Die Differenz von Begriff und Realität begründet die Möglichkeit der umwälzenden Praxis, nicht der bloße Begriff. Max Horkheimer
Im Dezember 2009 sagte jemand über seine ägyptische Heimat: „Ich komme aus einem Land, in dem es ein ungeschriebenes Abkommen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft gibt: Du akzeptierst die Regeln, aber auch die Zwänge der Kollektivgesellschaft und stellst sie nicht infrage und kannst dafür mit der Solidarität und Anerkennung aller rechnen. Bei jeder Entscheidung steht dir entweder der Vater, der Lehrer, der Imam oder ein Vers aus dem Koran zur Seite. Man ist nie allein, im positiven wie im negativen Sinne. Die Individualität wird für Geborgenheit und Halt aufgegeben“ (bpb.de/themen).
Ein gutes Jahr später erklärt derselbe Mensch der deutschen Öffentlichkeit via ARD und ZDF: „Die Ägypter sind bereit für Demokratie“ (heute.de). Und: „Das [ägyptische] Volk will die Freiheit, das kann man in jeder Ecke in Ägypten förmlich spüren“ (Die Welt, 07.02.2011).
Was für radikale Umwälzungen der ägyptischen Gesellschaft müssen da innerhalb von nur wenigen Monaten stattgefunden haben, und keiner hat es mitbekommen – außer Hamed Abdel-Samad, von dem die Aussagen stammen. So ganz sicher scheint sich aber auch Abdel-Samad nicht gewesen zu sein, sonst hätte er gegenüber dem Fernsehsender n-tv den Charakter der wochenlangen Proteste auf dem Kairoer Tahrir-Platz nicht in einem so trotzigen, ja autoritären Ton dekretieren müssen: „Ich bestehe darauf, dass es eine Revolution ist“.
Hält man sich zur Beurteilung, ob eine Sache als revolutionär auf den Begriff gebracht werden kann, an das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, indem eben nicht das Proletariat als alleinseeligmachendes revolutionäres Subjekt ausgemacht, sondern als revolutionär bestimmt wurde, was die „feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört“ (1), dann müssten die Massen auf dem Tahrir-Platz nicht nur für das Ende der Ära Mubarak demonstriert haben, sondern zugleich dafür, dass sie, mit den Worten Abdel-Samads, ihre Individualität nicht mehr der ägyptischen Kollektivgesellschaft zu opfern gezwungen sind; und das hätte sich konkret gegen das Regime von Vater, Lehrer, Imam und die Korangläubigkeit überhaupt richten müssen. Dass davon keine Rede sein kann, weiß in Wirklichkeit auch Abdel-Samad, der der Taz noch im November 2010 sein Leid über die ägyptische Realität so klagte: „Wenn er [Abdel-Samad] auf der Straße irgendjemand frage, warum diese [islamischen] Gesellschaften früher führend waren und was seitdem passiert sei, erhalte er immer die Antwort: ,Weil wir uns von der Religion entfernt haben’“ (05.11.2010).
Hamed Abdel-Samad ist nicht nur der Kumpel von Henryk M. Broder, mit dem zusammen er Ende letzten Jahres für die ARD auf „Deutschlandsafari“ gegangen ist. Als deutscher und ägyptischer Staatsbürger trommelte er von der FAZ bis in die Jungle World für die angebliche Revolution auf dem Tahrir-Platz. Sein Ansehen als glaubwürdig und authentisch stieg dadurch, dass er die dreiste Behauptung, „sogar die Islamisten“ forderten auf dem Tahrir-Platz „Freiheit und Demokratie“ (heute.de, a.a.O.) mit einer populären Drohung verband: Der Hass auf den Westen der angeblichen Revolutionäre würde solange andauern, wie jener sich nicht bedingungslos hinter die Demokratiesehnsucht der Massen im Nahen Osten stelle. Dass sich diese Drohung vor allem gegen Israel richtet, wie Stepan Grigat feststellte (2), bekräftigte Abdel-Samad im Interview für das Onlineportal Der Westen: „Wenn Israel tatsächlich ein demokratischer Staat ist, sollte es sich auf die Seite der Demokraten stellen. Wenn Israel wirklich Frieden will, sollte es sich mit den Demokraten in Ägypten solidarisieren“ (01.02.2011).
Abdel-Samad ist kein billiger Demagoge, dessen einziges Ziel es ist, wider besseres Wissen die Ereignisse in Ägypten Anfang 2011 rosarot zu malen. Er agierte vielmehr als ein von seinen eigenen Thesen über Islam und arabische Gesellschaft Getriebener. Abdel-Samads in Deutschland populäre „Islamkritik“, die durchaus Wahres enthält, hat ihn längst zu einem gar nicht unschuldigen Beteiligten in einem Diskurs gemacht, der sich nicht gegen den Islam, sondern gegen die Aufklärung stemmt und mit der Kultur die Zivilisation erledigen will. Im Deutschlandfunk, einer Hochburg des Diskurses der Kulturen, glaubt man dann auch, in Abdel-Samad den Gegenpart zu den als Aufklärungsfundamentalisten beschimpften Autorinnen Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali gefunden zu haben: „Der 38-jährige Wissenschaftler bemüht sich um Äquidistanz zu sämtlichen Protagonisten der hierzulande geführten Debatte. Sein Blick ist ganz auf die zivilisatorischen Aspekte der Kultur gerichtet.“ (dradio.de, 13.09.2010) Diese deutsche Scheidung in Zivilisation und Kultur verzückt nicht erst seit Oswald Spengler ganze Generationen von Zivilisationskritikern, die damit ihr antiwestliches Ressentiment meinen verbergen zu können. In Deutschland ist diese Art „Kritik“ bis heute ein beliebtes Geschäftsmodell insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und der deutschen Filmförderung, das man früher gern „Bildungsauftrag“ nannte; ein Bildungsauftrag, der geeignet ist, den politcally correcten Deutschlandfunk mit dem nichtstaatlichem Portal Politcally Incorrect, denen der Schutz „der Kultur“ gleichermaßen heilig ist, zu versöhnen.
Mit Oswald Spengler hat Abdel-Samad selbst den Namen ins Spiel gebracht, der ihm ungeteilte Aufmerksamkeit sichert. Nicht von ungefähr lautet der Titel seines erfolgreichen Buches Der Untergang der islamischen Welt – eine Prognose, das 2010 erschienen ist. Darin schildert er sein persönliches Erweckungserlebnis als die scheinbare Wandlung vom radikalen Islamapologeten zum bekennenden Islamkritiker: „Bei einem Bekannten stieß ich auf ein altes Buch, das mir zunächst als eine Goldgrube erschien: Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. Ich glaubte, darin alle Argumente gegen die dekadente westliche Zivilisation zu finden, die mich als frommen Muslim so sehr überforderte, und empfand keine geringe Schadenfreude angesichts des bevorstehenden Endes dieser Kultur. [Doch] der Inhalt des Buches hatte mich schockiert. Denn der Zustand der untergehenden Zivilisation, wie Spengler ihn beschreibt, kam mir sehr bekannt vor. Die in die Jahre gekommene Kultur, die kalt und seelenlos geworden und vom Materialismus und von formloser Gewalt unterwandert war, kannte ich gut. Ich plagte mich durch den schweren Text, bis ich auf diese Passage stieß: ,Zuletzt, im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der Seele. Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit halbem Erfolg – im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur fremd ist, an eine größere Schöpfung; die Seele denkt noch einmal – in der Romantik – wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert sie, müde verdrossen und kalt, die Lust am Dasein, und sehnt sich – wie zur römischen Kaiserzeit – aus tausendjährigem Lichte zurück in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück.‘ […] Für eine kopernikanische Wende war es noch zu früh. Erst mehr als zehn Jahre später wagte ich mich noch einmal an den Untergang des Abendlandes. […] Nun las ich das Buch mit anderen Augen und versuchte dabei Spenglers Rat zu folgen, dem Untergang der eigenen Kultur ,gefasst in die Augen zu schauen‘. In Analogie zum Sprießen, Blühen und Verwelken einer Pflanze hatte [….] Spengler […] versucht, den Lebenszyklus einer Kultur als ,Morphologie der Geschichte‘ zu erklären“ (S. 12 ff.).
Spengler stellte in seiner „Philosophie des Schicksals“, die ihm als „eine deutsche Philosophie“ galt, insgesamt acht „hohe Kulturen“ vor, zu denen er die antike und die abendländische rechnete, die zueinander in unüberbrückbarerer Gegensätzlichkeit stünden. Er verstand sein Werk als die erste geschichtsphilosophisch begründete Kritik an einer angeblich unablässig zu Höherem und Edlerem fortschreitenden modernen Menschheit. Der große Erfolg seines Werkes erklärt sich vor allem aus dem Umstand, dass er im Jahr des Erscheinens des ersten Bandes 1918 – der zweite folgte 1922 – den Nerv der Zeit traf: der Erste Weltkrieg neigte sich dem Ende und das deutsche Kulturvolk, ganz anders als die Siegermächte, wähnte sich im Abstieg begriffen. Spenglers Einwand gegen die vorherrschende Teleologie der Geschichte liest sich wie eine vorweggenommene Passage aus einem Horkheimer-Aufsatz gegen den logischen Gang der Weltgeschichte: „Ich protestiere hier gegen zwei Annahmen“, schreibt Spengler, „die alles historische Denken bis jetzt verdorben haben: gegen die Annahme eines Endziels der gesamten Menschheit und gegen die Leugnung von Endzielen überhaupt“ (München 1972, 613). Im diametralen Gegensatz zu Horkheimer aber, dessen Aufsatz „Autoritärer Staat“ von 1942 mit der Feststellung endete, dass Teleologie die menschliche Bestimmtheit a priori unmöglich macht, löste Spengler seinen kritischen Gedanken im Verzicht auf menschliche Subjektivität überhaupt auf, die der später von Heidegger beklagten „Seinsvergessenheit“ zum Verwechseln ähnelt: „Das Leben hat ein Ziel. Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner Zeugung gesetzt war. Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der ,Weltgeschichte’“ (ebenda). Menschliche Vernunft, die über die erste Natur, das Zoologische ebenso hinausgeht wie über die Unterstellung, sie sei lediglich Anhängsel einer hohen Kultur, die bei Spengler bezeichnenderweise als „Organismus“ bezeichnet wird, darf es nicht geben und damit weder eine Menschheitsgeschichte noch deren Vorgeschichte. „Und daraus folgt eine ganz entscheidende und hier zum ersten Mal festgesellte Tatsache: dass der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder geschichtslos wird, sobald Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausbildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat“ (ebenda). Horkheimers vor allem gegen den Determinismus des Marxismus-Leninismus gerichtete Kritik trifft in Gänze auch auf die deutsche Ideologie und damit auf Spengler zu: „Das historische Schema solcher Raisonnements kennt nur die Dimension, in der sich Fortschritt und Rückschritt abspielt, es sieht vom Eingriff des Menschen ab. Es veranschlagt sie bloß als das, was sie im Kapitalismus sind: als soziale Größen, als Sachen“ (ebenda).
Dass Spenglers „Morphologie“ neben der allgemeingültigen Kategorie der „hohen Kultur“ keine externe Scheidung von Fortschritt oder Rückschritt kennt, sondern nur die jeweils hermetisch in sich geschlossene „fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen“ bis zur „Vollendung, gleichbedeutend mit ihrem Ende“ (a.a.O., 141), ist nicht zuletzt in ihrer Todesverfallenheit Kulturrelativismus par excellence. Zwar kennt Spengler keinen Dialog der Kulturen, sondern nur Sieg, Niederlage und letztlich den Untergang des Siegers in der Dekadenz und doch hat er gerade damit den aktuellen Kulturendiskurs entscheidend mitgeprägt. Spenglers Sprießen, Blühen und Verwelken, das „pflanzenhafte Wachsen und Absterben der Kulturen“ (Adorno: Spengler nach dem Untergang, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt am Main, 49), dieser vegetative Prozess, in den kein Mensch aktiv eingreifen könne, von dem sich Abdel-Samad so fasziniert zeigt, behauptet die völlige Autonomie von Organismen und damit nicht zuletzt deren Schutzwürdigkeit gegen jede Kritik. Kein Wunder also, dass Abdel-Samad als durchgeistigter Vertreter „der eigenen Kultur“ (Abdel-Samad) vom Deutschlandradio in den Zeugenstand gegen die für dialogfeindlich erklärte Islamkritik gerufen wurde: „Als Islamkritiker ist er eine Ausnahmeerscheinung. Kein Eiferer, eher ein Philosoph. Keiner mit fertigen Antworten, einer, der mit anderen in Dialog treten will.“ Die Naturalisierung der Kultur, ihre Zurichtung zum Naturgesetz, bildet bei Abdel-Samad die Grundlage für seine These vom gesetzmäßigen Untergang des Islam. Die Sympathien für seine Thesen nicht nur im quasi staatlichen Rundfunk gründen aber darauf, dass dem behaupteten Untergang der islamischen Kultur das Todesurteil über das eigentlich längst untergegangene Abendland immer vorgeschaltet ist. Aus dem „Philosophen“ Abdel-Samad spricht immer Spengler und aus Spengler das sich in wilden Untergangsphantasien ergehende deutsche Volk, das im eigenen „Untergang“ des Jahres 1918 auch den kulturellen Bankrott seiner Bezwinger zu erkennen glaubte. Bei Abdel-Samad klingt das so: „Das Verschwinden der kulturinteressierten Bevölkerung, der Tod der Kunst und die Fixierung auf panem et circenses, Brot und Spiele“, durch die Bank Entartungen, die Spengler dem Abendland zuschrieb, „ – es sind alles Erscheinungen, die man beim genaueren Blick in eine islamische Gesellschaft, vorausgesetzt, man sieht über die fromme Fassade hinweg, deutlich erkennen kann“ (a.a.O., 14).
Was vordergründig der Kritik an der Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“ gar nicht unähnlich klingt, erweist sich bei Abdel-Samad und seinen Liebhabern recht bald als das Gegenteil. Wer nämlich Spengler folgt, der wird kaum aus der Welt schaffen können, dass der im „Steinkoloss ,Weltstadt’“ den Untergang der Kultur in Zivilisation als endgültig abgeschlossen erkannte und dieser im Grunde westliche Moloch als untoter Parasit sich Eingang in andere „Organismen“ verschafft hat. Die Feindschaft gegen moderne Urbanität gründet in der Sehnsucht nach einer Idylle (Marx/Engels), in der Blutsbande die menschlichen Beziehungen regeln: „Diese letzten Städte“, beklagt Spengler, „sind bloße Behausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unternehmensgeist geschaffen hat“ (a.a.O., 674). Dieser romantische Antikapitalismus, der an der Stadt das Künstliche als Kulturzerfall beklagt und das dem gesellschaftlichen Verhältnis namens Kapital anlastet statt es wie im Kommunistischen Manifest geschehen, als revolutionär und fortschrittlich zu begreifen, macht aus der notwendigen Kritik an der Enge und Hässlichkeit der Großstädte eine zum Existenzialurteil aufgeblähte Absage an jede Bedingung der Möglichkeit individuellen Glückes.
Es hat wohl auch damit zu tun, dass Spengler nie originärer Rassist war, weil ihm „Rasse“ nichts biologisches, sondern stets „etwas Kosmisches und Seelenhaftes“ bedeutete (a.a.O., 689), dass sich Abdel-Samad auf ihn so gläubig berufen kann ohne deswegen gemieden zu werden. Abdel-Samads Aufwertung zum Philosophen ist vor allem darauf zurückführen, dass er nicht trotz, sondern wegen seines Schicksalsgefasels vom unabwendbaren Untergang des Islam gut ankommt. Es ist die Degradierung des Subjekts, das es nur zum Anhängsel des unabwendbaren geschichtlichen Schicksals bringen kann, die an seinem Buch begeistert und im Deutschlandradio eine alte deutsche Sehnsucht wachruft: „Das Buch vermittelt einen dritten Weg in der polarisierenden Debatte. Patentrezepte zur Konfliktlösung werden nicht angeboten, dafür aber eine umfassende Erklärung der Prozesse, die in Gang kommen müssen, um Muslimen den intellektuellen Anschluss an die Moderne zu ermöglichen.“ Diese neutralisierte, mechanistische, von jeglicher Subjektivität bereinigte Sprache von Prozessen, Gängen und Anschlüssen ist die Denkform derer, die an keinem Untergangsgeraune vorbeigehen können, ohne es sogleich zur Kulturkritik hochzujubeln.
Gegen diese Kultur des dritten Weges hat Adorno geltend gemacht: „Um dem Zauberkreis der Spenglerschen Morphologie zu entrinnen, genügt es nicht, die Barbarei zu diffamieren und auf die Gesundheit der Kultur sich zu verlassen […]. Vielmehr ist das Element der Barbarei an der Kultur selber zu durchdringen“ (a.a.O, 71). Diese Durchdringung wird dann unmöglich, wenn man wie Abdel-Samad den Vorsatz hegt, über eine angeblich nur „fromme Fassade“ der islamischen Gesellschaft hinwegschauen zu wollen, um dahinter nach dem Echten zu fahnden. So wird das, was islamische Propaganda ausmacht, für im Kern gesund erklärt und ein deutscher Aufklärer zum konstruktiven Apologeten des verinnerlichten Zwangs: „Während sich im Westen ein Gegenpol zum Materialismus und Konsumverhalten im kulturellen Repertoire der Aufklärung und des Humanismus findet, mangelt es dem gelebten Islam an einem gesunden Verteidigungsmechanismus gegen den Konsum, ohne ihn kategorisch auszuschließen und zu verdammen. Man könnte sagen, Konsum ohne Kant führt zu Verwirrung“ (a.a.O., 15). Dass Aufklärung, Humanismus und Religion nur noch die gesellschaftliche Funktion eines „Gegenpols“ bzw. „Verteidiungsmechanismus’“ erfüllen sollen, haben Horkheimer/Adorno schon vor Jahrzehnten als Teil jener verwalteten Welt denunziert, die die Selbstzerstörung der Aufklärung vorantreibt. Kein Wunder also, dass Abdel-Samad zur Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, Allgemeinem und Besonderem islamischer Gesellschaften gar nicht fähig sein kann. Denn sein Begriff von der gegenwärtigen Bedeutung des Islam ist regelrecht antikritisch. Ausgehend vom unabdingbaren „Zerfall“ des Islam stellt Abdel-Samad fest, dass der „keine konstruktiven [!] Antworten mehr bieten kann auf die Fragen des modernen Lebens und auf den Zerfall einer Kultur, die die eigene Besonderheit über den Wandel stellt, obwohl dieser Besonderheit keine Substanz mehr entspricht“ (ebenda). Als wäre nicht genau das der gesellschaftliche Ort der Ideologiebildung, als wäre es nicht das Wesen von Ideologie, die Differenz von Begriff (Islam) und Realität (Lebenswirklichkeit) zu verdecken und zu verschleiern und als spräche man nicht genau deshalb vom notwendig falschen Bewusstsein, das sich als Massen- und Krisenbewusstsein weder fein säuberlich mit dem Seziermesser von etwaiger Staatspropaganda, einer Stammestradition, noch vom Islam „selbst“ trennen ließe. Nur wer die Wirklichkeit in seine Partikel zerreißt statt sie in ihrer Einheit des Verschiedenen zu erfassen und auf ihren Begriff zu bringen, kann wie Abdel-Samad allgemeine Entwarnung geben angesichts der offensichtlichen Krise der arabischen Gesellschaften, die aus dem Islam stärker als je zuvor eine von Ideologie nicht mehr zu unterscheidende Sache gemacht hat: „Was den Islam betrifft“, schreibt Abdel-Samad, „mag er in seinem jetzigen Zustand alles Mögliche sein, nur eines ist er meines Erachtens gewiss nicht: Er ist nicht mächtig. Er ist im Gegenteil schwer erkrankt und befindet sich sowohl kulturell als auch gesellschaftlich auf dem Rückzug. Die religiös motivierte Gewalt, die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Raumes und das krampfhafte Beharren auf die Sichtbarkeit der Symbole sind nervöse Reaktionen dieses Rückzuges. Der Vormarsch des Islamismus ist bloß eine aufgeregte Mobilisierung und, wie Spengler schreibt: ,Wehe denen, die die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln’“ (ebenda, 18). Wehe aber erst recht denen, die, wie Abdel-Samad, diese als Zeichen des feststehenden Niederganges des Islam verstehen und ignorieren, worauf Adorno 1955 bei der Beantwortung der Frage: „Wird Spengler recht behalten?“ selbst nach, oder besser: trotz Auschwitz beharrte: „Zuerst wird man denn das Allereinfachste zu sagen haben: dass das Abendland noch nicht untergegangen ist“ (GS Bd. 20-I, Digitale Bibliothek).
Die sträfliche Gelassenheit, mit der Abdel-Samad den „Untergang der islamischen Welt“ in seinem Buch auf über 200 Seiten im Grunde nur illustriert und folgerichtig mehr als nur Zweckoptimismus angesichts der Ereignisse in Ägypten Anfang 2011 verbreitet, entwertet jede von ihm gemachte richtige Beobachtung. Tatsachen über die gegenwärtige ägyptische Gesellschaft, die jeder, der sich durch die Ereignisse vom Tahrir-Platz nicht hat dumm machen lassen, wissen könnte – finden sich in Abdel-Samads Buch vom letzten Jahr zuhauf: „Sollte sich eine Ägypterin heute trauen, den Schleier demonstrativ zu heben, würde sie wahrscheinlich von den Massen erdrückt werden, denn dieser ist nicht nur ein religiöses Symbol, das er früher war, sondern ist ein Kampfsymbol geworden. Sollte jemand ein Buch über seinen Glaubensverlust verfassen, verkürzt sich dadurch seine Lebenserwartung“ (a.a.O., 87 f.) Oder: „Viele denken, Demokratie sei eine von oben durchführbare Regulierung. Sie können nicht begreifen, dass die Verfassung, die freien Wahlen und der Parlamentarismus nur Symbole der Demokratie sind und dass die Seele der Demokratie in der Geisteshaltung der Menschen und ihrem Common Sense liegt“ (ebenda, 169). Im Angesicht der Massenproteste Anfang 2011 hat sich Abdel-Samad offensichtlich nicht nur dafür entschieden, kein Wort mehr über ägyptische Lebenserwartung und den Common Sense zu verlieren, sondern die durchschnittliche Geisteshaltung der Ägypter als mit der Demokratie seelenverwandt zu deklarieren.
Dass einer wie Abdel-Samad, den die Unerträglichkeit der autoritären Gesellschaft außer Landes getrieben hat, alles daran setzen wird, jede Regung des Protestes, die auch nur ein Fünkchen Hoffnung auf Besserung versprechen könnte zu unterstützen, ist leicht nachzuvollziehen. Seine penetrante Schönfärberei der ägyptischen Proteste ist so vielleicht in Teilen auch erklärbar. Und dennoch hat er nicht nur den freiwilligen Helfer für all jene gemacht, die hierzulande schon immer wussten, dass Islamkritik ein brandgefährlicher Anschlag auf den Dialog der Kulturen sei, wahre Freiheit die Einordnung in einen Zwangsorganismus bedeute und Demokratie sich dann verwirkliche, wenn eine Menschenmasse die ihrer Natur gemäßen Forderungen skandiert. Auf die vom ZDF gestellte Frage, ob er sein Buch nach den Ereignissen in Tunesien und Ägypten umschreiben müsse, antwortete Abdel-Samad dreist: „Nein, ganz und gar nicht. Die islamische Welt, wie wir sie kannten, ist untergegangen“ (heute.de, a.a.O.). Cem Özdemir und seine Parteifreunde sind nicht die einzigen, die die Botschaft freudig vernommen haben. In der FAZ, in der sich Özdemir als Patrick-Bahners-Fan outete, zeigte der grüne Parteichef auch, dass er von Abdel-Samad gelernt hat: „Die Debatte kann nicht mehr geführt werden, ohne dabei auch an die Revolutionen in Ägypten und Tunesien zu denken. Der laute Ruf nach Demokratie, Freiheit und Teilhabe am Wohlstand in diesen muslimischen Ländern bringt die radikalen Islamkritiker mit ihrer Konstruktion eines vermeintlich unveränderlichen Wesens gehörig in die Bredouille“ (27.05.2011).
Zu Beginn des Jahres 2011 wollte fast niemand mehr genau hinhören und nur noch Rufe nach Demokratie und Freiheit vernehmen. Es nimmt sich merkwürdig aus, dass ausgerechnet einer zur Stimme der Vernunft wurde, von dem man seit 1979 weiß, dass er alles mögliche, nur eben dies nicht sein wollte: Bahman Nirumand. Vermutlich weil ihm das Scheitern der iranischen Linken im Bündnis mit den Mullahs noch erinnerlich ist, scheint ihn die Ahnung beschlichen zu haben, dass sich das Elend in Ägypten wiederholen könnte. Nirumand (3) ist es als einem der ganz wenigen Kommentatoren gelungen, einen eigentlich simplen Gedanken zu Papier zu bringen: „Westliche Medien sprechen von einem Demokratisierungsprozess, ohne genauer zu untersuchen, ob die Voraussetzungen für diese Staatsform in den arabischen Ländern gegeben sind und ob die Massen der Aufständischen ein solches System überhaupt anstreben“ (Taz, 29.03.2011).
Über die Voraussetzungen einer Demokratisierung nachzudenken, setzt das Bedürfnis voraus, das Element der Barbarei an der Kultur selber zu durchdringen, wie Adorno es forderte. Bezogen auf nicht nur die ägyptische, sondern generell die islamische Kultur wäre über ein Phänomen zu reden, für das sich allmählich der Begriff Youth Bulge, zu deutsch: Jugendüberschuss einbürgert. Einige Wikipedia-Autoren haben Auskunft über die Ursachen für den Youth Bulge gegeben: „Die rund 2 Milliarden in islamischen und afrikanischen Staaten lebenden Menschen haben heute einen Anteil von 300 Millionen jungen Männern im Alter von 15 bis 30 Jahren. Diese erhalten aber aufgrund der dortigen Demografie sowie der vielfach desolaten und rückständigen wirtschaftlichen Strukturen keine Möglichkeit, einen für sie hinnehmbaren sozialen Status zu erlangen. Der Grund liegt teilweise in den traditionelleren Gesellschaftsformen zahlreicher Länder der Dritten Welt. Aufgrund der Primogenitur bestehen lediglich für die Erstgeborenen entsprechende gesellschaftliche Aufstiegschancen, die restlichen überschüssigen Nachkommen finden keinen adäquaten Platz in der Gesellschaft, wodurch bei diesen eine große Diskrepanz zwischen individuellem Anspruchsniveau und gesellschaftlicher Realität besteht.“ Macht man das zur Grundlage einer Kritik der dortigen Verhältnisse und zieht daraus nicht wie die Linken den dummen Schluss, dass alles nur eine „soziale Frage“ sei, die vor allem nichts mit dem Islam zu tun habe, dann wäre zu fragen: Wie steht es in Ägypten um die Kritik des Erbfolgeprinzips der Primogenitur, und damit der moslemischen Familientradition? Man kann davon ausgehen, dass eine solche Kritik wohl existiert. Man muss aber ebenso davon ausgehen, dass sie nicht nur marginal ist, sondern dass ihre öffentliche Äußerung ernsthafte Gefahren für Leib und Leben bedeutet, weil das gesellschaftliche Bedürfnis nach wirklicher Revolutionierung der ägyptischen Gesellschaft einfach nicht existiert – auch und gerade nicht bei der Mehrheit derjenigen, die auf dem Tahrir-Platz protestierten. Der angesehene Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hat dagegen stellvertretend für die ganze öffentliche Meinung in Deutschland den Charakter der „Arabellion“ als emanzipative Jugendbewegung verklärt: „Man kann das mit den Jugendbewegungen vergleichen, die sich gegen die Adenauer-Republik richteten. Auch da ging es, wie jetzt in der arabischen Welt, um individuelle Freiheit“ (Taz, 01.06.2011). Von einem Generationskonflikt, der seinen Namen deshalb verdient, weil er auf die individuelle Emanzipation des Einzelnen von Stamm und Sippe zielt, ist aber in Ägypten und anderswo gerade nicht die Rede. Fast alles spricht leider dafür, dass die „große Diskrepanz zwischen individuellem Anspruchsniveau und gesellschaftlicher Realität“, wie die Wikipedia-Autoren es nennen, im Gegensatz zu den Protesten in der BRD der späten 50er und 60er Jahre gegen den Muff von tausend Jahren in etwas anderem besteht. Was beispielsweise die Schwester über den Seelenhaushalt des tunesischen „Märtyrers“ durch Selbstverbrennung, Mohammed Buazizis berichtet, hätte deshalb ohne weiteres auch die Beschreibung der Lebenswirklichkeit eines durchschnittlichen männlichen Vertreters des Youth Bulge in Ägypten sein können: „Umgerechnet zwischen drei und fünf Euro brachte Mohammed abends vom Obstverkauf heim, davon lebten die Mutter und fünf Geschwister. Der Vater ist vor langer Zeit gestorben. An die Gründung einer eigenen Familie konnte Mohammed nicht denken. Er hatte nicht das Geld, eine Hochzeit und die nötige Aussteuer zu bezahlen“ (Spiegel online, 23.01.2011). Mit anderen Worten: nicht anders leben zu wollen als die Eltern, sondern nicht so leben zu können wie sie, darin besteht „die große Diskrepanz“, die keine ist, weil sie sich in der Konsequenz als das Bedürfnis nach Fortführung des Bestehenden entpuppt – als fehlende Sehnsucht nach dem Bruch mit der gesellschaftlich konstitutiven Tradition, die der Islam verkörpert und in der bei der Stiftung von Ehen das gegenseitige Ja-Wort der Brautleute auf der Hochzeit die geringste Bedeutung zukommt.
Revolutionär zu nennen wäre deshalb einzig das, was bisher unterblieb, oder besser: auf Grund der gesellschaftlichen Verfasstheit unterbleiben musste und auch nach Mubaraks Herrschaft nicht beendet ist: der Protest gegen den Muff von tausend Jahren, den es in Ägypten auf dem Tahrir-Platz maximal hinter vorgehaltener Hand gegeben haben dürfte.
Über eine Umwälzung der ägyptischen Verhältnisse ganz im Sinne des Kommunistischen Manifestes, also darüber, wie man das Feudale, Patriarchale und Idyllische zerstören kann, hat sich als einzige in Deutschland die FAZ in ihrer Konsequenz sogar revolutionäre Gedanken gemacht. Auch die Zeitung für Deutschland stellte sich die Frage: „Warum sind die Ägypter nur so arm?“ Die Antworten bestanden nicht aus den üblichen ideologischen Textbausteinen von A wie Ausbeutung über K wie Kolonialismus und Kapitalismus bis Z wie Zionismus, sondern wurden aus dem Vergleich mit einer weit im Osten angesiedelten Gesellschaft gewonnen: „Vor 50 Jahren gab es ein Land, das der arabischen Großmacht in den meisten wichtigen Daten glich: Südkorea. Die asiatische Republik hatte ungefähr genauso viele Einwohner, deren Anzahl im gleichen Tempo wuchs. Die Leute waren genauso arm wie die Ägypter, sie litten ebenso unter einer Diktatur und hohen Militärausgaben. Heute ist Südkorea eine technologiegetriebene Industriemacht, die Südkoreaner sind fünfmal so reich wie die Ägypter, sie leben zehn Jahre länger, und das in einer echten Demokratie. […] Südkoreas Führung propagierte seit den sechziger Jahren erfolgreich kleine Familien. […] Diese Politik brachte Südkorea die sogenannte demografische Dividende: Familien und der Staat mussten weniger in Kinder investieren. Das asiatische Land profitierte aufgrund stärkerer Kapitalbildung und niedrigerer Kosten für wirtschaftlich abhängige Altersgruppen von einem sprunghaften Anstieg des nationalen Einkommens. […] Die Folgen sind frappierend: Südkorea schafft es, seine jungen Bürger in Lohn und Brot zu bringen, in Ägypten ist die Söhne- und Töchter-Generation von Arbeits- und Perspektivlosigkeit bedroht und auf die Schattenwirtschaft zurückgeworfen“ (06.02.2011).
Angesichts eines solchen Sieges über den Youth Bulge und den ihn bedingenden gesellschaftlichen Muff von einer südkoreanischen Revolution zu sprechen, wäre übertrieben. Aber was dort gelungen ist, wäre gegen alle Revolutionsromantiker als der unhintergehbare Anspruch an jeden Protest im Nahen Osten einzuwenden.
Sören Pünjer (Bahamas 62 / 2011)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.