Fragt man einen durchschnittlichen Weißen, welches Bild sich ihm beim Wort Sklaverei aufdrängt, wird er vermutlich an einen in Ketten gelegten Schwarzafrikaner oder Afroamerikaner denken, der von einem weißen Sklavenhalter gedemütigt wird. Einem durchschnittlichen Schwarzen wird es nicht anders gehen: Weiße sind Täter der Sklaverei, Schwarze ihre Opfer. So scheint es allerorts und immer gewesen zu sein. Und so hat es zu bleiben. Dieser Schwarz-Weiß-Sicht, die Weiße und Schwarze eint, entspricht eine „afrikanische Gedächtnispolitik besonderer Art“: „In Wydah, dem großen Hafen für die Sklavenexporte im Benin, steht ein Denkmal, das Tor der ‚Nimmer-Wiederkehr‘: ein Relief zeigt zwei lange Kolonnen von gefesselten Menschen, die der Küste und ihrem Schicksal jenseits des Atlantiks entgegengehen. Denkmale zeigen; aber sie verschweigen auch. Denn nirgendwo stehen Monumente für den riesigen Teil versklavter Afrikaner, welcher nicht exportiert wurde, sondern in den großen Versklaverstaaten verblieb. Und wo sind die Denkmale für den Export in die islamische Welt? Für die verschleppten 9 Millionen, welche durch die Sahara verschleppt wurden, die mindestens 8 Millionen, die über den indischen Ozean und das Rote Meer gingen? Dieses Thema ist tabuisiert. Doch indem man jene 17 Millionen Versklavte leugnet, spricht man ihnen den Status ab, ebenso Opfer zu sein wie ihre 11 Millionen Leidgenossen. […] Das Leugnen geht jedoch noch viel weiter: Verschwiegen wird, dass es Afrikaner waren, die jene 28 Millionen Exportierten versklavten. […] Afrikanische Intellektuelle bilden eine Einheitsfront einträchtigen Leugnens, um der westlichen Kultur die Schuld an der Sklaverei zu geben. Inzwischen geht diese Schuldzuweisung mit der Forderung nach Reparationen einher. Groteskerweise sind es großenteils die Angehörigen der ehemaligen Versklaver-Ethnien, die heute die Opferrolle spielen. Auf der Durban-Konferenz 2001 forderte Ali Mohamed Osman Yasin Reparationen vom Westen, als Justizminister des Sudan – wo Schwarze seit über 20 Jahren erneut versklavt werden.“ (1)
Sklaverei – das könnte man wissen – gibt es, seit Menschen Geschichte überliefern. So selbstverständlich sie den Menschen über Jahrtausende erschien, so wenig gibt es ontologisierbare oder rassifizierbare Täter- und Opferkollektive. Der in kriegerischen Auseinandersetzungen überlegene Menschenverbund versklavte die Mitglieder des unterlegenen. Niemand wurde gern versklavt. Auf die Idee, die Sklaverei als solche in Frage zu stellen, kam deswegen aber noch lange keiner. Die Institution glich einem Naturgesetz. Wenn darum in der Geschichte der Sklaverei irgendetwas überhaupt spezifisch „weiß“ sein sollte, dann ist es weder die Erfindung der Sklaverei noch eine periodische Täterschaft, sondern im Gegenteil: ihre grundsätzliche Ächtung (die sich erstmals in den Schriften der Juden, die heute als „weiß“ gelten, später auch der Christen findet) und ihre Abschaffung, bei der die Ideen der Aufklärung und der christliche Abolitionismus eine entscheidende Rolle spielten. Und beseitigt haben die damaligen Kolonialmächte die Sklaverei nicht nur auf ihren angestammten Territorien. Soweit die Versklavung von Schwarzafrikanern durch Araber und Schwarze auf dem afrikanischen Kontinent im 19. und 20. Jahrhundert ein Ende fand, wurde dieses von „den Weißen“ militärisch herbeigeführt. Exklusiv „weiß“ wären zudem das schlechte Gewissen des durchschnittlichen Weißen und seine tendenzielle Bereitschaft, Schuld und Verantwortung für die gesamte Geschichte der Sklaverei auf sich zu nehmen. Das mag dem einen oder anderen Schwarzen oder Araber gefallen, weil er als Demutsgeste deutet, was immer auch ein Stück Sündenstolz ist.
Der durchschnittliche Weiße und der durchschnittliche Schwarze waren jedenfalls Experten des kritischen Weißseins, lange bevor Critical Whiteness als akademische Disziplin die Universitäten des Westens eroberte und die radikalen Linken zu begeistern verstand. Die schwarz-weiße Weltsicht, die dort mit Bezug auf Edward W. Said und Frantz Fanon gelehrt und gelernt wird, dass die Weißen kategorisch die rassistischen (weil orientalistischen) Täter, die nicht-weißen People of Colour (PoC) dagegen die Objekte der Geschichte und damit vorrangig deren Opfer seien, ist zweifellos recht primitiv und blamiert sich an der geschichtlichen Realität, die doch etwas grauer ist. Wer deshalb meint, es bei den gegenwärtigen Verfechtern dieser Ideologie mit aufklärungsbedürftigen Dummköpfen zu tun zu haben, deren Gefolgschaft man in die Bredouille bringen oder auch nur vorführen könnte, indem man die eklatanten Widersprüche ihrer Textproduktion in sich selbst und zur Wirklichkeit herausstellte, hat jedoch immer noch nicht verstanden, was eigentlich passiert ist, als aus der Kritik des Rassismus der Antirassismus wurde, als – um dem historischen Bruch Symbol und Datum zu geben – die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings im Jahr 1966 Konkurrenz bekam durch die separatistisch-nationalistische Black-Power-Bewegung, in deren Umfeld dann auch die Black Panther Party entstand. Die Zeiten, da Kings „I have a dream“-Rede Telos und Strategie des Kampfes gegen Rassismus vorgab, sind nämlich längst passé. Das macht Kings Traum zum Denkmal für die letzte Kritik des Rassismus: „Vor hundert Jahren unterzeichnete ein großer Amerikaner, in dessen symbolischem Schatten wir heute stehen, die Emanzipationsproklamation. [...] Aber hundert Jahre später ist der Neger immer noch nicht frei. [...] Als die Architekten unserer Republik die großartigen Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung schrieben, unterzeichneten sie einen Schuldschein, zu dessen Einlösung alle Amerikaner berechtigt sein sollten. Dieser Schein enthielt das Versprechen, dass allen Menschen – ja, schwarzen Menschen ebenso wie weißen – die unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und der Anspruch auf Glück garantiert würden. […] Es ist heute offenbar, dass Amerika seinen Verbindlichkeiten nicht nachgekommen ist, soweit es die schwarzen Bürger betrifft. […] Jetzt ist die Zeit, die Versprechungen der Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen. Nun ist es Zeit, aus dem dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung aufzubrechen und den hellen Weg der Gerechtigkeit für alle Rassen zu beschreiten. [...] Der wunderbare, neue kämpferische Geist, der die Gemeinschaft der Neger erfasst hat, darf uns nicht verleiten, allen Weißen zu misstrauen. Denn viele unserer weißen Brüder – das beweist ihre Anwesenheit heute – sind zu der Einsicht gekommen, dass ihre Zukunft mit der unseren untrennbar verbunden ist. Sie sind zu der Einsicht gelangt, dass ihre Freiheit von unserer Freiheit nicht zu lösen ist. Wir können nicht allein marschieren. [...] Heute sage ich euch, meine Freunde, trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum: Dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: ‚Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind.‘ [...] Ich habe einen Traum: Dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. [...] Wenn wir die Stimme der Freiheit erschallen lassen – wenn wir sie erschallen lassen von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat und jeder Großstadt, dann werden wir den Tag eher erleben können, an dem alle Kinder Gottes – schwarze und weiße Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken – sich die Hände reichen.“
Damit können Antirassisten überhaupt nichts anfangen. Und zwar nicht deshalb, weil hier noch ganz selbstverständlich das Wort Neger verwendet wird. Man lasse sich nicht davon beeindrucken, wenn antirassistische PoCs und ihr weißer Anhang aus dem Critical-Whiteness-Umfeld, wie im April dieses Jahres geschehen, eine von der Taz organisierte Diskussionsveranstaltung in Berlin zu sprengen versuchen, indem sie in dem Moment, als Moderator Deniz Yücel aus Kings Rede vorliest, wie hysterische kleine Kinder herumplärren, dass er das N-Wort nicht mit vorlesen dürfe, weil sie das verletze. Denn grundsätzlich geht es darum, dass Kings Kampf gegen Rassismus offensichtlich dem Geist von Aufklärung, Universalismus und Versöhnung verpflichtet war, während diese Ideen vom Antirassismus ja gerade als „weiß“ bekämpft werden. Die Stichwortgeber des weltweiten antirassistischen Aufstands der Subalternen heißen denn auch nicht zufällig Mussolini und Hitler. Auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, ist keine Übertreibung, sondern eine Notwendigkeit, wenn damit aufgehört werden soll, dem Antirassismus Motive zu unterstellen, die er nicht hat. So heißt es bei Mussolini: „Alles, was ich in diesen letzten Jahren gesagt und getan habe, ist Relativismus aufgrund von Intuition. Wenn Relativismus Verachtung für feste Kategorien und diejenigen, die die Träger der objektiven und unsterblichen Wahrheit zu sein behaupten, bedeutet, [...] dann gibt es nichts Relativistischeres als die faschistische Haltung und Aktivität. [...] Ausgehend von der Tatsache, dass alle Ideologien den gleichen Wert haben, dass alle Ideologien bloße Fiktionen sind, kommt der moderne Relativist zu der Einsicht, dass jeder das Recht hat, seine eigene Ideologie zu erschaffen und zu versuchen sie mit aller Energie, die ihm zur Verfügung steht, durchzusetzen.“ – Und Hitler wusste: „Es gibt nicht so etwas wie Wahrheit. Wissenschaft ist ein gesellschaftliches Phänomen und wie jedes gesellschaftliche Phänomen ist es durch das Wohl oder den Schaden begrenzt, den es der Gemeinschaft verschafft.“ (2)
Auch Mussolini und Hitler waren keine Dummköpfe. Ein Dummkopf dagegen war, wer meinte, ihnen vorrechnen zu müssen, dass z. B. die von ihnen konstruierten Geschichten des italienischen oder deutschen Volkes Mythen sind, die mit der Realgeschichte nichts zu tun haben. Denn das hätten sie nie bestritten. Zum mythologischen Charakter ihrer Erzählungen haben sie sich schließlich offen bekannt. Wichtig war ihnen, dass diese „Fiktionen“ der jeweiligen, erst mittels der Mythen zu konstituierenden Gemeinschaft nützen, und dass sie die ideologische und militärische Macht haben, sie als ihre Wahrheit durchzusetzen. Es ist daher eben nicht bloß strukturell ähnlich, sondern exakt dasselbe, wenn es für Antirassisten keine objektive Geschichte des israelisch-arabischen Konfliktes gibt, sondern lediglich israelische und palästinensische „Narrative“, die den gleichen Wert haben, oder wenn die Palästinenser am israelischen „Narrativ“ nicht die Frage seiner Wahrheit oder Unwahrheit interessiert, sondern, ob sie die Kraft aufbringen können, es zu beseitigen. In diesem Sinne wollen auch die schwarzen Antirassisten nicht, wie noch King, dass man ihre Hautfarbe übersieht und sie nach ihrem individuellen Charakter beurteilt. Im Gegenteil: Die schwarze Haut soll ein Sprechort sein, eine Perspektive bzw. Situiertheit repräsentieren, die in antirassistischen Belangen (und darüber hinaus) allein schon Wahrheit verbürgt. Statt auf Integration und Verbrüderung mit Weißen setzte beispielsweise schon Marcus Garvey – Inspirator für die spätere Nation of Islam und mit Malcolm X dann auch für die Black-Power-Bewegung – in den zwanziger Jahren auf Segregation und eine Kooperation mit dem Ku-Klux-Klan. Im Ergebnis wird heute nicht nur allen Weißen misstraut, die sich noch nicht zum kritischen Weißsein durchgerungen haben, sondern allem vorgeblich Weißen: der Logik etwa, und erst recht der Vernunft.
Auch wenn Hitler und Mussolini auf gewisse Motive bei Nietzsche zurückgriffen, dessen Perspektivismus Postmodernisten wie Foucault so begeisterte, dürften sie durchaus das Copyright für Konzepte subalterner Definitionsmacht beanspruchen. Wo sich Nietzsches sprachkritische Demontage aller absoluten Wahrheitsansprüche, etwa in „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, zumindest einem, wie auch immer fragwürdigen, negativen Begriff der Wahrheit und einer Apologie des Scheins als Gegenentwurf zur empirischen Wirklichkeit verdankte, stehen Hitler, Mussolini und ihre postmodernen Erben ohne sprachkritische Skrupel zur Relativität ihres gleichwohl mit brutalster „Energie“ zum Prinzip der Wirklichkeit erhobenen jeweiligen „Sprechort“. Es ist daher vollkommen unsinnig, Leuten, die sich heute, wie einst Mussolini und Hitler, ganz offen vom Universalismus und vom Ideal rationaler Argumentation verabschieden, um sich selbstbewusst zur Produktion von Mythen und „Fiktionen“ zu bekennen, mit Vernunft, logischer Konsistenz und Geschichte beikommen zu wollen.
Die Stärke des politischen Voluntarismus ist allerdings zugleich auch seine Schwäche. Denn nach außen kann sich die Bewegung der Subalternen zwar erfolgreich gegen jeden Einwand der Vernunft, gegen jede Kritik abdichten. Keine Wahrheit ist wasserdichter als die, die dem eigenen Sosein, der eigenen Perspektive ontologisch entspringt, und deren einziges Kriterium die Macht ist, die eigene Definition zu verwirklichen. Nach innen stellt sich damit den Antirassisten aber das gleiche Problem der Geschlossenheit wie den Nationalsozialisten. Dass „jeder das Recht hat, seine eigene Ideologie zu erschaffen und zu versuchen sie mit aller Energie, die ihm zur Verfügung steht, durchzusetzen“, gilt schließlich prinzipiell und tendenziell für jedes einzelne Mitglied der Bewegung. Da man die Voraussetzung jeglichen Streits – Universalismus, logische Konsistenz, Realitätsbezug – eskamotiert hat, kann das Kriterium, im inneren Zwist zu entscheiden, etwa darüber, wann genau etwas Rassismus sei und wie und an wem er am effektivsten zu bekämpfen wäre, auch bloß Macht oder pure Gewalt sein. Wie der nationalsozialistische Unstaat zerfällt daher auch die antirassistische Bewegung in Rackets, die nicht miteinander diskutieren können, weil dazu jede Basis fehlt, sich folglich also bekriegen müssen.
So hat ein inzwischen aufgelöster militanter Stoßtrupp des Berliner Kritischen-Weißsein-Milieus namens Reclaim Society (rs!) im Frühsommer 2012 eine Ausstellung der antirassistischen Zusammenschlüsse „Bündnis Aktiver Fußball Fans“ (BAFF) und siempra antifascista gewalttätig angegriffen, indem Ausstellungstafeln zerstört wurden, die auf den grassierenden Antisemitismus und Rassismus in den deutschen Ligen hinwiesen. Dieses Vorgehen wurde im Nachhinein mit „re-traumatisierenden Gewalterfahrungen“ begründet, die die entsprechenden Fotos bei den Betrachtern evozierten. Sogar ein dieser Bande zugehöriger Weißer sah sich von den Bildern rassistisch traumatisiert und parierte die ungläubige Nachfrage der Veranstalter, wie das denn möglich sei, damit, dass Identität nun einmal eine Frage der Positionierung sei und er sich eben als PoC identifiziere. In der Stellungnahme von rs! heißt es hierzu: „Tobi (positioniert sich als Person of Color im deutschem Kontext und wird typisiert gelesen) [...] daraufhin hat sich eine externe von uns als ‘weiß’ und frauisiert gelesene Person in die Gruppe eingemischt, auf Tobi gezeigt und gesagt, dass er doch auch ‚weiß‘ sei. Dieses Verhalten wurde von rs! als grenzüberschreitend wahrgenommen. Tobi erklärte der besagten Person kurz das Konzept von ‚weiß‘sein, dass ‚weiß‘ keine Hautfarbe sondern eine soziale Position sei.“ (3)
Kurz darauf sprengten dieselben Leute das antirassistische No-Border-Camp in Köln mit wilden Rassismusvorwürfen, die nie begründet wurden, mit dem Hinweis, dass die Explikation des Rassismus bzw. des rassistischen Meinens oder Handelns eben nicht Aufgabe der von Rassismus Betroffenen sein dürfe, diese aber sehr wohl allein darüber befänden, was Rassismus sei. Die Kehrseite des Prinzips „Weiß sein, Schnauze halten“ ist die Ermächtigung kritischen Weißseins zum Erteilen von Redeverboten, wie die Jungle World in einem Artikel zum No-Border-Camp am 26.07.2012 zu berichten weiß: „Bei vielen Flüchtlingsaktivisten kamen die Interventionen der PoC hingegen schlecht an. ‚Die haben eine autoritäre Art, Positionen durchzudrücken‘, sagt der aus Nigeria stammende Rex Osa vom The Voice Refugee Forum. ‚Sie haben eine Atmosphäre geschaffen, in der sie die Leute moralisch als Geiseln halten. Viele Deutsche haben Angst gekriegt, als Rassisten zu gelten.‘ Sogar er selbst habe sich unter Druck gesetzt gefühlt. Denn als Osa im Abschlussplenum von Opfern des Rassismus sprach, wurde er mit Verweis auf ‚herrschaftssensible Sprache‘ von einer ‚kritischen Weißen‘ belehrt, dass es ‚negativ von Rassismus Betroffene‘ heißen müsse.“
Auch mit der unter weißen Antirassisten weitverbreiteten Unart, sich die Symbole der Kämpfe nicht-weißer Subalterner anzueignen, hatte rs! ein Problem. Nicht, weil etwa der Palästinenserlappen objektiv das Bluttuch des Judenmords ist, sondern weil die „white appropriation of PoC/ Black and Anticolonial [...] resistance symbols“ – wie Dreadlocks, Che Guevara- oder Black-Power-Symbole, Maori-Tattoos, Mohawks und eben die Keffiyeh – „kulturelle[n] Kannibalismus“ ausdrückten, mithin eine neokoloniale Aneignung originärer Widerstandssymbole schwarzer oder bunter Menschen gegen weißen Kolonialismus und Imperialismus seien. Daraus folgt: „It is impossible to stop being white – whites internalise (subtil) mechanisms of excercising white supremacy. Consequently whites cannot be antiracist, but only racism-critical.“ (4)
Irgendwie ahnt man in der antirassistischen Welt, dass einem mit den Interventionen von rs! und überhaupt von der Critical-Whiteness-Ideologie nahestehenden PoCs und Weißen ein hausgemachtes Problem auf die Füße fällt. Stellvertretend heißt es in einer Stellungnahme der Antifa Friedrichshain zur Camp-Pleite in Köln unter dem Titel „Spalten wie die Profis?“: „Was wir aus Spektren wie dem RS erleben ist, wie per Definitionsmacht Genoss_innen auf Grund der Verwendung ‚falscher‘ Begriffe zu Rassist_innen und persona non grata erklärt werden, die nach ihrem ‚gewaltsamen‘ Auftreten (wie das Verwenden des Begriffes ‚Flüchtling‘) ohne Diskussion ausgeschlossen werden sollen. Treffend bemerkte ein Genosse, dass hier ein Klima geschaffen wurde, in dem es nur noch darauf ankam, wer als erstes ‚den Vorwurf zog‘ (wie in einem Western), und daraufhin der beschuldigten Person jeder Handlungsspielraum genommen wurde. Eine Atmosphäre totaler Paranoia wurde konstruiert. So einen Quatsch machen wir nicht mit und wehren uns gegen die schwerwiegende Bagatellisierung rassistischer Gewalt.“ (5)
Wäre diese Reflexion mehr als bloß Pose, müsste sie nicht nur auch die schwerwiegende Bagatellisierung tatsächlicher Vergewaltigungen durch die antisexistische Definitionsmacht zum Gegenstand der Kritik machen, sondern daraus auch die Konsequenz ziehen, das Konzept der Definitionsmacht als solches über Bord zu werfen und zum Universalismus zurückzukehren. Stattdessen soll die Definitionsmacht vor ihrem Missbrauch gerettet werden, als bestände ihr Wesen nicht gerade darin, zwischen richtigem Gebrauch und Missbrauch eben nicht unterscheiden zu können. In der Sprache von Politikern und Pädagogen heißt es deshalb: „Das Konzept der Definitionsmacht funktioniert nur, wenn es einen verantwortungsbewussten Umgang gibt.“
Entsprechend hilflos liest sich auch die gesamte linke Kritik an Critical Whiteness, deren Tenor lautet: An sich sei kritisches Weißsein zwar eine vernünftige Angelegenheit, der Ansatz sei aber leider von Hasardeuren gekapert worden, die zudem viel zu akademisch daherschwadronierten, denn die „neurotische Sprachobservierung“ sei Ausdruck davon, dass keine „authentische“ Verbindung zu migrantischen Milieus bzw. zu politischen und bewegungslinken Kämpfen bestehe. (6) Der „verantwortungsbewusste Umgang“ mit der Definitionsmacht bedeutet im Zweifel also nicht mehr als die „authentischen“ Verbindungen – und damit wieder Macht statt Wahrheit – auf bessere Weise herzustellen und „den Vorwurf“ das nächste Mal einfach vor den anderen zu ziehen, wie es etwa gegen antideutsche und andere Islamkritiker von denselben traditionellen Antiras vorexerziert wurde, die sich jetzt über die Aneignung dieser Praxis seitens der PoCs aufregen.
Natürlich lassen sich die innerhalb des Antirassismus mit der Propaganda des Relativismus notwendig aufbrechenden Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Rackets mit nebulösen Appellen an einen „verantwortungsbewussten Umgang“ mit der Definitionsmacht nicht zukleistern. Wie beim Nationalsozialismus bedarf es dazu einer Feindbestimmung, auf die sich alle Antirassisten, PoCs und kritische Weiße international einigen können. Entsprechend bieten sich auch dem Antirassismus die Juden als Feind an, sind diese doch, unabhängig von ihrer Hautfarbe, irgendwie „weiß“ und damit den Herrschenden zuzuschlagen, zugleich aber als „Minderheit der Minderheiten“ leicht angreifbar. Das birgt einen doppelten Vorteil. Im Hass auf die Juden ließen sich zum einen schon seit jeher Rassen- und Ideologiekonflikte vorübergehend beschwichtigen, zum anderen erscheinen sie als diejenigen, welche aufgrund der Shoah als Kulminationspunkt antisemitischer Verfolgung jenen Opferstatus innehaben, um den man sie beneidet, weil man ihn für sich selbst noch da reklamiert, wo man auch Täter war und ist – wie in der als „Black Holocaust“ mythologisierten Geschichte der Sklaverei. Dieser spezifisch antirassistische Judenhass muss längst nicht mehr umständlich nachgewiesen werden, er artikuliert sich allerorten offen und selbstbewusst.
Vasillis Tsianos etwa, ehemaliges Mitglied von Kanak Attak und nunmehr Migrationssoziologe in Hamburg, der Selbstbeschreibung nach ein „philosemitischer Antizionist“ – eine, wie der Querdenker nachschiebt, „schwierige Position in Deutschland als Linker“ –, gibt in Konkret nicht nur beredtsam Auskunft über seine synästhetischen Jedi-Ritter-Qualitäten: „Vom Gefühl her weiß ich immer, wann wir es mit Rassismus zu tun haben. Rassismus fühlt sich sehr kalt an.“ Er fügt auch hinzu, dass die „Aufklärung [...] nicht unbedingt das beste Produkt (ist), das die Europäer in die Welt gesetzt haben“, und dass es „viele Universalismen“ gibt, „vor allem die Universalismen der postkolonialen Welten, [...] die überall dort, wo konkrete emanzipatorische Projekte von Subalternen unterdrückt werden, [entstehen], und sich trotzdem als Erinnerungspolitiken behaupten.“ Erinnerungspolitiken sind nämlich auch bloß gleichberechtigte Narrative, die sich allein gemäß subalternen und solchen des Mainstreams, die es zu attackieren gilt, unterscheiden lassen. So sei der philosemitische Mythos des deutschen Schulsystems verantwortlich für den Antisemitismus vieler Migranten: „Deutschland ist ein Land, wo aus historisch absolut nachvollziehbaren Gründen der Philosemitismus zur Staatsdoktrin und zum Bestandteil der ideologischen Staatsapparate geworden ist, wo sich Generationen von deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen im Geschichtsunterricht langweilen und sich auf eine bestimmte Art – und zwar im Kontext der Schule mit den Mitteln der Disziplinarpolitik durchgesetzte – kontinentaleuropäische Weise mit dem Holocaust auseinandersetzen. Es gibt nicht die andere – transnationale – Erinnerungspolitik, die zum Beispiel auch die Vertreibungserinnerung der palästinensischen Familien, die in Deutschland leben, thematisiert. Der Antisemitismus vieler migrantischer Jugendlicher in Deutschland hat mit dem deutschen Schulsystem, hat mit einer bestimmten Erinnerungspolitik zu tun, die nicht imstande ist, die transnationalen Erinnerungspolitiken der Minderheiten in Deutschland mit einzubeziehen.“ Ähnliches gelte für den Antisemitismus der Hamas, auf den diese Organisation ohnehin „nicht eindeutig“ reduziert werden könne, weil es „Führungskämpfe ganz unterschiedlicher Fraktionen“, „reformorientierte Teile dieser Bewegungen“ gebe. Vor allem aber müssten der „offene Antisemitismus“ und „die autoritären Strukturen und Praktiken“ der Hamas „in einem Verhältnis gesehen werden zu der Gewalt, mit der sie zu tun haben. Und das ist die Gewalt eines Vertreters des US-Imperialismus vor Ort und eine Situation der sozialen Apartheid in Israel“.
Damit trifft der Migrationssoziologe durchaus den Kern der Sache, denn wann hat sich der Antisemitismus jemals als etwas anderes verstanden denn als eine Notwehrmaßnahme von Subalternen gegen die Übermacht der Juden? Und den Subalternen gebührt nun einmal die antirassistische Solidarität im Kampf der Perspektiven: „Kritik muss die Perspektive der Subalternen annehmen. Kritisches Denken ist nicht an sich emanzipativ. Kritik ist eigentlich – das Problem habe ich auch mit der Kritischen Theorie in Deutschland – erstmal eine Form der Distanzierung, sie muss Gegenstand der Analyse selbst sein, sie bedarf der Situierung. [...] Letztendlich geht es darum, eine universalismenorientierte plebejische Globalperspektive zu entwickeln.“ (7)
Diese Identifikation mit den Subalternen beinhaltet notwendig zumindest Verständnis für den Judenmord in seiner modernsten Form: für das Suizid-Attentat. Dazu musste man sich etwa an der Humboldt-Universität – in Deutschland eben – erst über eine Erinnerungspolitik ermächtigen, die die Reflexion über die Shoah als mehr oder weniger persönliches und selbstquälerisches Abarbeiten an den Täter-Ahnen inszeniert. Erst nachdem etwa Christina von Braun, Gründerin der Berliner Gender Studies und frühe Supporterin der Critical Whiteness, mit ihrem Onkel, Hitlers Raketenbauer Wernher von Braun, fertig war, konnte sie denn auch aus ihrer Situiertheit ein wenig ausbrechen, den Blick aus ihrer Wohnung auf einen jüdischen Friedhof richtig genießen und mit ihrer Kollegin Bettina Mathes die Terroranschläge vom 11. September als Ausdruck subalternen Widerstands lesen, weil „die Terroristen des 11. September [...] ihr Verhalten der Zeichenhaftigkeit des Geldes angepasst“ hätten, der Anschlag also „mehr von der Ausbreitung des westlichen Denkens als von einer dem Islam inhärenten Gewalttätigkeit erzählt. Aber eben weildie ‚Ordnung des Symbols‘ den Orient erfasst hat, regt sich auch Widerstand dagegen.“ (8) Claudia Brunner, Ziehtochter Christina von Brauns, war nach der Beschäftigung mit ihrem Onkel Alois Brunner, der als rechte Hand Adolf Eichmanns für die Ermordung von mehr als 100.000 Juden verantwortlich zeichnet, endlich dazu befreit, palästinensische Selbstmordattentäterinnen in ihrer Diplomarbeit von 2002 zu „Hoffnungsträgerinnen“ für „eine qualitative Veränderung und Verbesserung des israelisch-palästinensischen Verhältnisses“ zu erklären, jedenfalls sofern man den „potentiellen Selbstmordattentäterinnen als Menschen mit ihrer Würde und ihren Rechten“ begegne. Auch 2007 geht es ihr – im Rahmen der in der HU abgehaltenen Konferenz Dekonstruktionen des Okzidentalismus. Eine geschlechter-kritische Intervention in die Herstellung des Eigenen am Anderen – nicht zuletzt darum, am Terrorismus „den Raum für die Diskussion über die (Nicht-)Legitimität politischer Gewalt offen zu halten.“ Ein Thema, das sie für ihre Doktorarbeit 2011 wieder aufgriff. (9) Diese Arbeit über die Legitimität des Judenmords wurde von Antje Lann Hornscheidt, die, wie auch Brunner selbst, eine der treibenden Kräfte der Critical Whiteness im akademischen Betrieb ist, sowie von der linken Wiener Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer betreut und gewann im vergangenen Jahr den Caroline-von-Humboldt-Preis, der jährlich an „exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen der Humboldt-Universität für herausragende Forschung“ verliehen wird – dem Gendermainstreaming wegen ausschließlich an Frauen.
Die Beiträge besagter Konferenz finden sich in dem von den Kritischen Weißseinsforscherinnen Gabriele Dietze, Claudia Brunner und Edith Wenzel herausgegebenen Sammelband Kritik des Okzidentalismus (2009). Außerdem enthält das Buch einen Text der Queercrip-Theoretikerin Jasbir Puar von der Rutgers Universität in New Jersey, die im vergangenen Jahr den Edward Said Chair for American Studies an der American University in Beirut innehatte und als Keynote Speaker zur Konferenz geladen war. Sie ist treibende Kraft hinter der Kampagne Boycott, Devestment and Sanctions (BDS) gegen den jüdischen Staat und gilt als die Urheberin des Mythos vom israelischen „Pinkwashing“.
Puar nun hebt in dem im Band nachgedruckten und übersetzten Nachwort ihres Buches Terrorist Assemblages zu folgender Eloge auf palästinensische Suicide Bombers an: „Selbstauslöschung ist die ultimative Form des Widerstands und ironischerweise fungiert sie als Selbstbewahrung, die Bewahrung des symbolischen Selbst, wie sie möglich gemacht wird durch das ‚höchste kulturelle Kapital‘ (Hage 2003: 77) des Martyriums, das Einhauchen von Leben in die Zukunft politischer Kämpfe – ganz und gar kein Zeichen des ‚disinterest in living a meaningful life‘ (ebd.: 74). Wie Hage bemerkt, sind Selbstmordattentärer_innen in dieser begrenzten, aber nichtsdestotrotz eindrücklichen Bedeutungsökonomie ein ‚Zeichen des Lebens‘, das den gewaltvollen Bedingungen der Unmöglichkeit des Lebens entspringt, der ‚impossibility of making a life‘ (ebd.: 77). Dieser Körper erzwingt eine Versöhnung von Gegensätzen durch deren unausweichlichen Zusammensturz – eine perverse Wohnstätte des Widerspruchs. […] Zeitliche Erzählungen des Fortschritts sind auf den Kopf gestellt, wenn Tod und Werden zu Einem verschmelzen: Während der eigene Körper stirbt, wird der eigene Körper die Maske, die Waffe, der/die Selbstmordattentäter_in. Nicht nur entsteht der ballistische Körper ohne visuelle Markierungen, die seine Verwandlung verrieten, sondern er trägt ebenso die ‚Körper der Anderen‘ mit sich. Seine eigene penetrative Energie sendet Metallsplitter und zerrissenes Fleisch hinaus in den Äther. Die Körper-Waffe funktioniert nicht als eine Metapher, auch nicht in der Sphäre der Bedeutung und Epistemologie, sondern zwingt uns, ontologisch erneut zu fragen: Welche Informationen übermittelt der ballistische Körper? Diese Körper, die im Werden begriffen sind, verwischen das Innere und das Äußere, lösen Veränderungen durch Sensation, Wissen durch Widerhallen von Rückstrahlung und Vibration aus. Das Echo ist eine queere Zeitlichkeit – im Wechselkreis von affektiver Information zwischen und inmitten von Wesen, die Abfolge von Reflexion, Wiederholung, Widerhallen und Rückkehr (aber mit einem Unterschied, wie bei der Mimikry) – und es verursacht Wellen der Zukunft, die in die Gegenwart brechen.“ (10)
Wenn der Judenmord ganz unverdruckst als Versöhnung gepriesen wird, dann hat man es offensichtlich mit „Erlösungsantisemitismus“ (Saul Friedländer) in Reinform zu tun – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Rosa-Luxemburg Stiftung finanziert. Die Hoffnung, man könnte die Antirassisten damit vor sich selbst erschrecken lassen, ist bestenfalls naiv. Denn wie die angeführten, willkürlich ausgewählten und schier endlos vorhandenen Beispiele zeigen, ist der Antisemitismus weder Verirrung noch Versehen einzelner Antirassisten, sondern konstitutiv für die Ideologie des Antirassismus und die internationale Solidarität aller Subalternen, was von den Schreibtischtätern auch keineswegs kaschiert wird. Zudem setzt die Möglichkeit, vor sich selbst zu erschrecken, jene Differenz zwischen dem eigenen Selbst und dem Denken voraus, die die Antirassisten glücklich überwunden haben. Darin besteht ihr Wahn, zu dem sie sich bei jeder – von linken Publikumszeitschriften und Stiftungen angebotenen – Gelegenheit bekennen, über den also niemand aufgeklärt werden muss.
Philippe Witzmann / Thomas Maul (Bahamas 67 / 2013)
Frühere Aktivitäten sind im Aktuell-Archiv aufgeführt. Dort gibt es auch einige Audio-Aufnahmen.
Alle bisher erschienenen Ausgaben der Bahamas finden Sie im Heft-Archiv jeweils mit Inhaltsverzeichnis, Editorial und drei online lesbaren Artikeln.