Titelbild des Hefts Nummer 68
Goodbye Lenin!
Heft 68 / Frühjahr 2014
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Refugee Revolution?

Die Flüchtlingsproteste, der Antirassismus und die verrohte Geschichtsphilosophie

„What is your nationality?“ „...I’m a drunkard.“ Humphrey Bogarts Antwort in Casablanca

Den unvermeidbaren „Abschied vom Proletariat“ – wie André Gorz’ griffige Formel 1980 lautete – hat die Linke nie verkraftet. Schon damals hat sie keine auch nur einigermaßen schlüssige Antwort geben können auf die nachproletarische Lebensrealität Europas – und ist heute weiter denn je davon entfernt, überhaupt wenigstens noch ihr eigenes Dilemma damit und darinnen zu thematisieren. Ein Dilemma, das Gorz bereits antizipierte, als er damals von der heraufziehenden „Nicht-Gesellschaft“ sprach, ohne sich jedoch der damit drohenden Archaisierung aus zweiter Hand, der Retribalisierung nicht nur an den Rändern der Städte bewusst zu sein: „Diese Idee [vom Proletariat; U.K.] ist heute so obsolet wie das Proletariat selber, da anstelle des produktiven Gesamtarbeiters eine Nicht-Klasse von Nicht-Arbeitern entsteht, die im Schoße der gegenwärtigen Gesellschaft eine Nicht-Gesellschaft ankündigt […] Die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter umfasst die Gesamtheit der Überzähligen der gesellschaftlichen Produktion: gegenwärtig und virtuell, permanent und zeitweilig, total und partiell Arbeitslose.“ (1)

Der gewünschte politische Bezug auf diese „Gesamtheit“ aber war von je illusionär: Die scheinbar mögliche Vereinheitlichung rührt allein vom „Nicht“, kann nur durch den negativen Bezug auf die industriell geprägte Arbeit überhaupt konzipiert werden; deshalb zerfiel kurz nach der Idee vom Proletariat auch die Gegenidee der „Nicht-Klasse“. Die Selbstorganisation der Überzähligen erweist sich heute tatsächlich als Selbstorganisation des unmittelbaren Überlebens oder Fortkommens – je nachdem, ob es sich um Rackets in Neukölln oder an der Universität handelt. Das Handeln und Denken ihrer Mitglieder ist auf die totale Immanenz geeicht und verschlossen gegen die Vorstellung, dass mit der produktiven Arbeit auch die Herrschaft über sie abgeschafft werden könnte. Transzendenz, auf die Gorz als häretischer Marxist noch gehofft hatte, ist undenkbar geworden. Schließlich erscheint die Welt jetzt nicht mehr als Produkt (dadurch mit der Möglichkeit einer erinnerbaren Geschichte und einer offenen Zukunft versehen), sondern als andauerndes Jetzt, als reines Diesseits, schlicht gesagt: als Beute.

Heimat und Volk

Der quasi-animalische Kampf, der um sie entbrennt, wird heute, gut 30 Jahre nach Gorz’ Manifest, etwa vom Autorenkollektiv „Unsichtbares Komitee“ als „Kommender Aufstand“ glorifiziert, der seine Begründung allein à la Nietzsche als kriegerische Selbstheilungsperspektive einer verweichlichten Welt findet. Derlei hätte einem wie Gorz natürlich in jeder Hinsicht fern gelegen: Er – wie das Gros der neuen Linken – setzte auf Ökologie, die statt des Proletariats nun gleich die ganze Menschheit als Subjekt gesellschaftlicher Transformation im Namen der Natur gewinnen wollte. Der Öko-Sozialismus aber entpuppte sich recht bald als eine spielerische Als-Ob-Neuauflage des völkischen Erwachens, die mit der Erde auch Erdverbundenheit, Heimat, Sauberkeit und Beschränktheit entdeckte und feierte. Und ähnlich ihren historischen Vorläufern entwickelten die grünen Ideologen dabei einen regelrecht antiproletarischen Affekt, der sich heute in Form von Dosenpfand und Ökostrom-Umlage offen und unverschämt als Subventionierung der Eigenheimbesitzer mit Solardach und Weinkeller ausagiert.

Den Abschied vom Proletariat nahmen auch die Autonomen in den achtziger Jahren, allerdings in radikalisierter Variante. Sie rückten in die entstandene revolutionäre Leerstelle endgültig diejenigen, mit denen einst bereits die Bolschewiki das Ausbleiben der Revolution im Westen zumindest teilweise zu kompensieren trachteten: Die „unterdrückten Völker der ganzen Welt“ nämlich, die die Komintern ihren ursprünglichen Adressaten, den „Proletariern aller Länder“, ab 1920 gleichberechtigt zur Seite stellte. Der späte Stalinismus eines Fanon oder Sartre schließlich rief pauschal die „Verdammten dieser Erde“ an, die von nun ab als zunehmend alleinige Legitimation linken Radikalismus’ dienen sollten. In der Vorstellung einer gegen den Welthegemon USA gerichteten „Trikontinentale“ hoffte man diese Verdammten unter einen Hut zu bringen. (2) Der westliche Linksradikalismus in seiner letzten Blütezeit hing der existentialistischen Phantasmagorie vom „Neuen Menschen“, dem Traumsubjekt „Trikont“, so verzweifelt an, dass Ulrike Meinhof den Kampf der RAF am Ende allein damit legitimierte, dass er dem Imperialismus „im Rahmen der Befreiungskämpfe der Völker der dritten Welt […] in den Rücken fallen kann.“ (3)

Ende der Selbstlegitimation

Nach diesem Muster gab der Antiimperialismus – also die Aufsummierung häufig genug nebulös bleibender Kämpfe in der Peripherie – dem BRD-Linksradikalismus der achtziger Jahre den absolut unverzichtbaren, moralischen Bezugsrahmen. Und dennoch war auch er ein Auslaufmodell, denn vorzeigbare Befreiungsbewegungen und entsprechende Staaten wurden rasch Mangelware. Diesen Mangel kompensierte schließlich der Antirassismus, der den Antiimperialismus kulturalisierte und endgültig entpolitisierte: Nicht mehr galt es nun, Besseres zu erkämpfen, sondern das Andere zu akzeptieren. Das aber wiederum erwies sich auf die Dauer – außerhalb bestimmter Gebiete Ostdeutschlands – als derartig gesellschaftsfähig, dass linke Sinnstiftung damit nicht mehr zu machen war. Denn die Lehre von den zu akzeptierenden Lebenswelten der Anderen samt ihrer „moralischen Ökonomie“, wie die Theoretiker der Zeitschrift Autonomie es genannt hatten, fügte sich doch allzu gut zur von der Sozialpolitik gewünschten Ethnisierung und Partikularisierung der gesellschaftlich Abgehängten.

Der Antirassismus wurde Mainstream, so sehr, dass seine Schutzbefohlenen mittlerweile den deutschen Pop prägen; gewolltes Türk-Deutsch-Kauderwelsch und die entsprechende Gang-Optik sind integraler Bestandteil der diesbezüglichen Bild- und Tonproduktion. Gangsta-Rap wird mittlerweile sogar akademisch geadelt: Im November 2013 wählte die Jury des renommierten Lexikon-Verlages Langenscheidt den Begriff „Babo“ (für „Anführer“) zum Jugendwort des Jahres und bezog sich dabei auf die Refrainzeile „Chabos wissen wer der Babo ist“ des Offenbacher Rappers Haftbefehl (mit bürgerlichem Namen: Aykut Anhan). Aykut weiß natürlich genau, wie Antirassismus geht: Er, der über die „Juden von der Börse“ reimt und in Videos zum Song „Free Palestine“ seine „Chabos“ mit Bazooka-Attrappen fuchteln lässt, verlautbart zugleich, dass er selbstverständlich „nichts gegen Juden habe“ (Welt, 16.4.2012), weil er jede Kultur respektiere – in etwa eben so, wie es auch Eichmann gerne für sich in Anspruch genommen hatte.

Heute sind also der seit Jahrzehnten gewohnten und eingeübten Selbstlegitimation autonom-linker Politik die letzten Reste logischer und moralischer Plausibilität abhanden gekommen. Der Antirassismus ist zur Kenntlichkeit, sprich: Popularität entstellt; der Antiimperialismus ohnehin längst bankrott (und auch dem Antifaschismus klassischen Zuschnitts wird die Legitimation knapp, seit nicht mehr von der Hand zu weisen ist, dass in der Berliner Republik peinlich genau darauf geachtet wird, dass NPD und Stiefelnazis außen vor bleiben müssen, wenn Mob und Elite sich staatstragend verbünden).

Projektionsfläche Flüchtling

Wie ein Weckruf samt Aufputschmittel muss da 2012/13 den zunehmend Desorientierten der absolut berechtigte, ja überfällige Protest der Flüchtlinge gegen ihre Lebensbedingungen – treffender wäre wohl der Ausdruck: Haltungsbedingungen – in Deutschland, insbesondere in Bayern und Sachsen, vorgekommen sein. Schien es doch so, als ob diesmal moralisch absolut einwandfreie Repräsentanten des außerhalb der Metropolen herrschenden Elends dem schon seit Jahren auf Antirassismus und Antifaschismus gebürsteten System endlich die Maske herunterreißen würden. Auch wurden wohl ferne und wehe Erinnerungen wach an die guten, alten Zeiten des militanten Antiimperialismus: Dramatische Hungerstreikaktionen wie im März 2012 in Würzburg, als Hassanzadeh Kalali und Arash Dosthossein sich PR-trächtig die Lippen zunähten, kokettierten mit Bobby Sands und Holger Meins; Protestcamps und Zeltstädte, wie sie ab dem Frühsommer 2012 zunächst in den größeren bayrischen Städten, später auch in Stuttgart, Düsseldorf und Berlin eingerichtet wurden, weckten Guerilla-Lager-Romantik und den Mythos der Protestcamps von Gorleben und Startbahn West; die Besetzung des DGB-Hauses in München im September 2013 (auch wenn es nur der Partykeller war), der Refugee Struggle Congress in München und die Refugees’ Revolution Demonstration in Berlin (beide März 2013) schließlich ließen Vietnam-Kongresse und Notstands-Proteste wieder anklingen.

Ob es nun in der Absicht der iranischen Aktivisten des „Aktionskreis Unabhängiger Non-Citizen Kämpfe“ gelegen hatte, die linke Solidarisierung dadurch anzuheizen, dass sie sich bei jeder Gelegenheit als kommunistische Rebellen auswiesen, oder ob sich einfach zuviel Sehnsucht aufgestaut hatte nach einem Zustand, in dem alles, das System, seine migrantischen Opfer und der Repressionsapparat sich endlich wieder einmal so verhalten würden, wie es das linke Weltbild verlangt – die Projektionsfläche „Flüchtling“ jedenfalls wurde in den zurückliegenden, knapp zwei Jahren mehr als reichlich bespiegelt.

Kaum irgendwo sonst kommt so verdichtet wie in dem Debattentext „Antirassismus muss praktisch werden“ (Jungle World, 23.1.14) zum Ausdruck, dass die Flüchtlinge als Vehikel dienen sollen, den liegen gebliebenen, eigenen Karren wieder flott zu bekommen. Er sei deshalb ausführlich zitiert, weil die entsprechende Wunschliste dabei ebenso umfassend ausfällt wie sie in Hinsicht auf die praktisch-politischen Anliegen der Flüchtlinge unsinnig ist; dennoch oder auch gerade deshalb wird sie im ungeduldigen Duktus eines Forderungskataloges vorgetragen: „Rassismus ist eine gesellschaftskonstituierende Praxis, der Widerstand gegen rassistische Sondergesetze und der Kampf um Aufenthaltsrechte sollten darum endlich auch als soziale Kämpfe verstanden werden. Gerade die Auseinandersetzung um die Unterbringung ist auch Teil der Frage, wie die Stadt aussehen soll, wer an der Stadt partizipiert und wer welches ‚Recht auf Stadt‘ zuerkannt bekommt. Derzeit wird Antirassismus in der Linken mehrheitlich im Kampf gegen Asylgesetze, Bürgermob und Alltagsrassismus praktiziert, vergessen werden dabei oft die ökonomischen, globalen Zusammenhänge. Gerade weil die Auseinandersetzung mit Antirassismus komplex ist, entstehen hier weitaus mehr politische Schnittmengen, als sie sich bei anderen Themen herstellen lassen. Wollen wir Fluchtursachen bekämpfen, müssen wir die bis heute andauernde Ausbeutung des globalen Südens thematisieren. Wenn der Zusammenhang von Krieg und Flucht so offensichtlich ist, dann muss auch das klare Eintreten gegen (deutsche) Militärexpansion wieder Teil antinationaler Politik werden […] Anknüpfungspunkte könnten hier unter anderem Initiativen für Antikolonialismus-Denkmäler oder die ‚War starts here‘-Kampagne sein.“ (4)

Der ganz praktische Vorteil, dass einem bei der Flüchtlingspolitik die Traditionslinken nicht gleich den Rang ablaufen können, weil die zu sehr Rücksicht auf ihre national-soziale Basis in Hellersdorf oder Schneeberg nehmen müssen, bleibt dabei noch unerwähnt. Doch davon abgesehen, gibt es also „Schnittmengen“ und „Anknüpfungspunkte“ zuhauf, um mit ein bisschen interpretatorischem Geschick aus dem Flüchtling, der ironischerweise besonders häufig vor den Gräueln des praktischen Antiimperialismus vor Ort geflohen ist, trotzdem eben zu dem zu machen, wozu Fanon/Sartre einst der stilisierte Muster-Algerier diente: einerseits zum Generaleinspruch gegen das, was man für den Westen hält, zuvörderst das korrumpierende System von Vermittlung durch Tausch und Recht, andererseits zum praktischen Beispiel unmittelbarer Bedürfnisse und ihrer autonomen Wahrnehmung und Durchsetzung. (5) Kurz: zu jenen, die, rein negativ, außerhalb der kapitalen Vermittlungen wie Recht, Markt und Ideologie stehen – dafür aber in Clan, Sippe und Bande verhaftet bleiben.

Das nackte Leben

Dieses Muster ist in der gängigen Theorieproduktion längst eingespielt: Den Flüchtling als Avantgarde des „nackten Lebens“ inmitten des verderbten Westens zu konzipieren, gehört seit mehr als zwei Jahrzehnten zur Quintessenz postmoderner Zivilisationsmüdigkeit, zur üblichen Koketterie mit dem Archaischen. Denn die Rede Agambens, der als Vorzeigedenker des neueren Antirassismus gelten darf, davon, dass das politisch absolut entwertete Leben „des Flüchtlings“ die Souveränität der Nationalstaaten in Frage stelle, ist in keiner Weise empathisch gemeint. Es geht nicht um Verbesserung oder Gleichstellung für die, die ankommen, im Gegenteil: je mehr sich deren Lebensbedingungen denen des „Lagers“ anähnelten, desto authentischer drückten sie, so Agamben, darin die Wahrheit über das moderne Leben aus, das der Bürger samt seiner Rechte verschämt maskiere. (6)

Der Flüchtling und sein Elend werden hier zur politischen Waffe der Entzivilisierung missbraucht und das schon immer ganz offen. In einem in der Liberation 1993 veröffentlichten Text stellte Agamben ausgerechnet die Situation des damals noch nicht durch eine gesicherte Grenze von den Autonomiegebieten getrennten Israels als Vorschein einer nachnationalen, territorialen Ordnung vor, deren Vorreiter und Inbegriff der dauerhafte „Exodus“ aus dem „Nexus von Geburt-Volk“ sei: „An der Stelle zweier Nationalstaaten, die von gefährlichen und bedrohlichen Grenzen getrennt werden, könnte man sich vielleicht zwei politische Gemeinwesen vorstellen, die in ein und derselben Gegend heimisch sind und die ein wechselseitiger Exodus durchquert, verbunden in einer Folge reziproker Extraterritorialitäten, deren Leitbegriff nicht länger das Recht (ius) der Staatsbürgerschaft als vielmehr die Zuflucht (refugium) für den Einzelnen wäre. […] In ähnlicher Art und Weise könnte man Europa betrachten: Europäer oder Europäerin zu sein, hieße dann Exodus, in Bewegung sein. […] In einem solchen neuartigen Raum könnten die europäischen Städte, indem sie Beziehungen wechselseitiger Extraterritorialität zueinander aufbauen, werden, was ihren antiken Vorgängerinnen nachgesagt wird: Städte für alle Welt.“ (deutsch in Jungle World, 4.7.2001)

Der zum Exodus Gezwungene, der Flüchtling, erscheint hier, gerade dadurch dass er auf „nacktes Leben“, auf seine Natur herabgehandelt wurde, nicht nur als wohlfeiles, politisches Ersatzobjekt, sondern auch als Wunschbild einer durch und durch mobilisierten Gesellschaft. Hat der Flüchtling in gewisser Weise doch bereits scheinbar schon hinter sich, was die noch einigermaßen Sesshaften befürchten und ersehnen, nämlich sich zugleich von Bedürfnissen zu emanzipieren und Bindungslosigkeit zu meistern, also ambivalent moralisches Opfer und heroischer Abenteurer in einem zu sein. Denn denen, die mit der Beschleunigung mitkommen wollen, fällt genau das lästig, worin sich verbleibende Reste an Individualität ausdrücken: die Dauerhaftigkeit selbst gewählter Beziehungen und die bestimmte Immobilität, die die eigene Einrichtung samt ihrer Buchregale physisch mit sich bringt und symbolisch darstellt.

Die Glorifizierung des „nackten Lebens“, die scheinbare Parteinahme für den Flüchtling also, ist tatsächlich die Parteinahme gegen alles, was der Flüchtling im Normalfall erreichen möchte: sich nämlich den Sesshaften möglichst rasch und weitgehend anzugleichen und damit genau das nicht tun zu müssen, was ganz ausdrücklich auch Michael Hardt und Antonio Negri von ihm erwarten, also die „Produktivität des Seins“ (Negri) ständig unter Beweis zu stellen (eine Produktivität, die ja tatsächlich als Kompensation des Mangels eine Funktion desselben bleibt). Aus dem erduldeten Elend der je Einzelnen und dem Wunsch nach dessen Ende wird bei dem Autoren-Duo unter der Hand ein quasi-willentlicher Akt der „multitude“, ja die Grundlage für ein „Gegen-Empire“, das sich in Nomadismus, Desertion und Exodus als spontanen Modi des „Dagegen-Seins“ in ständiger politischer Konstitution befinde. Wer, wie Negri/Hardt, eine solch verrohte Geschichtsphilosophie ausgibt, ist genau der Typus „neuer Barbar“, eine Bezeichnung, mit dem die beiden eigentlich ihre unfreiwilligen Helden charakterisieren wollen. (7)

Überflüssig wie Du und ich

Publizistisch herhalten mussten Flüchtlinge in den letzten Wochen aber auch in den Medien, die von jeher eine Rechnung mit dem jüdischen Staat offen haben. Die üblichen Verdächtigen konnten es sich nicht verkneifen, die nach Israel geflohenen Eritreer und Sudanesen, die zum Jahreswechsel vor der Knesseth gegen ihre elende Lage zwischen illegaler Duldung und stets drohender Abschiebung demonstrierten, zu moralisch einwandfreien Ersatzpalästinensern und Judenopfern zu stilisieren. So titelte die Junge Welt (30.12.13): „Flüchtlinge demonstrieren in Israel gegen Lagerhaft“, während die Süddeutsche (18.12.13) einen „Marsch der Elenden“ über Israels Straßen ziehen sah. Obwohl aber das Thema nahezu unerschöpfliches Potential böte für weitere verbale Entgleisungen, die Israel in Nazi-Nähe rücken, und obwohl die Delegitimation Israels als konstitutionell jüdischem Staat sich wunderbar mit den fünf Millionen Arabern, die als geborene Erb-Flüchtlinge auf ein „Rückkehrrecht“ dorthin pochen, wo sie noch nie waren, verbinden ließe, kann sich das Thema nicht dauerhaft auf den vorderen Seiten halten.

Denn die etwa 50.000 Flüchtlinge, um die es hier geht, sind zum großen Teil afrikanische Christen, die vor ihren islamischen Peinigern fliehen mussten – ein Thema, auf das keines der antiimperialistischen Blätter gern zu sprechen kommt. Und was noch schwerer wiegt: Leute, die ausgerechnet nach Israel fliehen, und damit ganz praktisch und ohne Vorurteile zeigen, dass dieser Staat in dieser Weltgegend der einzige ist, in dem es sich – unter welch elenden Bedingungen auch immer – zu leben lohnt, sind für antiisraelische Berichterstattung eben auch nur bedingt geeignet.

Doch ähnliches gilt letztlich auch für die Flüchtlinge, die es nach Deutschland schaffen. Auch sie sind keine Avantgarde des authentischen Lebens jenseits des Marktes, sondern vielmehr die lebende Hoffnung darauf, dass dieser seine Versprechen einlösen möge. Niemand erwartet sehnsüchtiger, seine Arbeitskraft endlich (wie billig auch immer) verkaufen zu können, statt in der „moralischen Ökonomie“ eines postkolonialen Molochs zu verrotten oder gleich zum Schlachtvieh apokalyptischer Bandenkriege unter ethnisch-religiösen Vorzeichen zu werden, als die in Sammelunterkünften zusammengepferchten Flüchtlinge. Refugees sind nicht der wohlfeile, von einer verrohten Geschichtsphilosophie begehrte Ersatz fürs Proletariat, auf das die kapitale Herrschaft einst als lebendiges Substrat noch angewiesen war; sie sind genauso überflüssig wie Du und ich. Deshalb gilt ungebrochen das, was Wolfgang Pohrt vor mehr als einem Vierteljahrhundert in seinem Essay Der moderne Flüchtling. Über „Ambler by Ambler“ notierte: „Ähnlich wie heute, wo 100.000 zusätzliche Menschen in der BRD eine vernachlässigbare Größe wären, während 100.000 Asylbewerber, denen das Recht auf Freizügigkeit wie auf Arbeit entzogen wurde, bereits jetzt einen die Grundrechte unterminierenden Sonderfall darstellen und sich tatsächlich zu dem sozialen Problem entwickeln können, als welches man sie betrachtet; ähnlich wie heute also wurden damals (in der Dekolonialisierungs-Ära ab 1918; U.K.) die Flüchtlinge zu einem destabilisierenden Element durch die Behandlung, die ihnen widerfuhr. Festgehalten im Stand der Rechtlosigkeit, welcher den der Gesetzlosigkeit einschließt, waren sie das anschaulichste Beispiel für das Schrumpfen des Geltungsbereichs von Gesetzen, für Zersetzungserscheinungen im Bereich staatlicher Kontrolle über die Bevölkerung und überhaupt für die wachsende Unfähigkeit des überkommenen Sozialgefüges, das Leben der Menschen in geregelten Bahnen zu halten.“ (8)

Das Flüchtlingsregiment abschaffen, das ist tatsächlich die angemessene Parole: aber genau in dem Sinne, dass die Flüchtlinge als solche nicht mehr durch ihren rechtlichen Sonderstatus, durch Lebensmittelgutscheine, Arbeitsverbot, Residenzpflicht und Sammelunterkünfte kenntlich gemacht blieben, sondern ihnen auf jeden Fall komplette Rechtsgleichheit zuteil würde. Und das ohne Wenn und Aber, ohne Rassisten-Malus, aber auch ohne Migranten-Bonus – samt verquaster Hoffnungen, mit dem „nacktem Leben“ irgendwie linke Politik (weiter)machen zu können. Gleichheit bedeutet deshalb selbstverständlich auch keine kulturalistisch inspirierte Nachsicht für die Spuren, die das autochthone Milieu, aus dem nicht wenige Flüchtlinge kommen, hinterlassen haben mag, also definitiv keine mildernden Umstände für klassisch patriarchale Verhaltens- und Lebensformen.

Uli Krug (Bahamas 68 / 2014)

Anmerkungen:

  1. André Gorz: Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus (, Reinbek b. Hamburg 1983, 62 f.
  2. Ein millenaristischer Antiamerikanismus wie der Che Guevaras summierte übrigens auch die nordamerikanische Arbeiterklasse unter den zu bekämpfenden Imperialismus. In Die Arbeiterklasse der USA – Feind oder Verbündeter? kommt er zu dem Schluss, dass der Krieg „gegen das gesamte Volk der USA“ zu führen sei (zitiert nach: G. Koenen: Traumpfade der Weltrevolution, Köln 2008,.
  3. Aus: Letzte Texte von Ulrike, 49. Herausgegeben vom Internationalen Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa, Eigendruck im Selbstverlag.
  4. Hervorhebungen sind von mir, U.K.
  5. Sartre beschrieb in seinem Vorwort zu Fanons Die Verdammten dieser Erde die Wahl, vor der der kämpfende Kolonisierte stehe, damit, „sich entweder den Auflösungsprozessen eines verfälschten Lebens zu überlassen oder die ursprüngliche Einheit wieder zu erringen“, Frankfurt 1966, 20.
  6. Vgl. dazu: Philipp Lenhard: Wir sind alle KZ-Insassen. Über Foucault, Agamben und die Relativierung des Holocausts, in: Bahamas 58/2009.
  7. Explizit entwickeln Michael Hardt und Antonio Negri diese Ansichten im Abschnitt Intermezzo: Gegen-Empire ihres Buches: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt 2003, ab 222 ff.
  8. W. Pohrt: Ein Hauch von Nerz, Berlin 1989, 152. Hrvb. v. mir.

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