Titelbild des Hefts Nummer 69
Hasta la Vista, Hamas!
Heft 69 / Herbst 2014
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Veränderter moralischer Kompass

Die postnationale Geschichtsschreibung entlastet Deutschland als treibende Kraft des Ersten Weltkrieges

Wenn es denn noch eines erneuten Exempels bedurft hätte, dass die postmoderne Pluralisierung von Wahrheit in Wahrheiten dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor so sperrangelweit wie noch nie zuvor geöffnet hat, dann hätte die Kriegsschulddebatte des Frühjahrs 2014 ein solches geliefert. So dankbar und unermüdlich bemühten die Geschichtsredakteure der großen Zeitungen und Radiosender den Begriff „Meistererzählung“ oder auch den des „Narrativs“, die beide auf Lyotards Attacke gegen die so genannten grands récits zurückgehen, dass nahezu kein Text, der auch nur entfernt Bezug nahm auf Christopher Clarks Die Schlafwandler (oder auch Herfried Münklers Der große Krieg), ohne sie auskam. (1) Solche vorauseilende Relativierung, die sich darauf zurückzieht, nur zu deuten, aber nicht zu erklären, entspricht wohl auch der ambivalenten Haltung der zugleich ebenso vorsichtigen wie skandalhungrigen Journalisten; denn die Thesen Clarks, die es wohlwollend ins Gespräch zu bringen galt, beschränkten sich nicht mehr nur darauf, die vor den kritischen Interventionen Fritz Fischers (Griff nach der Weltmacht, 1961) oder Hans-Ulrich Wehlers (Das deutsche Kaiserreich, 1973) hierzulande übliche Ansicht aufzuwärmen, die beteiligten europäischen Staaten seien im August zu gleichen Teilen eben so hineingeschlittert in den Ersten Weltkrieg.

Nein, Clark – und das ist das Neue – versucht, dem „balkanischen Nationalismus“ und insbesondere Serbien die aktive Rolle des agent provocateur in der „gesamteuropäischen Krise von 1914“ (ein Begriff, mit dem Sönke Neitzel, deutscher Professor an der London School of Economics, Clark bereits früh zur Seite sprang) (2) zuzuschanzen und damit eben auch Serbiens Verbündeten quasi durch die historische Hintertür den Hauptteil der Verantwortung aufzubürden. Als zum Krieg treibende Akteure erscheinen plötzlich nicht mehr der deutsche Kaiser und seine Entourage aus Kommissköpfen, sondern der Sarajewo-Attentäter Gavrilo Princip und die serbische Geheimorganisation Schwarze Hand.

Kausalität und Zeitgeist

Dazu entwirft Clark – wie könnte es anders sein – ein „mehrschichtiges Narrativ“, das die je verschiedenen „Pfade zum Krieg“ erzählt; seinem Wesen gemäß verabschiedet sich dieses Narrativ schon programmatisch von der Frage nach dem „Warum“ und widmet sich dem „Wie“ beziehungsweise den je verschiedenen „Wies“ in Belgrad, Berlin, London, Paris, Sarajewo, St. Petersburg und Wien: „Die Frage nach dem Warum“, so Clark, lade doch nur ein, „nach fernen und nach Kategorien geordneten Ursachen zu suchen: Imperialismus, Nationalismus, Rüstung, Bündnisse, Hochfinanz, Vorstellungen der nationalen Ehre, Mechanismen der Mobilisierung. Der ‚Warum-Ansatz‘ bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt.“ Wenn aber die Kausalität als Erklärungsbasis erst einmal zerrüttet ist, können Geschichtsinterpretationen den je herrschenden Zeitgeist in sich aufnehmen, ohne sich noch bohrende Fragen nach gesellschaftlichen Verhältnissen, ideologischen Rahmenbedingungen oder mentalitätsgeschichtlichen Dispositionen gefallen lassen zu müssen. Clark räumt so auch relativ offen ein, dass sein Narrativ dem neueuropäischen Postnationalismus verpflichtet ist. „Unser moralischer Kompass hat sich verändert“, schreibt er und fährt fort: „In einer Zeit, in der die nationale Idee noch jung und voller Versprechungen war, herrschte intuitiv Sympathie mit dem Nationalismus der Südslawen und wenig Sympathie für die schwerfällige Völkergemeinschaft des Habsburger Reichs. Die Kriege im Ex-Jugoslawien der neunziger Jahre haben uns an die Tödlichkeit des Nationalismus auf dem Balkan erinnert. Seit Srebrenica und der Belagerung Sarajevos fällt es schwerer, Serbien als reines Objekt oder Opfer der Großmachtpolitik zu sehen, stattdessen kann man sich leichter den serbischen Nationalismus als eigene historische Kraft vorstellen. Aus der Sicht der heutigen Europäischen Union betrachten wir den zerfallenen Flickenteppich des habsburgischen Österreich-Ungarn tendenziell mit mehr Sympathie.“ (3)

200 zu 1 für Deutschland

Das publizistische Handling dieser Debatte, in der es ja um nichts weniger ging, als den historischen Unterschied zwischen den ehemals bürgerlichen Nationen im Westen und der unverändert antibürgerlichen Nation in der Mitte Europas immer noch weiter zu verwischen, war betont unaufgeregt; routiniert nutzte man dabei die Abgeklärtheit suggerierende Terminologie des Poststrukturalismus. Und vorsichtiges Auftreten war und ist auf diesem Feld auch tatsächlich geboten; denn es gibt sie noch, die echten und international peinlichen Revisionisten, die Auschwitz mit Bombenkrieg aufrechnen und nach gleichem Muster die ab 1914 eingerichtete, englische Seeblockade gegen Deutschland anklagen, um den Spieß auch für den Ersten Weltkrieg plump und direkt umzudrehen. Solche wie Jörg Friedrich (Der Brand, 2002) (4) zum Beispiel; dem fehlt die Nonchalance in der Wortwahl nach wie vor, der plaudert voreilig und ungeschminkt all das aus, was in der deutschen Seele tatsächlich schlummert. In seinem im Mai erschienenen Buch 14/18: Der Weg nach Versailles jedenfalls ist Deutschland stets Opfer, die Entente Täter: Entweder wird für die beiden Kaiserreiche Unangenehmes gleich unter den Tisch fallen gelassen – wie die Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch, die Friedrich naseweis an die Alliierten weitergibt und allen Ernstes fragt, warum sie den Krieg im September 1914 weitergeführt hätten, obwohl Deutschland und Österreich ihn absehbar nicht mehr gewinnen konnten; oder, wenn man deutsche Verbrechen schon nicht leugnen kann, dann wird verrechnet – die Gräueltaten beim Einmarsch in Belgien 1914 beispielsweise mit den Verhungerten der Steckrübenwinter, für die Friedrich die britische Marine ursächlich verantwortlich macht. Das Ergebnis ist klar: 200 zu 1 für Deutschland, denn die Seeblockade habe, so Friedrich, die „100- bis 200-fache Zahl an Toten“ verursacht (Welt, 7.5.2014). Dass er mit dieser unangenehm-aggressiven Leier den Clarks und Münklers die Tour zu vermasseln droht, stimmte schließlich selbst die FAZ verdrießlich: „Dabei verschenkt Friedrich sogar die handfesten geschichtsrevisionistischen Möglichkeiten, die sich aus der jüngeren Debatte über den Ersten Weltkrieg ergeben. Spätestens seit den Büchern von Clark und Münkler ist klar, dass die Linie, die Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht in den sechziger Jahren von der deutschen Außenpolitik vor 1914 zu den Annexionsplänen des Kaiserreichs im Krieg gezogen hat, eine imaginäre ist, ein Konstrukt.“ (3.5.2014)

Zusätzlich mahnt auch die Erfahrung mit dem Vorläufer Clarks als Kronzeugen für deutsche Geschichtsrevision zu Achtsamkeit und Leisetreterei: Denn David Irving war nicht immer der geächtete Holocaustleugner, sondern galt – wie heute Clark – als ernstzunehmender Historiker, der mutig neue Pfade beschritt: Durchaus als seriös geltende Magazine hatten noch in den Sechzigern und Siebzigern Serien des „Meisters im Nutzen ungenutzter Quellen“ (Spiegel 34/1978) veröffentlicht, doch diese Quellen erwiesen sich dann leider doch unzweifelhaft als Fälschungen. Und so bereuten nicht wenige Zeitgeschichtler bitterlich, sich an Irving den Mund verbrannt zu haben wie etwa Hans Mommsen, der noch Irvings Hitler-Märchen mit den Worten kommentierte, es sei „ein Glück für uns [...] einen Irving zu haben, der den Historikern zumindest neue Anstöße gibt.“ (ebd.)

Solche Blamagen will man sich heute gern ersparen und die Chancen stehen nicht einmal schlecht: Clark ist zum einen nicht wie Irving Überzeugungsdeutscher, auch wenn er den Hohenzollern stets als historischer Sachverständiger zu Diensten ist,(5) sondern Gesinnungseuropäer. Zum anderen bietet der Erste Weltkrieg für den Revisionismus ganz andere Möglichkeiten; denn aus der Verantwortung für die Shoa kam Deutschland – und das machte Irving und Co. erst zum Problem – nicht durch Aufrechnen und Relativieren heraus, sondern durch ostentative ethische Katharsis, durch das Umschalten von Schuldverleugnung auf Schuldstolz, durch die Umdeutung der Tötungsfabriken zu „Weiterbildungsanstalten“ (Eike Geisel). Dennoch steht auch das narrative Herumdeuteln an der Kriegsschuldfrage des Sommers 1914 in Zusammenhang mit dieser Umdeutung. Gelingt es nämlich, den Nationalsozialismus aus der Kontinuität der deutschen Geschichte herauszulösen, gelingt es, die gesellschaftlich-mentale Besonderheit des autoritär-panischen Etatismus deutscher Prägung bereits in der vorfaschistischen Zeit zu einer zweitrangigen Frage zu machen, werden Hitler und die Judenvernichtung unversehens und ohne, dass man es direkt so aussprechen müsste, zu Betriebsunfällen, die in keiner Beziehung mehr zu ihrer Vor- und Nachgeschichte stehen. Das genau ist es, worum es bei der Umbewertung des Kriegsausbruchs vor hundert Jahren geht; denn diese Debatte stellt Deutschland auf eine Stufe mit seinen Gegnern, vor allem England, und leugnet en passant – indem sie nur von Personen und nicht von Strukturen erzählt – den historischen Unterschied zwischen hie Modernisierung von unten, bürgerlichem Umsturz und liberalem Rechtsstaat und da administrativer Industrialisierung, Revolution von oben und militaristischer Polykratie.

Unheilige Trinität

Diesen Unterschied hatte einst Hans-Ulrich Wehler in für einen deutschen Historiker nahezu einmaliger Schärfe dargelegt. Sein Das Deutsche Kaiserreich konnte die historische Kontinuität der deutschen Sozialpathologie wohl nur im politischen Klima des Jahres 1973 so offen darlegen, ohne dadurch sofort die akademische Karriere zu riskieren. Denn Wehler fragte zu Recht danach, warum die „unheilige Trinität von Sozialimperialismus, Sozialprotektionismus und Sozialmilitarismus“ des Kaiserreichs sich nicht nur ein halbes Jahrhundert im Sattel halten, sondern eben auch eine bis heute fortdauernde Wirkung entfalten konnte: Der „fatale Erfolg der kaiserlichen Machteliten“ bestünde, so resümierte Wehler damals, „im Einfluss vorindustrieller Normen, Wunschbilder; in der Zähigkeit der deutschen Staatsideologie; im Mythos der Bürokratie“ und nicht zuletzt „in der Manipulation des politischen Antisemitismus.“ (6)

Das wieder ins Blickfeld zu bringen, gelang auch den nicht-revisionistischen Historikern nicht, auch wenn sie sich mit Verve in die Schlacht der Narrative warfen und sogar die besseren Beweise, die stichhaltigeren Akten vorzuweisen hatten. Gerd Krumeich, Emeritus in Düsseldorf und WK-1-Spezialist, beispielsweise belegte und wiederholte unverdrossen, dass es doch „die entscheidende Frage (sei), wer im Juli 1914 den Knopf gedrückt hat. Das waren eindeutig die Deutschen.“ (Welt, 23.01.2014). Auch die britische Historikerin Annika Mombauer untermauerte mit dem so genannten „Waldersee-Memorandum“ vom Mai 1914 (das Clark und Münkler bezeichnenderweise unterschlagen) das ohnehin auf der Hand Liegende: „Der Krieg brach aus, weil einflussreiche Kreise in Wien und Berlin ihn herbeiführen wollten.“ (Welt, 19.05.2014) (7)

Aber auch Mombauer bekommt so nicht die Dimension des ideologischen Krieges zu fassen, den Deutschland im 20.Jahrhundert gegen die westliche Moderne führte – und das eben nicht einmal, 1939, sondern zweimal, nämlich auch 1914. Denn zur entscheidenden Frage, die Wehler (und in einem gewissen Maß auch Fischer) sich stellte, gelangt eine auf Entscheider-Personen abgestellte Geschichtsschreibung gar nicht. Wehler, der Geschichtsschreibung explizit als „historische Sozialwissenschaft“ erachtete, hingegen fragte, ob das Kaiserreich kraft seiner besonderen Beschaffenheit genau auf die militärische Katastrophe hinsteuerte: „Muss man nicht auf die bewusste Risikopolitik, die sie erzeugenden Konfigurationen der Kräfte, damit auf die historisch geprägte Starrheit der Institutionen, Interessen, Ideen hinweisen?“ (8) Die wiederum waren so starr, weil sie allein darauf abzielten, die ökonomisch-technische Mobilisierung der Produktivkräfte in die politischen Formen des Militärstaates zu bannen, dessen Versprechen soziale Sicherheit durch soldatische Disziplin hieß; ein Modell, dem nicht nur Autoritarismus, sondern Panik (mit inhärenter Tendenz zur Flucht nach vorn) eingeschrieben war. Damit war zugleich die konstitutive Feindschaft gegen den westlichen, insbesondere englischen Liberalismus als praktischer wie metaphysischer Staatszweck gesetzt und die kriegerische Antwort auf die notwendig krisenhafte Labilität des nur scheinbar so fest Gefügten stets naheliegend.

Das Nebeneinander ständisch-kriegerischer Privilegien und Sonderordnungen, die sozialpolitische Integration und ihre Institutionen und das widerwillig zugestandene, aber für gelingende Akkumulation unabdingbare Maß an Rechtsstaatlichkeit und Liberalität führte im Ergebnis zur „wilhelminischen Polykratie“ (Wehler), die so die Blaupause für die noch radikalisierte Polykratie des NS-Staates abgab: in der ersten Polykratie wetteiferten die konkurrierenden Akteure in militärischem Patriotismus, so dass die Kriegsbegeisterung zu Bürger- und Beamtenpflicht wurde, lange bevor es überhaupt einen Anlass zum Krieg gab; in der zweiten wiederholte sich dieser dynamische Mechanismus des Ressentiments im Inneren des polykratischen Apparats, um aus dem Antisemitismus die „Endlösung“ zu destillieren.

Kein Zufall und deshalb besonders illustrativ ist deshalb die Stärke und Zentralität der antienglischen Propaganda im wilhelminischen Reich. Sie überlagerte zunehmend die realpolitische Konkurrenz zu Frankreich, das man seit dem überwältigenden Sieg bei Sedan und der den „Erzfeind“ demütigenden Reichsgründung 1870/71 samt Annexion von Elsass-Lothringen gar nicht mehr recht für voll nahm. Frankreich diente seither eher als mahnendes Beispiel dafür, dass liederliche Sittenverderbnis und das Walten jüdischer Bankiers in Paris eben zu politischem Niedergang, sozialer Desintegration und militärischer Schlaffheit führen.

Das historische Gegenprinzip aber zum „deutschen Wesen“ stellt das „perfide Albion“ dar. Der „organische Intellektuelle“ (Gramsci) des Kaiserreichs, der dessen politisch-soziale Konstitution geradezu theoretisch verkörperte, Werner Sombart, machte 1915 diesen Gegensatz als den von Helden gegen Händler auf, als den von heroischem Gemeinschaftsgeist gegen zersetzenden Individualismus. Dabei tritt das „Engländertum“ als Exekutor eines Prinzips auf, das Sombart – bezeichnenderweise Gründungsmitglied und zeitweise Vorsitzender des „Vereins für Socialpolitik“, der historischen Vordenker der Sozialpartnerschaft – das untergründig überall wirkt: Der unproduktiv-spekulative „Saharismus“ der Juden nämlich, dem das hart arbeitende und soziale Waldvolk der Germanen mit seinem „Silvanismus“ entgegentreten müsse. (9) So absurd es auf den ersten Blick scheinen mag, richtet sich der Germanenkult am stärksten gegen England: Denn das Getöse von „Germanenschwert und Germanenfaust“ war das notwendige Komplement zum Antisemitismus; versprach es doch mit einem quasi erbbiologischen Unterpfand die soziale Integration der Deutschen in den Volksstaat, der ihnen Schutz und Trutz gegen den bindungslosen Markt darstellte. Das unterscheidet übrigens die antienglischen Beleidigungen der Deutschen von den antideutschen der Engländer: Wenn diese die Deutschen als „Hunnen“ titulierten, hatte das keinerlei, wenn man so will, sozial-biologischen Hintergrund, ja, erfasste die militärstaatlichen deutschen Verhältnisse sogar in polemischer Weise; die eliminatorisch-apokalyptische Dimension eines Endkampfes zweier rassischer Prinzipien aber, die im deutschen Antisemitismus gegen England steckte, war noch der wüstesten Propaganda der Westmächte fremd und fern.

„Gott strafe England“

„Der Hauptfeind ist England“ verkündeten entsprechend die Plakate unisono in nahezu jedem deutschen Lebensmittelladen während des Krieges. Unter Patrioten war es Usus, sich mit der Formel „‚Gott strafe England‘ – ‚Er strafe es’“ zu begrüßen. Besonders bezeichnend aber ist der triumphale Siegeszug des beliebtesten Gedichtes seiner Zeit, Ernst Lissauers Hassgesang gegen England vom September 1914. Stefan Zweig erinnerte sich daran in seinen Memoiren so: „Das Gedicht fiel wie ein Bombe in ein Munitionsdepot. Nie vielleicht hat ein Gedicht in Deutschland, selbst die Wacht am Rhein nicht, so rasch die Runde gemacht. Der Kaiser war begeistert und verlieh Lissauer den Roten-Adler-Orden, man druckte das Gedicht in allen Zeitungen nach, die Lehrer lasen es den Kindern vor, die Offiziere traten vor die Front und rezitierten es den Soldaten […] Unter den siebzig Millionen Deutschen gab es bald keinen einzigen Menschen mehr, der den ‚Hassgesang gegen England nicht von der ersten bis zur letzten Zeile‘ kannte.“ Deutlicher als es der ab 1933 aus der deutschen Literatur getilgte Lissauer – er war Jude – gesagt hatte, wäre aber auch die Ideologie des Kaiserreichs nicht auf den Punkt zu bringen gewesen: „Was schiert uns Russe und Franzos’/ Schuss wider Schuss und Stoß um Stoß / Wir lieben sie nicht, wir hassen sie nicht / Wir haben nur einen einzigen Hass / Wir lieben vereint, wir hassen vereint / Wir kennen nur einen einzigen Feind.“ Und zwar England, das die „Völker der Erde in Sold“ nehme und sich hinter „Wällen aus Barren von Gold“ verschanze. (Zitate nach Welt, 9.6.2014)

So bleibt es nahezu allein den englischen Konservativen vorbehalten, aus der Front des postmodern-europäisch inspirierten Geschichtsrevisionismus auszuscheren. Michael Gove, konservativer Bildungsminister bis Juli 2014 (und aktuell Fraktionschef im Unterhaus), löste mit folgenden Äußerungen einen linken Entrüstungssturm auf der Insel aus: „Der Erste Weltkrieg dürfte wohl ein einzigartig grauenvoller Krieg gewesen sein, aber er war auch ganz klar ein gerechter Krieg […] Der rabiate Sozialdarwinismus der deutschen Eliten, die erbarmungslose Unterjochung neutraler Staaten und die aggressiv expansionistischen Kriegsziele sorgten dafür, dass Widerstand mehr als nur begründet war.“ (Daily Mail, 2.1.2014). Gove hatte in seinem Artikel Historiker wie Clark oder seinen ähnlich gestrickten Kollegen Richard Evans, aber auch die TV-Serie Blackadder aufs Korn genommen, weil sie den Ersten Weltkrieg als sinnlose Tragödie darstellen, an der jeder Staat im selben Maß schuldig gewesen sei und als dessen böseste Figuren die vom Standesdünkel geblendeten britischen Offiziere erschienen. Das wiederum berührt das Grundproblem, das Deutschland der englischen Linken beschert. Sie müssen es nicht mögen und bagatellisieren seine Besonderheit dennoch, damit ihre durchaus begründete Feindseligkeit gegen das konservative Establishment keinen Schaden leidet. Die falsche Aufhebung der Klassengesellschaft in die völkische Gemeinschaft, für die das Modell Deutschland auch 1914 bereits stand, muss ignoriert werden von der englischen Linken, die doch eigentlich Klassenkampf in einer ausgesprochenen Klassengesellschaft führen möchte. Denn die Anerkennung des, wenn man es traditionell will, deutschen Sonderweges, die projektive Transformation von Klassenkampf in einen irrsinnigen Rassenkrieg, hatte sie stets in ein zumindest temporäres Bündnis mit dem konservativen Erzfeind zu Hause gezwungen: Etwas, womit sich insbesondere die radikale Linke in England sogar noch während der Schlacht um England 1940 und angesichts einer drohenden deutschen Invasion extrem schwer tat. Deshalb war es einst am geradezu militant konservativen Churchill, Deutschland mit klarem Auge zu sehen, während links in England immer auch hieß und heißt, die deutsche Schuld klein zu reden und überhaupt den Antisemitismus zu relativieren. Bis heute hat die englische Linke keinen Weg gefunden, die Resultate der heimischen Klassengesellschaft zu kritisieren und zugleich die falsche Aufhebung der Klassengesellschaft wenigstens im Ansatz als solche zu begreifen. Und so lange das so bleibt, werden die Clarks und Evans’ weiter die nützlichen Idioten der deutschen Geschichtspolitik geben.

Uli Krug (Bahamas 69 / 2014)

Anmerkungen:

  1. Der Australier Christopher Clark, Professor in Cambridge sowie profunder Kenner der deutschen Sprache und Mentalität, landete mit seinem für den hiesigen Markt maßgeschneiderten Werk einen Volltreffer auf dem Sachbuchmarkt (und das trotz seines Volumens von knapp 900 Seiten): Erschienen im September 2013, hatten Die Schlafwandler im August 2014 schon die 16. Auflage erreicht; im Mai 2014 sollen bereits mehr als 200.000 Exemplare verkauft gewesen sein. Auch der Berliner Professor Herfried Münkler, der, ähnlich wie Clark, dem „aggressiven Nationalismus Serbiens“ den schwarzen Peter zuschiebt, landete für seine Verhältnisse mit Der große Krieg einen großen Erfolg: Anfang Dezember 2013 erschienen, wird im August 2014 immerhin schon die 6. Auflage ausgeliefert.
  2. Lyotards Schlüsselwerk Condition postmoderne aus dem Jahr 1979 erschien auf Deutsch als Das postmoderne Wissen, zuerst in der Zeitschrift Theatro Machinarum, Nr. 34 (1982).
  3. In der Welt vom 3.1.2014 breitete er sich in Zusammenarbeit mit Cora Stephan und anderen darüber aus.
  4. Alle Zitate Clarks aus: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München, 16 ff. Hrvb. von mir.
  5. Vgl. dazu Justus Wertmüller: Unsere Mauern brechen, unsere Herzen nicht, in Bahamas 40 (2003).
  6. So half Clark mit einem Gutachten die Rolle der Hohenzollern-Prinzen in und für die NSDAP zu bagatellisieren; darauf stützen sich wiederum deren Erben im Entschädigungsprozess gegen das Land Brandenburg (siehe dazu den Artikel Der Sündenfall des Hauses Hohenzollern in der in Potsdam erscheinenden MAZ vom 21.2.2014)
  7. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, 237 bzw. 239.
  8. Flüssig dargestellt findet sich das in Mombauers Buch: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014.
  9. Wehler, a.a.O., 227.
  10. Dargelegt wurden diese Thesen in Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, München/Leipzig 1911.

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