Titelbild des Hefts Nummer 70
Das Unbehagen in der Zivilisation
Heft 70 / Winter/Frühjahr 2015
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Das Unbehagen in der Zivilisation

Einladung zur Konferenz am 6. Dezember 2014 in Berlin

Die Welt scheint Kopf zu stehen, doch statt dies als Aufforderung zu nehmen, die eigenen Begriffe zwecks kritischer Durchdringung des jeweiligen Gegenstandes zu schärfen, beziehen die selbsterklärten Vertreter radikaler Kritik bedenkenlos und ohne sich um ihre Verlautbarungen von gestern zu scheren Standpunkt, sei es im Dienst tagesaktueller Politikmacherei, sei es im Namen der Aufrechterhaltung einer Lehre, die längst als Dogma vor sich hergetragen wird. Die Erkenntnis, dass in den fallen states Irak und Syrien unter allen Kombattanten die Kurden am ehesten auf dem von ihnen beanspruchten Terrain halbwegs menschliche Verhältnisse für die, die dazugehören, schaffen und ein Bollwerk gegen das rasende Umsichgreifen der Arabellion genannten islamischen Bewegungen bilden könnten, ist in eine so erbärmliche Feier des kurdischen Volkstumsnationalismus umgeschlagen, dass jede kritische Nachfrage moralisierend als defätistisch zurückgewiesen wird. In dieser Hinsicht nehmen sich die Verlautbarungen von Presse und Politik und die aufgeregten Solidaritätsaufrufe von Antideutschen wenig. Zu unterscheiden wäre zwischen dem nachvollziehbaren Wunsch, kurdische Einheiten in Syrien mögen jene Kantone wiederherstellen, die seit dem Einmarsch der IS-Milizen und der ihnen verbundenen sunnitischen Stammeskämpfer im Frühjahr und Sommer weitgehend zerschlagen wurden, und der Praxis und dem Selbstverständnis einer sich ethnisch definierenden Volksbefreiungsbewegung. Zu reflektieren wäre, warum ausgerechnet das partikularistische Selbstverständnis kurdischer Unabhängigkeitsbewegungen, die nach innen weder in Fragen der Rasse noch der Tradition mit sich spaßen lassen, einer sich egalitär gebenden, internationalistisch zusammengesetzten Bewegung für die sunnitische Weltumma überlegen ist. Die einen haben schnell eine Antwort parat: Kurden können, obgleich in ihrer Mehrheit selbst Sunniten, sich IS und anderen islamischen Bewegungen nicht anschließen, ohne ihr Ziel, den einigen Kurdenstaat, aufzugeben. Andere verbinden praktische Parteinahme und philosophischen Welterklärungsanspruch in der Erkenntnis, dass gerade im durch jahrhundertelangen Widerstand gestählten konkreten Besonderen der Kurdischen Irredenta die richtige Antwort nicht nur auf den alles niederwalzenden Allgemeinheits- und Wahrheitsanspruch islamischer Gotteskrieger, sondern auch auf jene dezidiert westliche Denktradition und Herrschaftsform beschlossen liege, die letztlich auch an der Popularität des Gotteskriegertums Schuld trage: die Aufklärung.

Die Dialektik der Aufklärung, so schallt es einem seit Jahrzehnten entgegen, sei die abschließende Kritik der so planvoll wie automatisch ausgreifenden, in bürgerlicher Herrschaft und bürgerlichem Denken angelegten systematischen Liquidierung des je Besonderen im einzelnen Menschen, der Individualität, bis hin zur systematischen Vernichtung von als untauglich oder schädlich definierten Menschengruppen. Doch das Buch, das jeder gelesen haben will, heißt nicht Kritik der Aufklärung, sondern Dialektik der Aufklärung. Das tautologische Label „Aufklärungskritik“, unter dem schon in den sechziger Jahren die routinierte Vernunftverachtung kritische Theorie und Poststrukturalismus gleichermaßen subsumierte, war nie etwas anderes als ein Alibi der Aufklärungsfeindschaft: Die Fähigkeit zur Kritik ihrer selbst ist der Aufklärung immanent, die Dialektik der Aufklärung entfaltet sie angesichts des Umschlags von Aufklärung in Barbarei; sie ist kein Widerruf, sondern der Versuch der Rettung der Aufklärung angesichts der Totalisierung des Wahns. Der Wahn aber totalisiert sich nicht, wie eine in ihrer schlechten Allgemeinheit manchmal fast schon an Althusser erinnernde antideutsche Staats- und Rechtskritik nahelegt, abstrakt in den bürgerlichen Institutionen, Denk- und Vergesellschaftungsformen, gegen die eine existentiell verkitschte neue Ethik Verantwortung, Engagement und Entscheidung des Subjekts ausspielt – als wäre nicht gerade diese Begriffstrias konstitutiv für die zivilgesellschaftlichen Ideologie. Er totalisiert sich in den Subjekten selbst, umso mehr sie sich gerade in ihrer gefühlten Eigentümlichkeit zu seinen Vollstreckern machen. Gerade das, worin die entbürgerlichten Bürger sich als unverwechselbare, unbedingt schützenswerte Subjekte fühlen, ist der Abhub des Partikularen und Anknüpfungspunkt für die wahnhafte Projektion ihrer entleerten Selbste auf die nur noch als Material subjektiver Verfügungsgewalt in den Blick geratende Wirklichkeit. Die auftrumpfende Forderung, ein jeder möge mit seiner unverfälschten Erfahrung und Meinung, seinem ganz persönlichen Geschlecht, seiner Religion, Kultur und Ethnie besonderen Schutz vor der Gleichmacherei der Staats- oder Mehrheitsgesellschaft ausgerechnet von jenem Staat erhalten, den man eben erst als Ausdruck der Vernichtung des Besonderen perhorresziert hat, ist in der Zivilgesellschaft kein Alleinstellungsmerkmal einer sich revolutionär gerierenden Minderheit mehr. Sie ist selbst Staatszweck und bestimmt das Diskurs genannte, auf autoritäre Lösungen drängende öffentliche Selbstgespräch. In welchen, stets residualen und verschütteten, also nicht einfach nach Wunsch abrufbaren, Erfahrungen und Impulsen die Subjekte dieses Selbstgesprächs überhaupt noch ansprechbar sind für das, was anders wäre, ist äußerst ungewiss und muss zum Gegenstand der Reflexion gemacht, statt mit der Selbstgewissheit des Kritikersouveräns einfach nur beantwortet werden.

Dass das Allgemeine als das Bessere nicht im Namen eines bornierten Universalismus einfach gegen das Besondere als das Abzulehnende ausgespielt werden darf, darauf können sich die meisten schnell einigen. Allgemeines und Besonderes sind zunächst Formen des Denkens und Urteilens und keine moralischen Kategorien – zu solchen werden sie erst im verdinglicht-antinomischen Denken. Dieser Antinomismus muss aber zuvorderst auch an antideutschen Neigungen kritisiert werden, ausgerechnet das Judentum – dessen geistige Tradition stärker als irgendeine vom Bestreben getragen wird, das Partikulare zu überschreiten, auf dass das Individuum sich durch Entäußerung und beständige Reflexion in all seinen Möglichkeiten entfalten kann – als Repräsentant eines vermeintlich guten Partikularen zu fetischisieren, mit dem man sich mit nobelster Legitimation endlich wieder identifizieren kann. Als aufeinander verweisend treten Besonderes und Allgemeines in der konkreten Sache immer im Zusammenhang auf und gehen in ihrer unter den herrschenden Verhältnissen meist unheilvollen Wirkung ineinander über. Gerade an der unter nicht wenigen Antideutschen verbreiteten Begeisterung für das Judentum als Kultur wird das anschaulich. Auffällig an vielen bedenkenträgerischen Einlassungen zur Beschneidungsdebatte war, dass in ihnen der Begriff des „Postfaschismus“ auf eine primitiv agitatorische Formel gebracht wurde, nach dem Motto: In der Kritik des Ritus und im Abheben auf die Allgemeinheit des Rechts offenbare sich der postnazistische Charakter des Rechts und der deutschen Gesellschaft – und nicht etwa in der Abfeierung autochthoner Bräuche und der Liebe zu Sonderrechten.

Fragmentierung des Rechts

Zwar ist die Allgemeinheit des Rechts in allen bürgerlichen Gesellschaften kraft der dem Recht innewohnenden Tendenz zur Selbstaufhebung – der Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen – durchlöchert und fragmentiert; umso eher trifft das für eine bürgerliche Gesellschaft zu, die ihre Selbstaufhebung hinter sich hat und auf bestem Wege ist, den Rückfall in sekundäre Archaik mit rechtsstaatlich-demokratischen Mitteln zu verwirklichen. Dies legitimiert aber nicht dazu, den Gedanken der Allgemeinheit des Rechts preiszugeben zugunsten einer Rechtsverachtung, für die das bürgerliche Recht per se nicht wahrheitsfähig ist und daher vernünftigerweise gar nicht an seinen eigenen Prämissen gemessen werden kann. Das von Antideutschen oft wie ein Mantra halb warnend, halb bekräftigend wiederholte Diktum Carl Schmitts, dass souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, ist keine Beschreibung einer sich selbst vollstreckenden Gesetzmäßigkeit, sondern Ausdruck einer historischen Konstellation, in der das, was Schmitt ebenso feststellte wie propagierte, lange vor dem 30.1.1933 schon als systematische Demontage des Rechtsstaats zu beobachten war. So sehr die Formel die negative Wahrheit auch des funktionierenden bürgerlichen Staats trifft, so wenig lässt sie sich auf die Antifa-Phrase vom bürgerlichen Staat bringen, der, obgleich irgendwie immer schon faschistisch, in revolutionärer Absicht womöglich dazu zu zwingen sei, seinen faschistischen Charakter zu offenbaren. Eine solche Irrenlogik wird vollends suizidal unter gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das, was von der Hoffnung auf die Revolution in vernebelten Köpfen noch übrig blieb, nämlich der voraussetzungslose „Aufstand“, nur als Entfesselung der Barbarei denkbar ist.

Die in der postfaschistischen bürgerlichen Gesellschaft weit fortgeschrittene Aushöhlung der Rechtsbegriffe durch Einführung von Opfer- und Opfergruppenrecht veranschaulicht den Zusammenhang von Rechtsdefätismus und Rechtsfetischismus: Alle Freunde autochthoner Gemeinschaften und Hasser Israels halten es innerstaatlich mit der Fragmentierung des Rechts zugunsten völkischer Sonderrechte, während sie außenpolitisch die Verrechtlichung internationaler Beziehungen vorantreiben und in der Tradition des Abendrothschen Juristensozialismus auf die Allgemeinheit des internationalen Rechts schwören. Während aber das allgemeine Recht dort, wo es keinen Souverän gibt, der seine Geltung garantieren könnte, also auf der zwischenstaatlichen Ebene, zu einem Übel wird, vermag es gerade angesichts der drohenden Auflösung des abstrakten Rechts in partikularen Gruppenrechten auf innerstaatlicher Ebene noch am ehesten das Individuum vorm Schlimmsten zu schützen. Zwar ist, indem als Quelle bürgerlichen Rechts die Volkssouveränität gilt, die Gefahr der Entrechtlichung des Rechts im Dienst des Volkswillens immer schon mitgesetzt; doch in seiner institutionellen Vermittlung weist das bürgerliche Recht über die Exekution des Kollektivwillens hinaus, indem es den Schutz des Einzelnen vorm Zugriff des Kollektivs, ja des Staates selbst sicherzustellen hat. In diesem Anspruch widerspricht es allen vor- wie nachbürgerlichen Kollektiv- und Gruppenrechten, die den Einzelnen nur als ethnisch, kulturell, religiös, sozial oder sonstwie definiertes Exemplar kennen. Statt diese Antinomie auszutragen, also denkend auf ihr zu beharren, wird aber versucht, sie aufzulösen, indem entweder das bürgerliche Recht als bloßes Medium des schlechten Allgemeinen verächtlich gemacht wird, oder man sich auf die Suche begibt nach dem vermeintlich im konkreten Besonderen unmittelbar vorhandenen richtigen Allgemeinen. Auf dieses Bedürfnis lässt sich wohl jener im Zuge der „Beschneidungsdebatte“ auf die Höhe der Zeit gebrachte Philosemitismus zurückführen, der die Juden nur duldet als kulturelle Gemeinschaft und Bestandteil jener multikulturellen Horde, die das moralische Protektorat über sie ausübt, um auch die jüdischen Israelis durch faktische Entmachtung ihres Staates wieder auf den Status von Schutzbefohlenen zu reduzieren – als wäre ein solcher Kulturschutz ein besserer als der, den ihnen der israelische Staat gewährt, der kein Gottesstaat, sondern ein bürgerlicher ist.

Residuen des vernünftigen Allgemeinen

Man darf den bis in antideutsche Kreise ausstrahlenden postmodernen Strömungen nicht die Ehre erweisen, sie als die Gegner der bestehenden Ordnung zu behandeln, zu denen sie sich selbst stilisieren, sondern muss nachweisen, dass sie nichts anderes sind als Symptom der Krise dieser Ordnung und bewusstlos-bewusste Vollstrecker von deren abgefeimtesten Tendenzen. Die postmoderne Haltung ist nichts anderes als die intellektuelle Verdoppelung und Legitimation einer mächtigen gesellschaftlichen Tendenz, des Zerfalls nachbürgerlicher Gesellschaften in „barbarische Vielheit“ (Adorno). Die Abspaltung und politisch-moralische Aufladung von Teilmomenten eines Ganzen indiziert immer undialektisches, unkritisches Standpunktdenken. Es bedeutet ein willkürliches Abbrechen reflektierender Vermittlung, das den Grundzug der postmodernen Haltung, Denken mit seinen Mitteln stillzulegen, und deren autoritär-gewalttätigen Charakter zum Ausdruck bringt. Die postmoderne Strategie der Abspaltung und Moralisierung des „Besonderen“ gilt nicht der Liebe zum Unverwechselbaren und Eigensinnigen, sondern jenem Besonderen, das sich selbst schon als Allgemeinheit im Wartestand, als Gegensouverän begreift; dort wiederum, wo sie eines wirklich Besonderen habhaft wird, zielt sie nur auf Einverleibung, Funktionalisierung, sprich: vollendete Subsumption alles Besonderen unter ein Allgemeines. Im postmodernen „Denken“ und in der durch es gedeckten Praxis vollendet sich der repressive Charakter des herrschenden Allgemeinen: Ebenso wie ihm die philosophischen Begriffe zu Spielmarken werden, in die Gegenstände mit dekretorisch-definitorischer Willkür eingepasst werden, wird ihnen das abstrakt-allgemeine Recht zur instrumentell-technischen, nach freiem Ermessen vom Stärksten durchzusetzenden Kategorie.

Zu bestehen ist auf Adornos Einsicht, dass das herrschende Allgemeine gar nicht allgemein, sondern selbst partikular ist und das Besondere gar nicht besonders, sondern Moment und Agens des Allgemeinen – gemäß dem Charakter einer Vergesellschaftung, die sich durch Abstraktion von Gesellschaftlichkeit konstituiert und in der deshalb das Gesellschaftlich-Allgemeine sich wiederum als Partikulares, als Wert bzw. Staat, vergegenständlichen muss. Das Besondere, um das es wirklich ginge, wäre die ungeschmälerte Erfahrung der Sache, um dessen innezuwerden, was sich dem allgemeinen Zusammenhang entziehen und Vorschein eines Besseren sein könnte: Das Allgemeine, für das sich einstehen lässt, existiert noch nicht und scheint allenfalls an versprengten, besonderen Momenten auf. Eben dies, und nicht eine ominöse „Lücke“, die irgendwie in der kritischen Theorie klafft und durch importierte Philosopheme zu schließen wäre, ist der Grund, weshalb Adorno weder eine Ethik noch eine Staats- und Rechtskritik, sondern eine Ästhetische Theorie geschrieben hat. Die Vorsicht, durch die sich Adornos Äußerungen zur Kritik bürgerlichen Rechts auszeichnen, verdankt sich der Erfahrung, dass der Unterschied zwischen bürgerlichem Staat und Volksstaat zwar ein fließender, aber zugleich einer ums Ganze ist. Sein Rekurs auf ästhetische Erfahrung dagegen verdankt sich der Ahnung, dass in der Sphäre der Kunst, die der Gesellschaft, die sie hervorbringt, ebenso inkommensurabel ist wie den Subjekten, die sie erfahren, womöglich am ehesten noch Residuen jenes vernünftigen Allgemeinen aufscheinen, für das weder die Gesellschaft noch die empirischen Subjekte unmittelbar einstehen. In einer Zeit, in der auch die Kunst, wie als Karikatur auf den universalistischen Begriff der Weltliteratur, auf ein Patchwork der Kulturen heruntergebracht wird, die in ihr nur noch illustriert werden, ist genau dieser Zerfallsprozess unerbittlich nachzuzeichnen. Nur solche Nachzeichnung, nicht die Stilisierung von Kunst zum unverlierbaren Arcanum des Besonderen, ergreift Partei für ein vernünftiges Allgemeines, das dieses Prädikat verdient.

Redaktion Bahamas (Bahamas 70 / 2015)

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