Die Enttäuschung an der Realität, die Verzweiflung an der Möglichkeit realer Befriedigungen führt zur Flucht aus der Realität.
Wenn es um den Schutz der Gesundheit, zumindest im Westen, geht, dann gibt es noch Zivilcourage, sogar unter Studenten. „Sorry, but you can’t smoke on Campus“, wies ein Kommilitone einen jungen Mann höflich zurecht, der sich verdeckt dabei filmen ließ, wie er auf dem Universitätsgelände der University of California in Berkeley, die ISIS-Fahne schwenkend, eine Zigarette rauchte. Abgesehen von diesem kurzen Intermezzo ließ man ihn jedoch gewähren und ging wortlos an ihm vorbei. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als der junge Mann die ISIS-Fahne gegen die des jüdischen Staates eintauschte. Nun hagelte es wüste Beschimpfungen und Drohungen, das Übliche aus dem Arsenal der „Israelkritiker“: „Kid-Killers, Thieves, Genocide“ und dergleichen mehr. (1)
Wer nun meint, von dieser Performance nicht auf die Wirklichkeit schließen zu können, sieht sich eines Besseren belehrt, wenn er nur einen Blick über den Kanal nach England wirft. Am 16. Oktober 2014 berichtete die Haaretz von der Insel nämlich folgendes: „Die nationale Studentenvereinigung des vereinigten Königreichs hat einen Antrag, der den Islamischen Staat verurteilt, mit der Behauptung zurückgewiesen, dieser sei islamophob.“ Gegen diesen Antrag hatte eine Studentin der postkolonialen Theorie und der Sprache (vermutlich Anglistik) in Birmingham, die Abgeordnete schwarzer Studenten, Malia Bouattia, mobilisiert. Die Studentenvereinigung verlautbarte schließlich Folgendes: „Wir anerkennen, dass die Verurteilung von ISIS zu einer Rechtfertigung von Krieg und offener Islamophobie gekommen zu sein scheint. […] Diese Rhetorik verschlimmert den Gegenstand, um den es geht, und im Wesentlichen ist es ein weiterer Angriff auf diejenigen, die wir zu verteidigen beabsichtigen. […] Die Kampagne Schwarzer Studenten innerhalb der nationalen Studentenvereinigung unterstützt Black communities auf dem ganzen Globus kompromisslos gegen Imperialismus und westliche Einmischung, die, wie die Geschichte zeigt, viel zu oft zum Leid der Schwarzen geführt hat.“ (2) Auf derselben Sitzung der nationalen Studentenvereinigung wurde die europaskeptische Partei UKIP verurteilt und zu einem Boykott des jüdischen Staates aufgerufen.
Fast gleichzeitig regte sich gegen die „weißen“ Zumutungen auch Widerstand am renommierten linken Goldsmiths-College in London. Die streng bekopftuchte studentische Abgeordnete für Erziehungswissenschaften, Sarah El-alfy, forderte dort ihre Kommilitonen in der studentischen Vollversammlung der Universität dazu auf, dem eingebrachten Antrag, doch einen offiziellen Gedenktag des Holocaust an der Uni einzuführen, und zwar neben denen für die Opfer des Stalinismus, des Holodomors, also der Stalinschen Aushungerung der ukrainischen Bevölkerung, sowie des Genozids an den Armeniern eine Abfuhr zu erteilen, weil ein solches Ansinnen „eurozentrisch“ und „kolonialistisch“ wäre. El-alfy fügte hinzu: „Gedenktage sollten nicht bloß auf eine Liste europäischer geschichtlicher Ereignisse reduziert werden. […] Angesichts unserer langen Geschichte sich für Diversität und die Anerkennung zahlreicher Kämpfe einzusetzen und in Anbetracht der Tatsache, dass derzeit der Monat der schwarzen Geschichte [Black History Month] ist, fühle ich, dass der Antrag nicht weit genug ging.“ Ihrer Aufforderung wurde flugs mit einer durchaus totalitären Mehrheit von 60 zu 1 Stimmen entsprochen. Ein besonders sensibler Student wird mit den Worten zitiert: „Der Antrag würde Leute dazu zwingen, sich an Sachen zu erinnern, an die sie sich möglicherweise nicht erinnern möchten.“ (3)
Derartigen Aussagen und Reaktionsweisen mit dem dezenten Hinweis auf die historischen Tatsachen begegnen, beispielsweise darauf aufmerksam machen zu wollen, dass die Annahme von homogenen „black communities around the world“ ein rassisches Phantasma darstellt, und dass die westliche Einmischung die Sklaverei nicht eingeführt, sondern abgeschafft und dem wesentlich umfangreicheren arabo-muslimischen Sklavenhandel – zwar zögerlich, aber immerhin – den Riegel vorgeschoben hat, oder klarzustellen, dass die Opfer des Stalinismus doch größtenteils im Gulag vernichtet wurden, die am anderen Ende der Welt, nämlich in Sibirien gelegen waren, dass auch eine von einem palästinensischen Moslem geleitete muslimische SS-Division das Morden in Bosnien übernahm und dieser Amin al-Husseini zudem ganz persönlich die Vernichtung der ungarischen Juden in die Hand nahm, oder dass der Genozid an den Armeniern sich doch östlich der territorialen Grenze Europas am Bosporus ereignete, oder höflich nachzufragen, was diese Vernichtungen denn überhaupt mit der „Anerkennung zahlreicher Kämpfe“ zu tun hätten, ginge völlig ins Leere. Denn man hat es bei den zitierten Äußerungen mit Phänomenen zu tun, die psychologischer Natur sind: Hier zählt, wie Freud sagt, ausschließlich die „neurotische Währung, d.h. nur das intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte, dessen Übereinstimmung mit der Realität nebensächlich ist.“ (4)
Im zweiten Teil seiner – in den Augen dieser auf den postmodernen Hund gekommenen Studenten, sicherlich ganz und gar verdammenswerten, weil eurozentrischen – Schrift Totem und Tabu, die den – worauf der österreichische Psychoanalytiker Saama Mani aufmerksam gemacht hat – gänzlich dezentrierenden, weil universalen Untertitel Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker trägt, geht Freud der Lösung des Rätsels des Tabu nach und spricht dabei folgende, jeden echten Eurozentriker wohl zutiefst beleidigende Vermutung aus: „Es darf uns ahnen, dass das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht so weit von uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollten, dass die Sitten- und Moralverbote, denen wir selbst gehorchen, in ihrem Wesen eine Verwandtschaft mit diesem primitiven Tabu haben könnten und dass die Aufklärung des Tabu ein Licht auf den dunkeln Ursprung unseres eigenen ‚kategorischen Imperativs‘ zu werfen vermöchte.“
In der Frage nach der psychologischen Genese dessen also, was nicht nur in der europäischen Philosophie der Aufklärung mit zum höchsten der Kulturideale gerechnet werden darf, dem kategorischen Imperativ der Kantschen Vernunft- bzw. Moralphilosophie, macht Freud eine „Verwandtschaft“ mit dem „primitiven Tabu“ aus. „Weit davon entfernt also dem europäischen Menschen eine zentrale Stellung seiner Kultur unter allen anderen Kulturen zu attestieren, schreibt Totem und Tabu jene Kränkung [gemeint ist die dritte, streng genommen, vierte der Menschheit nach Kopernikus, Darwin und Marx; P.W.] mit den Mitteln der Ethnopsychoanalyse fort. Kränkt die individuelle Psychoanalyse das Subjekt durch Konfrontation mit dessen innerem Ausland, […] also dem Unbewussten, kränkt der ethnopsychoanalytische Ansatz von Totem und Tabu die Zivilisierten, respektive die Europäer, indem er ihnen vor Augen führt, wieviel sie mit den Wilden, jenen Bewohnern des äußeren Auslands, gemein haben.“ (5)
Sowenig also wie die Psychoanalyse kategorisch in krank und gesund trennt, sowenig postuliert sie einen kategorischen, sondern bloß graduellen Unterschied zwischen den Wilden, Primitiven und den „zivilisierten Völkern“. Und gerade weil sie damit gemäß dem latenten Geschichtsoptimismus in Totem und Tabu an der aufklärerischen Vorstellung der einen Menschheit und ihrer einen Geschichte festhält, registriert sie auch den hierarchischen Abstand ebendieser „zivilisierten Völker“ zu den „tiefstehenden Kulturen“. (6) Aber, und das ist zugleich das selbstreflexive Programm einer Dialektik der Aufklärung vor dem Zivilisationsschwund, sie ist von einer erheblichen Skepsis getragen hinsichtlich der Resistenzkraft eben dieser „zivilisierten Völker“ gegen die zunehmende Kulturfeindschaft, d.h. die massenpsychologischen Regressionen, wie sie kurz nach Veröffentlichung der Schrift im ersten Weltkrieg, im völkischen Wahn der Deutschen und der daraus resultierenden Vernichtung und gegenwärtig im politischen Islam sich dann auch manifestierten.
Freuds Rede von der Möglichkeit einer den Kulturprozess stets begleitenden und womöglich unterminierenden Regression, wonach das einzelne Individuum wie auch kollektive Gruppen jederzeit auf einen historisch bereits überwundenen, früheren narzisstischen Entwicklungsstand zurückfallen können, der sich durch magisches Wunschdenken, phantastische Verkennung der Realität, Allmacht der Gedanken, also Paranoia, auszeichnet, impliziert zugleich notwendig immer ihren Gegenbegriff: den des Fortschritts. Und damit, was sowohl individuell als „normale“ Subjektwerdung bzw. wenn diese massiv gestört wird, als Ziel einer erfolgreichen psychoanalytischen Therapie, wie auch kollektiv für gelingende Kulturentwicklung zu gelten hätte: die Befähigung zur kritischen Selbstbesinnung, zur realistischen Urteils-, Liebes- und Arbeitsfähigkeit, kurz: die (Wieder-)Herstellung von Reife und Autonomie. (7)
Dass Freud hier Onto- wie Phylogenese parallel führt bzw. ineinander übersetzt, hat den Zweck, darzulegen, wie prekär sowohl gesellschaftlicher Fortschritt, etwa die Vermittlung der Herrschaft durch das Recht (8), als auch individuelle Reifungsprozesse hin zu einer ersehnten Stärkung bzw. Reifung des Ichs bislang geblieben sind und angesichts der Übermacht objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse, denen das Individuum ziemlich schutz- und hilflos, im derzeit besten Fall als Arbeitskraftbehälter bloß funktional angehängt ist, auch bleiben müssen. Wenn man Freuds Ontologie des falschen Zustands, seinen ahistorischen, funktionalen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft (9), in der Partial- und Allgemeininteresse als bereits versöhnt unterstellt werden, weshalb er auch unumwunden ein handelndes Kollektivsubjekt der Gattung unterstellt, nicht teilt, gilt es dennoch, die kritischen Einsichten der Psychoanalyse und die Potenzen, die sie auch bei Freud aufweist, gegen manche Beschränkung ihres Autors zu wenden, was die Kritische Theorie, vor allem bei Adorno und Marcuse, dann ja auch getan hat.
Wenn manche heute im Westen aber zunehmend eine „heilige Scheu“ – so Freuds Übersetzung des polynesischen Wortes Tabu – an den Tag legen, des Holocausts zu gedenken, während sie sich gleichzeitig über die Barbarei derjenigen ausschweigen, die diesen zu wiederholen sich anschicken, oder wie die Gender-Professorin Antje Lann Hornscheidt von der HU in Berlin, die magisches Denken mit Wissenschaft verwechselt, nicht als Mann oder Frau, sondern als „verehrtx Profx“ angesprochen werden wollen (10), dann wären diese bizarren Phänomene samt der ihnen unterlegten Theorien vor dem Hintergrund der dynamischen Einsichten Freuds als klassischer Fall einer den Tabus und Zwangshandlungen zugrundeliegenden infantilen Gefühlsambivalenz aufzufassen. Denn offensichtlich an diesen „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“-Infantilismen ist, dass hier ein primitives Vermeidungsverhalten am Werk ist, das alle Züge magischen Denkens trägt, setzt es doch konsequent psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher.
Und zwar insofern, als sich in der Weigerung, reale Sachverhalte auch nur auszusprechen, das „Haupt- und Kernverbot bei der Neurose“ offenbart, das, wie beim Tabu auch, die Berührung umfasst, woraus sich sein Name „Berührungsangst, délire de toucher“ ableitet. Freud macht darauf aufmerksam, dass der Bedeutungsumfang dieser Berührungsangst auch den der „übertragenen Rede“ annehmen kann, im Sinne von „in Berührung kommen.“ Die „Gedankenberührung“ wird aus diesem Grund wie auch der unmittelbare, leibliche Kontakt perhorresziert. Wie kleine Kinder also, die sich versteckt zu haben glauben, wenn sie sich nur die Augen zuhalten, glauben die zwanghaften britischen Studenten oder auch die deutschx feministischx Sprachkämpfx, einen Beitrag zur Bekämpfung des Bösen, in ihren Augen also des Westens oder der Heteronormativität zu leisten, indem sie bestimmte Sprachhandlungen unterlassen, so als ob die Fakten, die historische Wahrheit oder auch das biologische Geschlecht erst mit ihrer Benennung in die Welt kämen.
Wenn es also stimmt, was Freud sagt, dass es nahe liegt „die Hochschätzungen und Überschätzungen der psychischen Aktionen bei den Neurotikern und Primitiven in Beziehung zum Narzissmus zu bringen und sie als wesentliches Teilstück desselben aufzufassen“, wir also „im Nachweis der Allmacht der Gedanken bei den Primitiven ein Zeugnis für den Narzissmus erblicken dürfen, so können wir den Versuch wagen, die Entwicklungsstufen der menschlichen Weltanschauung mit den Stadien der libidinösen Entwicklung des Einzelnen in Vergleich zu ziehen. Es entspricht dann zeitlich wie inhaltlich die animistische Phase dem Narzissmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht.“ (11)
Natürlich ist die Einteilung der Menschheitsgeschichte dem Drei-Stadien-Gesetz des Positivismus Auguste Comtes (12) abgeschaut und reflektiert offenkundig das lineare Fortschrittsmodell der Aufklärung des selbstbewussten, revolutionären Bürgertums Frankreichs. Aber im Gegensatz zum Positivismus weiß Freud, dass die früheren Stufen nicht ein für allemal überwunden wurden, sondern eine stets präsente Virtualität behalten – mit den bekannten katastrophischen Konsequenzen. In Zeiten des phantastischen Sturzes des Positivismus käme es deshalb zunächst darauf an, die bewusstseinsunabhängige, reale Außen- bzw. Objektwelt vor den illusionären Wunschphantasien kollektiv regredierender Narzissten zu retten. (13)
Das reife, materialistische Moment, wonach Wissenschaft erst einsetzt, wenn man eingesehen hat, dass man die Welt nicht kennt und darum nach Wegen suchen muss, um sie kennenzulernen, dass man also nach wirklichen, nicht vorgestellten Kausalitäten in den Naturwissenschaften, Geschichtswissenschaften, der Medizin, der Psychologie oder Soziologie fahnden muss, um sich bestenfalls einen kritischen Begriff von Individuum und Gesellschaft machen zu können, um Wege zu finden, das perennierende Leiden abzuschaffen oder wenigstens zu minimieren, gerät zunehmend auch unter Beschuss einer postmodernen Gegenaufklärung, einer sozialen Dekonstruktion bzw. genauer: Destruktion der Wissenschaft mit üblen Konsequenzen. Und zwar in erster Linie für die postkolonialen Subalternen, für deren vorgebliche Rettung vor dem imperialistischen und eurozentrischen Westen der ganze obskurantistische Hokuspokus überhaupt erst erfunden wurde.
Meera Nanda, eine inzwischen in den USA lebende, ganz und gar antiimperialistisch gesinnte Molekularbiologin und Wissenschaftsautorin aus Indien, der man immerhin zugutehalten muss, dass sie an den Voraussetzungen des Denkens (14) rigoros festhält, hat 1997 in einem Artikel (15) für das marxistische US-Journal Monthly Review herausgearbeitet, wie die Ideologeme westlicher, postmoderner, sozial-konstruktivistischer Anti-Wissenschaft zwar weltweit wirken, im konkreten Beispiel aber durch sogenannte neo-gandhianische „indigene Wissenschaftsbewegungen“, die sich aus den Hindunationalisten der BJP (16) rekrutieren, aufgegriffen werden. Diese bringen behauptete kulturelle Eigenheiten gegen Bemühungen um eine vernünftige Unterrichtung in den ländlichen Gebieten und urbanen Slums Indiens durch die people’s science movements (17) in Anschlag.
Deren Aufklärungskampagnen „bringen die Bildung in den modernen wissenschaftlichen Vorstellungen, vor allem denen, die aus der modernen ,westlichen‘ Biologie stammen, voran […] Evolutionstheorie, die Gesetze der Physik nach Newton und beziehen diese auf das Alltagsleben der Menschen unter Zurhilfenahme aller verfügbaren kulturellen Mittel: über Klassenräume, bis hin zu Kunstmärkten, Liedern, Straßeneckentheatern und Wissenschaftsprozessionen“. Beispiele dieser Bildungstätigkeit umfassen Astronomiekurse, die die Laufbahn eines der Erde nahekommenden Kometen erklären oder solche, die über einen Parasiten aufklären, der eine nationale Panik hinsichtlich eines „Fluches“, der auf grünem Gemüse liege, auslöste.
Die indigenen Gegenbewegungen auf der anderen Seite, die die indische Lebensweise (18), also religiösen Obskurantismus, Kastensystem und Unterjochung der Frauen, konservieren wollen, stemmen sich vehement gegen diese Unternehmungen und „erschaffen vollkommen neue Wissenschaften, in denen selbst die Naturgesetze unterschiedlich sind, da sie ihre Legitimierung als Tatsachen aus einer Weltsicht ableiten, die organisch und authentisch auf den ,way of life‘ der Menschen bezogen ist, die in diesen Gesellschaften leben.“ So haben beispielsweise hinduistische „revivalist parties“ in den Bundesstaaten, in denen sie an die Macht kamen, die moderne Mathematik durch eine „offensichtlich falsche Version ,Vedischer Mathematik’“ ersetzt. Wie unschwer zu bemerken, zählt das Nicht- bzw. Falschrechnenkönnen sicherlich nicht zu den besten Voraussetzungen für mittellose indische Subalterne, um sich den brutalen Zwängen des Weltmarktes stellen zu können bzw. zu müssen.
Gemein sind den indisch-indigenen wie auch den westlich-sozial-konstruktivistischen Ideologen für Volksverdummung jedenfalls die wesentlichen Annahmen des „Strong Programme“ der Soziologie der Wissenschaften nach David Bloor und Barry Barnes (19): „dass die physische ‚Wirklichkeit‘ nicht weniger als die soziale ‚Wirklichkeit‘ im Grunde ein soziales und linguistisches Konstrukt ist; dass wissenschaftliches ‚Wissen‘, weit davon entfernt objektiv zu sein, die dominanten Ideologien und Machtbeziehungen der Kultur reflektiert und verschlüsselt, die es hervorgebracht hat; dass die Wahrheitsansprüche der Wissenschaft inhärent theoriegeladen sind und dass der Diskurs der scientific community, trotz seines unbestreitbaren Werts, keinen privilegierten epistemologischen Status beanspruchen kann im Hinblick auf die gegenhegemonialen Narrative, die von dissidenten oder marginalisierten Gemeinschaften ausgehen.“ (20)
Oder um diesen Quatsch mit den Worten der Kulturpsychologen Kenneth und Mary Gergen (21) zuzuspitzen: „Es gibt keine besondere Konfiguration von Worten oder Sätzen, die in einzigartiger Weise mit dem verbunden ist, was wir entweder die Welt ‚da draußen‘ oder ‚hier drinnen‘ nennen. Wir mögen wünschen darin übereinzustimmen, dass ‚etwas existiert‘, aber was auch immer ‚existiert‘, stellt keine Ansprüche an die Konfiguration der Phoneme oder Sätze, die Menschen gebrauchen, um darüber zu sprechen. Aus diesem Grund entziehen wir jeder Person oder Gruppe das Privileg einen überlegenen Wissensanspruch bezüglich dessen, was existiert, zu erheben. Im Hinblick auf die Wahrheit (einer Passung von Wort und Welt) oder Vernunft (das Arrangement der Wörter selbst), kann keine Wissenschaft, Religion, Philosophie, politische Partei oder andere Gruppe ultimate Überlegenheit beanspruchen. Positiver ausgedrückt: ‚Die Welt kontrolliert nicht, was wir aus ihr machen.’“ (22)
„Die Welt kontrolliert nicht, was wir aus ihr machen“ – Pippi Langstrumpf käme sicherlich zu keinen anderen Schlüssen. Resultat dieser magischen kosmischen Harmonie ist indessen, konsequent zu Ende gedacht, dass es keinen Unterschied zwischen dem Wahn und seiner Kritik, zwischen Himmler und Adorno, mehr gibt bzw. geben kann. Die Annahme etwa, dass die Juden die Welt regieren, weswegen man alle Gewalt aufbieten, um diese „Gegenrasse“ zu vernichten, und dabei selbst natürlich „anständig“ bleiben muss, ist hiernach eine Sichtweise, die genauso „gültig“ wie ihr Gegenteil ist. Womit dann allerdings auch das Konzept des „gültig seins“, d.h. der Geltung, und dem, was daran hängt, also Sprache, Logik und Wahrheit jeglichen Sinn verlieren. Das Denken zerstört sich mit den Mitteln des Denkens selbst.
Und das hat Tradition; man werfe nur einen Blick in Die deutsche Ideologie, Marxens Auseinandersetzung mit Max Stirner und den deutschen Sozialisten, oder auf die Idealisten der deutschen, politischen Romantik wie Herder und Konsorten. Diese hatten, worauf Alain Finkielkraut einmal hingewiesen hat, bereits der Philosophie der Aufklärung vorgeworfen, sich arrogant im Geist über das Sein zu erheben, anstatt demütig anzuerkennen, dass „es“, also der Volksgeist, immer schon in uns bzw. uns denkt. Diese Niederlage des Denkens, so der Titel seines Essays, wird heute zwar ein wenig postmodern aufgehübscht, der Sache nach aber inzwischen global fortgeführt. Gegen den universalistischen Geist, die Vernunft, bringen die postmodern gestimmten Ewiggestrigen die Sprechorte, d.h. die Situiert- sowie Positioniertheit und damit die Perspektiven der nicht mehr urteilenden, aber dafür umso mehr empfindenden Subjekte in Stellung und tragen in lässiger Unbekümmertheit dazu bei, die „Schreie der Rebellion und des Leidens [zu] unterdrücken, sobald die Knute [nur] eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist“ (Marx). Wenn man diese Entwicklung als das denunzieren will, was sie ist, ein selbst- und fremdgefährdendes Delirium, wird man nicht darum herumkommen, am Projekt der Aufklärung festzuhalten und immer wieder zu betonen, dass, wie der dänische Semiotiker Frederik Stjernfelt einmal lapidar festgehalten hat, „[d]ie Feier des menschlichen Opfers, des Krieges, der Steinigungen und des Abschneidens von Händen [und Köpfen, P.W.] [nicht] ein Wertmaßstab und das Streben nach Kunst, Wissenschaft und Demokratie ein anderer [ist], wobei es unmöglich [sei] zu behaupten, dass der eine dem anderen überlegen ist.“ (23)
Freuds in Die Zukunft einer Illusion geäußerter, zaghafter Hoffnung auf eine „Erziehung zur Realität“ sind damit Grenzen gesetzt, die gesellschaftlicher, nicht individueller Natur sind. Auch wenn er das Problem – die Kulturfeindschaft aufgrund irrationaler Triebopfer – realistisch bestimmt (24), zieht er jedoch die falschen, weil elitären Schlüsse. Bereits in seiner vor dem ersten Weltkrieg veröffentlichten Schrift Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie artikuliert Freud, worauf Johann August Schülein in seiner Studie aufmerksam macht, „tiefere Einsichten in die gesellschaftliche Wirklichkeit als jedes formaldemokratische Ausgehen vom sog. ‚mündigen Bürger’“ (25). Dort schreibt Freud treffend: „Über die Bedeutung der Autorität brauche ich Ihnen nicht viel zu sagen. Die wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu existieren oder auch nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritätssucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg genug vorstellen.“ (26)
Später, in Die Zukunft einer Illusion, äußert er sich hinsichtlich der Schicksalsfrage der Menschheit, „ob und wieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den ebenso verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen“ dann auch folgendermaßen: „Nur durch den Einfluss vorbildlicher Individuen, die sie [gemeint sind die Massen, P.W.] als ihre Führer anerkennen, sind sie zu den Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist.“ Freud bewegt sich somit im Teufelskreis einer selbst geschaffenen Antinomie: denn wie soll es gelingen, „die kulturfeindliche Mehrheit von heute zu einer Minderheit herabzudrücken“ (27), wenn das Heilmittel dagegen doch von Anfang an zugleich die Ursache der Kulturfeindschaft war, der Teufel also mit dem Beelzebub ausgetrieben werden soll?
So rational Adornos Einsicht auch ist, der von Freud als Existential postulierten Lebensnot bzw. Ananke, die „heute in ihrer gesellschaftlichen Gestalt als überholt durchsichtig wird“ (28), von Freud aber nicht gesellschaftlich gedacht und damit – ganz der Bürger – zum Schicksal hypostasiert wird, wie folgt zu begegnen: „Wird jedoch in einer Gesellschaft, in der Hunger angesichts vorhandener und offensichtlich möglicher Güterfülle jetzt und hier vermeidbar wäre, gleichwohl gehungert, so verlangt das Abschaffung des Hungers durch Eingriff in die Produktionsverhältnisse“ (29) – so sehr stellt sich aber auch für Adorno das nämliche Dilemma, die entscheidende Frage nach dem Subjekt dieses Eingriffs, denn „während die Kultur zwar misslungen ist, und misslungen ist aus ihrer eigenen Schuld, die an ihr gerächt wird, ist die unmittelbare Barbarei, die durch ihr Misslingen herbeigeführt wird, dann immer noch das Schlimmere. Es ist ein metaphysischer Fehlschluss, [...] dass man deshalb, weil die Kultur misslungen ist, weil sie also das nicht gehalten hat, was sie verspricht; weil sie Freiheit, weil sie Individualität, weil sie wahre Allgemeinheit den Menschen vorenthalten hat, weil sie also ihrem eigenen Begriff nicht genügt hat, dass sie deshalb nun zum alten Eisen zu werfen und frisch-fröhlich durch die zynische Herstellung der Machtverhältnisse unmittelbar zu ersetzen sei. Es ist einer der gefährlichsten Irrtümer [...], anzunehmen, dass etwas deshalb, weil es nicht das ist, was es verspricht, weil es noch nicht sein eigener Begriff ist, auch schlechter sei als das Gegenteil der puren Unmittelbarkeit, das es zerstört.“ (30)
Nicht erst um das „Ich“ des Marxschen Imperativs, das „geschichtlich erst erstarkt sein [muss], um über die Unmittelbarkeit des Realitätsprinzips hinaus die Idee dessen zu konzipieren, was mehr ist als das Seiende“ (31) steht es schlecht, sondern, wie dargelegt, auch um das, was im Stande der Unfreiheit den Rückfall in die Barbarei zu verhindern hätte; den einzigen Fortschritt, den er noch avisierte, und der nicht erst mit dem Genozid in Ruanda ausgeblieben ist und bis dato ausbleibt, fasste er in bereits erwähnter Vorlesung wie folgt: „Ich glaube, wenn Sie zunächst einmal unter Fortschritt denken: dass es besser wird, dass keine Angst mehr ist – dann haben Sie ja gewiss nicht eine zeitlose und absolute Definition von Fortschritt, aber doch die konkrete Gestalt, in der dieser Begriff heute allenfalls erscheinen kann. Denn Fortschreiten heute heißt ja wirklich nichts anderes, als die totale Katastrophe vermeiden und verhindern; und ich würde sagen, wenn sie nur verhindert und vermieden wird, dann ist das eigentlich bereits der Fortschritt um das Ganze.“ (32)
Zur Voraussetzung einer Staats- und Kapitalkritik, die ihren Namen verdient, gehört es, nicht von der psychischen und ideologischen Verfasstheit der Staatssubjekte zu abstrahieren, denn die gelingende Realisierung der versöhnten Gesellschaft hängt an der Urteilsfähigkeit reifer, nicht pathisch projizierender Individuen. Zu dieser Reife zählt vor allem die illusionslose Bestandsaufnahme der wirklichen Verhältnisse, die Ablehnung halluzinatorischer Wunschbefriedigungen und Allmachtsvorstellungen. Dass diese nüchternen, selbstreflexiven Eigenschaften historisch am männlichen bürgerlichen Individuum der Aufklärung gewonnen wurden, spricht nicht gegen diese Eigenschaften, wie es eine phantastische Privilegien- und Aufklärungskritik verkommener Diskurslumpen will, sondern bloß gegen deren gesellschaftliche Partikularisierung. Das also wäre im Kern der Zusammenhang und Widerspruch von Genese und Geltung.
Philippe Witzmann (Bahamas 70 / 2015)
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