hebräischen Erzählung von Abraham und seinem Sohn Isaak durchs Tier- und pars-pro-toto-Opfer der Vorhaut ersetzt. Das Selbstopfer Jesu im Neuen Testament schafft die Tieropfer, ja die Praxis des Opferns schlechthin ab, woran u.a. im Ritual des Abendmahls erinnert wird. Den archaischen Triebverzicht (auf den Erstgeborenen, die Erstlingsfrüchte des Feldes und die eigenen Nutztiere) und die List, die ihn motiviert – schließlich sollen die Götter bestochen, umgestimmt werden – verinnerlichen, individualisieren und rationalisieren Judentum und Christentum zudem mittels Reinigungsritualen, Speisegesetzen, Fasten, Gebet, Geständnis, Predigt usw. Ein solches Fortschreiten der Aufklärung ist im Islam nicht zu finden, verharrt dieser doch in seinem fundamentalistischen Anspruch, das ursprüngliche und authentische, abrahamitische also vorjüdische Ritual wieder hergestellt zu haben.
In diesem Sinne steht der orientalische Monotheismus im Gegensatz zum Juden- und Christentum nicht nur bis heute zum Tieropfer. In Form des Opferfestes am Ende des Pilgerrituals (die fünfte Säule) bildet es sogar den Höhepunkt des religiösen Kalenders. So werden für die Millionen Pilger in Mekka alljährlich hunderttausende Tiere gleichzeitig geschlachtet, deren Blut dann ganze Straßenzüge tränkt, mit dem die Frommen ihre weißen Gewänder beschmieren. Das archaische Menschenopfer dagegen wird zwar einerseits vom Islam weder propagiert noch praktiziert. Im traditionellen Djihadisten, der im Kampf gegen die Ungläubigen fällt, im modernen Selbstmordattentäter, der den Judenmord als Selbsttötung zelebriert, im Ehrenmörder, der seine Freiheit riskierend die eigene Tochter oder Schwester abschlachtet, in diesen von Ritualen begleiteten oder gar rituelle Züge aufweisenden und eschatologisch legitimierten Praktiken aber überlebt es andererseits in transformierter Gestalt: als Bereitschaft, sich selbst und andere für das Kollektiv zu opfern, als Geringschätzung des Lebens des Einzelnen, als Todessehnsucht. Derart enthält die Bibelgeschichte um Abraham und Isaak in ihrer Nacherzählung im Koran eine entscheidende Neuerung. Der Sohn nämlich erklärt sich, nachdem er – anders als noch im Alten Testament – über seine bevorstehende Tötung informiert wurde, mit dieser einverstanden: „Dann gaben Wir ihm die frohe Botschaft von einem sanftmütigen Sohn. Als er alt genug war, um mit ihm zu arbeiten, sagte er: ‚O mein Sohn, ich sehe im Traum, dass ich dich schlachte. Nun schau, was meinst du dazu?‘ Er sagte: ‚O mein Vater, tu, wie dir befohlen wird; du sollst mich – so Allah will – unter den Geduldigen finden.’“ (Koran 37:101 f.) Wie der Jude laut Koran mehr als alle anderen am Leben hängt (vgl. ebd. 2:96), so der vorbildliche Muslim also überhaupt nicht.
Auch dem Fasten schreibt der Islam in Gestalt des Ramadan als vierter religiöser Grundpflicht der Muslime eine herausragende Bedeutung zu. Während Juden und Christen jedoch für die Dauer des Fastens in der Regel lediglich auf besondere Genüsse im Ernährungs- und Freizeitverhalten verzichten (Fleisch, Alkohol etc.) oder bisweilen für einen relativ kurzen Zeitraum die Ernährung gänzlich einstellen, fasten Muslime, indem sie sich einen ganzen Monat lang ausschließlich tagsüber jeglichem Essen und Trinken, Rauchen, Geschlechtsverkehr und anderen irdischen Vergnügungen enthalten, um dann ab dem späten Abend umso ausgiebiger zuzuschlagen – bis sie „in der Morgendämmerung einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden“ können, und der rigorose Verzicht von vorne beginnt. (ebd. 2:187) In dieser Eigenart des Fastens bestätigen und verstärken sich zwei Stränge, die für die Vergesellschaftung der Individuen unterm Islam insgesamt relevant sind: zum einen die despotische Diskretion Gottes, der nicht wissen will bzw. sogar zudeckt, was die Gläubigen im Verborgenen der Dunkelheit treiben; zum anderen die disziplinierende Herrschaftstechnik, den Leib des Muslim beständig in der extremen Spannung zwischen den Polen totaler Triebversagung (außerhalb der Ehe) und totaler Triebabfuhr (in der Ehe) zu halten: zwei Varianten der Entsublimierung also. (14)
Dagegen steht das Gebet (die zweite Säule des Ritus) ausschließlich im Zeichen des Triebverzichts, der Unterwerfung und der Ich-Abstreifung im politischen Kampfkollektiv. Im Juden- und Christentum noch „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (Karl Marx), abseits kollektiver Feste vor allem persönliches, individuell variierendes Zwiegespräch des Einzelnen mit Gott, treibt der Islam dem Gebet jeden Rest von Individualität aus. Die Einzelnen werden zu einer egalitären Gebetsmeute verschmolzen. Nach formal bis ins Detail festgelegten Regeln wird es weltweit auf dieselbe Weise – in der Moschee sogar synchron – und zum selben Zeitpunkt, den der öffentliche Ruf des Muezzin bestimmt, vollzogen. Juden und Christen, so lautet der explizite koranische Vorwurf, „schließen sich [ja] nicht [einmal] untereinander der gleichen Gebetsrichtung an.“ (Koran 2:145) Diese fünf Mal am Tag zu absolvierende Einübung von Disziplin strukturiert und rhythmisiert das Alltagsleben und nimmt nebst der ihr unmittelbar vorangehenden kleinen oder großen Waschung des Gläubigen sowie der rituellen Reinigung von Kleidung und Gebetsplatz insgesamt nahezu den halben Tag in Anspruch. Eingedenk der rituellen Dichotomie von leiblicher Reinheit und Unreinheit stiften die Gebetszeiten daher die einzigen Zeiträume, in denen der Muslim sich wohl in der eigenen Haut fühlen kann: im Reinen mit seinem Körper, der Gemeinschaft und Gott. Dabei verdoppeln sich die repetitive Monotonie und der Stumpfsinn des Verbalen – über die zigfach zu wiederholende Versicherung, dass Gott Einer und der Allergrößte sei, gehen die Gebetsinhalte kaum hinaus – körperlich: auf insgesamt 17 Verbeugungen und 34 Niederwerfungen bringt es der fromme Muslim täglich.
Diese sogenannte Proskynese ist zugleich Regression auf den Stammvater Abraham der Genesis und Bekenntnis zur altorientalischen Despotie. Während nämlich vereinzelte Versuche, die aus Persien bekannte Unterwerfungsgeste zum festen Bestandteil des Hofzeremoniells und/oder religiösen Rituals zu machen, bei den antiken Griechen und Römern, in der Ost- wie vor allem der Westkirche entweder nur kurzfristig oder auf bestimmte Räume bzw. Würdenträger beschränkt sich bewähren konnten, gelang dem Islam die Durchsetzung ihrer totalen Verallgemeinerung. Die Moschee ist – ihrer wörtlichen Übersetzung entsprechend – der Ort dieser Niederwerfung und traditionell „Multifunktionshaus“ (Necla Kelek), in dem Geschäfte betrieben, die politischen Doktrinen der jeweiligen Kalifen verkündet werden, zum kleinen wie zum großen Djihad aufgerufen, die Sozialabgabe (dritte Säule) zwecks Armenspeisung, Moscheebau oder Finanzierung des Djihad eingetrieben sowie Gott und Umma gehuldigt wird, um die Ge- und Entschlossenheit des Kollektivs als Einheit von Allah-Anbetung, ritueller Reinheit, Geschäft und Politik stets aufs neue zu konstituieren. „Die sich niederknien“, schreibt Gerhard Scheit, „müssen noch mit dem Kopf auf den Boden, und statt des einen großen stellvertretenden Selbstopfers, das kniend angebetet wird, weil in dessen Namen die Erlösung bereits eingetreten sei, wird jedem einzelnen Hingeworfenen der Tod für die Gemeinschaft der Gläubigen als lohnendes Ziel vor Augen geführt: kein passives Erleiden des notwendigen Opfers durch den prädestinierten Gottessohn, sondern freudiges Erreichen des vorherbestimmten Ziels einer ganzen Heerschar von Auserwählten im Krieg gegen die Ungläubigen.“ (Jungle World 45/2006) Koransure 37, welche die Eschatologie von Himmel und Hölle, den Glaubenskampf, den Ritus und die Einwilligung Isaaks in die eigene Opfer-Schlachtung zum Thema hat, heißt dann auch: as-Saffat, das heißt: „die in Reih und Glied stehen“. (15)
Kapital und Terror
Es mag in der Logik des Weltmarktes liegen, dass er in den Peripherien ein ungleich größeres Maß an materiellem und geistigem Elend produziert als in seinen Zentren und Metropolen. Die konkrete Gestalt des Elends vor Ort jedoch ist einerseits auch darauf zurückzuführen, wie die jeweilige traditionelle Herrschaftskultur die Erfordernisse der Kapitalakkumulation integriert und sich dabei selbst transformiert. Andererseits ist die Spezifik der jeweiligen geistigen und materiellen Misere auch davon abhängig, welche realen oder erfundenen Traditionen ein etwaiges pathologisches Krisenbewusstsein gegen die negativen Begleiterscheinungen eben jenes gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses mobilisieren kann. Für den Orient ist dabei zweierlei bezeichnend:
Erstens und grundsätzlich kollidiert die kollektive Impotenzerfahrung der verelendeten Massen hier – im dezidierten Unterschied zu den abgehängten Regionen Lateinamerikas, Schwarzafrikas oder Asiens etwa – mit der verinnerlichten Allmachtsphantasie der islamischen Herrenvolk-Ideologie. Statt gegen die für das Elend verantwortliche Symbiose aus traditionell despotisch-islamischer Herrschaft und Kapitalismus auf Säkularisierung zu setzen und mit wie gegen die Moderne für die Aneignung ihrer Errungenschaften zu streiten, erklären die Islamisten einen Abfall der Gläubigen und ihrer Gesellschaften vom angeblich reinen Ursprungsislam zur Ursache des Elends. Sie propagieren die Reislamisierung der Umma als Allheilmittel. Indem die Erneuerer derart den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben versuchen, erzeugen sie jedoch nichts weiter als eine sich stets potenzierende apokalyptische Endlosspirale der Verelendung. Ihr Telos ist das moderne Selbstmordattentat, in dem der traditionelle kleine Djihad gegen Ungläubige und Abtrünnige und der traditionelle große Djihad gegen die eigene Triebseele im Nichts der Vernichtung identisch werden und ihre „Hochzeitsnacht“ zelebrieren, als die schon der Sufismus das Ableben verherrlichte.
Zweitens basiert eben das materielle Elend, das die negative Krisenlösung der islamischen Erweckungsbewegung stets voraussetzt und zugleich erst erzeugt, in der angesichts der Totalität des Weltmarktes zwangsläufigen Krise der spezifisch orientalischen Triebregulation. Denn der klassische islamische Phallozentrismus organisiert den außerehelichen Triebverzicht ja nicht nur über die Desexualisierung der öffentlichen Frau, auf dass der männliche Trieb erst gar nicht angestachelt werde. Vielmehr und entscheidender noch soll die von fremden Frauen unter Umständen doch geweckte Leidenschaft bzw. Teufelsmacht im Koitus mit der eigenen Ehefrau gebannt werden. Folglich stellt sich der Triebverzicht, solange die Ehe eine stabile Institution ist, zuförderst als Triebabfuhr dar. Der „große Djihad gegen das Ego“ verlangt also kein großes Opfer; und auch der kleine Djihad zur Durchsetzung des Keuschheitsimperatives gegen die Frauen muss nicht besonders rigoros geführt werden. Verwandelt die ökonomische Krise den solventen Patriarchen aber in einen arbeitslosen Taugenichts, dann gewinnt nicht nur die kollektive Ehre gegenüber dem sinkenden individuellen Ansehen für ihn an Bedeutung. Zudem verliert der Ehemann mit seinem Einkommen die moralische und juristische Berechtigung, den sexuellen Gehorsam der Ehefrau durchzusetzen, wie der Jugendliche die Mittel zur Ehe überhaupt. Insofern der große Djihad gegen die niedere Triebseele damit erst den totalen Triebverzicht einfordert, reduziert er sich auf den Tugendterror gegen die nun ungleich bedrohlicheren Frauen. Dieser Terror verträgt keine Mäßigung mehr, weil plötzlich der eigene Körper als potentieller Kollaborateur all jener erscheinen muss, die ihn zu verführen und seine nicht mehr abführbare Sinnlichkeit zu wecken trachten. Das sind, dem Wahn gemäß: eben die Frauen, aber auch die Juden und der Westen.
Die unter der Scharia per se nicht – nicht einmal partiell – einlösbaren Glücksversprechen der Moderne (Wohlstand, individuelle Freiheit, Liebe, Glück) werden zum Gegenstand zwanghaften Hasses. Das Selbstmordattentat verspricht Erlösung von den potenzierten aber nicht zu bewältigenden inneren Ambivalenzen und zugleich die Beseitigung aller Feinde des Islam. Dabei ist die mordende Selbstentleibung libidinös, rituell und eschatologisch aufgeladen, sucht sie ihre Energie doch aus dem irdisch versagten Trieb selbst zu beziehen. Er wird auf die infantil und pervers verzerrte Erfüllung des verhassten bürgerlichen Glücksversprechens im Jenseits ausgerichtet. So ist es schließlich die in Aussicht gestellte ewige Schändung von Jungfrauen, für die islamische Suizid-Bomber ihren Penis noch vor der Tat rituell reinigen und in eine Art Futteral wickeln. Die Parole der Selbstmordattentäter von Madrid – „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ – bringt sie auf den Punkt: die negative Aufhebung des orientalischen Phallozentrismus auf seiner eigenen Grundlage.
Thomas Maul (Bahamas 60 / 2010)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.