Linke, auch antideutsche Linke, lieben die Revolution. D.h.: Sie betrachten die Revolution nicht als den Akt, durch welchen die Gesellschaft zum Besseren gebracht werden, dem menschlichen Miteinander ein reicherer Inhalt gegeben, die Geschichte gar doch noch einem Sinn zugeführt werden könnte, also nicht als Mittel zum Zweck; vielmehr stellt die Form schon zugleich den ganzen Inhalt her. Form und Inhalt fallen zusammen im sich selbst genügenden Kampf, um den sich alles Handeln und Denken dreht. Mehr steckte nie hinter den von der Avantgarde einst zur eigenen Ermunterung erfundenen Parolen wie „permanente Revolution“ und „revolutionärer Kampf“; es ist alles bloß Tautologie.
Dass damit zu Hause kein Staat mehr zu machen war, hatte man längst wissen können, als Anfang der neunziger Jahre sogar die Rote Armee Fraktion ihre Kapitulationserklärung unterschrieb. Zweifellos hatte schon die Bader-Meinhof-Bande, als sie den revolutionären Irrwitz der 68er ernst zu nehmen begann, mit der Revolution, die sie im Munde führte, nichts mehr, mit sich selbst dafür um so mehr zu tun: Der Klassenkampf, den sie im Namen des asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Antiimperialismus’ in die Metropolen tragen wollte, verlief sich alsbald in die Knäste, erreichte seinen Höhepunkt aber erst, als er aus den Zellen heraus weitergeführt wurde; denn von Beginn spielte er sich doch hauptsächlich innerhalb der kämpfenden Gruppe selbst ab, deren im Untergrund hausenden Mitglieder sich umso stärker mit den Massen außerhalb der revolutionären Zelle verbunden fühlten, desto eher man die Zahl der Unterstützer an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Es ging am Ende für jeden einzelnen Kombattanten nur noch darum, seine revolutionäre Haltung zu bewahren, darum, wer der Radikalste und Unbeugsamste von allen, und wer der Verräter sei, endlich, wer den Hungerstreik durchhalte bis zur letzten Konsequenz: ¡Revolución y muerte!
Da nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Guerilleros El Salvadors, für welche die Taz in den achtziger Jahren noch Geld zum Waffenkauf gesammelt hatte, ihre Kalaschnikows wegwarfen, standen dem revolutionären Nachwuchs, der es noch nicht gerafft hatte, zunächst nur noch die türkischen Kurden als Objekt zur Verfügung. Der marxistisch-leninistisch-stalinistischen usw. Kurdischen Arbeiterpartei, der PKK, die seit den achtziger Jahren ihren Volkskrieg gegen die türkische Armee führte, war es sogar noch einmal gelungen, einige Linksradikale aus Deutschland in die Berge Kurdistans zu locken; etwas Vergleichbares hatte es seit der legendären Komplizenschaft deutscher und palästinensischer Terroristen zwanzig Jahre zuvor nicht mehr gegeben. Natürlich wusste die neue Generation deutscher Klassenkämpfer nicht mehr, dass die PKK-Milizen ihren militärischen Drill in genau derselben Gegend verabreicht bekamen, in der schon die RAF-Genossen das Schießen von der PLO gelernt hatten: im Bekaa-Tal, im von Syrien besetzten Libanon, wo sie sich jetzt, nachdem Israel die Arafat-Banden nach Tunesien verjagt hatte, das Gelände mit der Hizbollah teilen mussten, von deren bewaffnetem Kampf sie sicherlich auch keine Ahnung hatten.
Die PKK-Genossen lieferten der Türkei einen ordentlichen Guerillakrieg, der zehntausende Tote überwiegend auf kurdischer Seite kostete, aber auch der türkischen Armee und den keiner revolutionären oder militärischen Formation angehörenden türkischen Bürgern viele Todesopfer abverlangte. Da ein beträchtlicher Teil der PKK-Milizen samt ihrem Anführer sich in Syrien versteckt hielt und Verhandlungen zwischen der türkischen und der syrischen Regierung zu keinem Ergebnis führten, drohte die Türkei schließlich damit, in Syrien einzumarschieren. Die Drohung wirkte und die PKK musste Hals über Kopf aus Syrien verschwinden. In der Folge kam es 1999 zur Gefangennahme Abdullah Öcalans, kurz darauf zur Kapitulation der PKK. So endete auch dieser bewaffnete Kampf samt seines Sympathisantentums — vorläufig, wie wir jetzt wissen.
Revolutionäre Antizionisten hatten natürlich stets noch die Palästinenser in der Reserve. Es ging also zunächst weiter mit der Al-Aqsa-Intifada, die im Jahre 2000 vom Zaun gebrochen wurde, als ein Jude, nämlich Ariel Sharon, den von den Palästinensern als islamisches Eigentum beanspruchten Tempelberg besuchte. Aber die jetzt immer ätzender werdende Kritik der Antideutschen verdarb der neuen Generation deutscher Revolutionäre gründlich den Spaß daran, sich diesmal im Namen der internationalen Solidarität auf die Seite palästinensischer Kindermörder zu schlagen; die letzte Schlacht, sang es in ihrem Ohr, verlieren wir! Denn die linksradikale Szene spaltete sich, und es sah nun so aus, als ob der antisemitische Teil der Antifa nur noch eine Minderheitsfraktion auf die Beine zu stellen vermöchte.
In der Retrospektive mag es allerdings so scheinen, dass ein Teil der Überläufer ins antideutsche Lager nur das Palästinensertuch mit der Israelfahne vertauscht hätte – ein Geschäft mit Umtauschrecht, das allzu leicht storniert werden konnte, denn manch frischgebackener Antideutscher hatte es anscheinend immer noch nicht gerafft. Zunächst könnte man, rückblickend, in der zuerst nicht sehr auffallenden Neigung zum Philosemitismus die unüberwundene Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einem Volk, und sei es nicht das eigene, ausmachen, vor allem aber in der auffällig lustvollen Leidenschaft für die israelischen Streitkräfte, insbesondere für die bereits ins Pornographische spielenden Fotos bewaffneter jüdischer Mädchen in brustbetonten Uniformen – ganz ähnlich denen, wie sie in der jüngsten Kurden-Solidarität herumgepostet wurden – schimmerte schon wieder die Lust am Kampf um des Kampfes und der Revolution um der Revolution willen durch. Dass das Soldatentum und Waffen an sich verabscheuungswürdige Dinge darstellen, die nur zur Not und mit Widerwillen zu gebrauchen sind, und auf die ein halbwegs gesunder psychischer Apparat mit Angst statt Lust reagieren würde – schon diese so einfache humane Wahrheit wird in jenem Fetischismus von Revolution und Kampf verdrängt und alsdann negiert, d.h. in ihr Gegenteil verkehrt. Israel jedoch ist kein Wechsel auf den Kommunismus, wie jene antideutschen Linken, die es nicht lassen können, immerfort spekulieren müssen; die israelischen Streitkräfte, die lediglich der Verteidigung des bürgerlichen Staates dienen, der gar nicht revolutionären politischen Organisation, die sich die Juden zu ihrer Selbstbehauptung geschaffen haben, können die Revolutions- und Kampfeslust daher nur projektiv, schon gar nicht auf Dauer befriedigen.
Doch dann kamen ja endlich die Araber. Ihre Revolution zog auch viele antideutsche Linke an und zurück in den Bann des Volksaufstands nach alter Manier. Der revolutionäre Trieb, der nach einer Phase erzwungener Abstinenz, weil die Weltbühne ihm keine passende Projektionsfläche mehr darbot, nach Abfuhr verlangte, hatte endlich wieder ein geeignetes Objekt gefunden, als sich die rebellierende Menge auf den Straßen Ägyptens versammelte wie einst die Autonomen am ersten Mai in Kreuzberg. Es mussten jetzt bloß noch Transparente mit Aufschriften wie „Demokratie“, „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ hochgehalten, photographiert und via Facebook geteilt werden, um den willigen Auslandsreporter bei der Jungle World, der Taz oder der ARD davon zu überzeugen, dass hier eine Revolution à la 1848 im Gange sei. Die hinter den Transparenten versteckte Moslembruderschaft konnte man schlecht sehen, vor allem weil man sie nicht sehen wollte, denn zu süß lockte das zu lange versagte Liebesglück. In Libyen waren es gar junge Burschen mit einem Patronengurt über der von der afrikanischen Sonne gebräunten Schulter und der bewährten Kalaschnikow im Arm, die den beinah vergessenen Traum vom bewaffneten Kampf wieder in Erinnerung riefen. Wer wollte da noch wissen, dass es sich dabei womöglich um Stammeskrieger und islamische Terroristen handelte, die hier schon wenige Jahre später eine Provinz des nach hundertjährigem Koma wiedererwachten Kalifats errichten würden?
Als in Ägypten die zweite Runde der Revolution ihren Anfang nahm – wiederum ein Volksaufstand, der diesmal jedoch eine Konterrevolution, nämlich den Sturz der in der ersten Runde an die Macht gelangten Moslembruderschaft, mit der sich die internationale Solidarität nicht recht anzufreunden wusste, vorbereitete – verliebte man sich gleich wieder in sie. Diesmal gipfelte die Revolution allerdings in einem Putsch, die neue Braut war das alte Militär, sodass die vormaligen Machtverhältnisse wieder hergestellt waren. Die Kampfeslust war damit vollends befriedigt. Seither herrscht darüber Schweigen im linken und antideutsch-linken Blätterwald; von dem aus der libyschen Revolution hervorgegangenen Bandenkrieg ganz zu schweigen.
Gott sei Dank hatte die syrische Revolution noch einige Überraschungen auf Lager. Als die Bahamas zu Beginn dieser Revolution behauptete, dass sie auch keine bürgerliche, westliche oder sonst eine sei, die wenigstens eine wenn auch noch so geringe Verbesserung im Vergleich zu den vorgefundenen Zuständen erwarten lasse, sondern wieder bloß eine islamische Revolution, bei der diesmal womöglich al-Qaida und verwandte Banden den Sieg davontragen würden, dass diese Revolution jedenfalls die Lage für die Bürger in Syrien auf drastische Weise zu verschlimmern drohe, konnte eine so düstere Prophezeiung von jenen, die schon zuvor ihre Bereitschaft zu jedweder Realitätsverleugnung demonstriert hatten, natürlich nur als konterrevolutionäre Propaganda oder Komplizenschaft mit dem Assad-Regime aufgefasst werden.
Ganz so, als gelte es etwas nachzuholen, oder zu vertuschen, verrichtete die Projektionsarbeit diesmal ihre Pflicht so gründlich und ausdauernd wie nie zuvor: Der wahre Charakter der syrischen Revolution musste selbst nach der Ausrufung des Kalifats noch geleugnet werden. Was nicht von selbst in das revolutionäre Pathos passt, wird halt zurechtgebogen. Dementsprechend wurde entweder behauptet, nicht die Revolution, sondern das Assad-Regime habe den Islamischen Staat mit der Absicht hervorgebracht, sich der internationalen Staatengemeinschaft als kleineres Übel anzudienen und/oder die USA seien dafür verantwortlich, und zwar entweder weil sie im Irak interveniert beziehungsweise weil sie in Syrien nicht interveniert hätten.
Die Botschaft dieser Art von Erklärungen ist stets, dass die Revolution so schön begonnen habe und ebenso schön geendet haben würde, wenn nicht irgendwelche finsteren Mächte oder außenpolitische Dilettanten dazwischengefunkt oder – ersatzweise – nicht dazwischengefunkt, d.h. durch Nichtstun die gute Sache zum Scheitern verurteilt hätten; kurz gesagt: Die Produkte der Projektion galt es gegen die Produkte der Wirklichkeit zu verteidigen.
Wie sehr wahngetrieben das ist, wurde symptomatisch, als die Islamexperten der Jungle World die USA der Komplizenschaft mit dem Assad-Regime endlich deswegen bezichtigten, weil die amerikanischen Luftangriffe gegen den IS, die sich zunächst auf irakisches Territorium konzentriert hatten, im September 2014 auch Stellungen von al-Nusra trafen, jenem syrischen al-Qaida Ableger, dem die revolutionären Truppen der Freien Syrischen Armee tatsächlich ihre größten militärischen Erfolge zu verdanken haben; das „ziellose Eingreifen“ der USA, analysieren die Chefstrategen des Blattes, nützte vor allem dem IS selbst. Das revolutionäre Expertentum strebt so seiner eigenen Logik folgend einem Zustand zu, vor dem sich der Kranke halbbewusst am meisten fürchtet: dass die Welt, wie sie sich ihm im Innern seiner Kopfkugel darstellt, in der Außenwelt keine Anhaltspunkte mehr findet, woran die Projektionsarbeit ihre Verknüpfungen heften könnte, um die Kluft zwischen beiden Welten doch noch notdürftig zu überbrücken, wodurch schließlich der Realitätsverlust offensichtlich wird.
Im Sommer 2014, mit der Offensive des Islamischen Staates (IS), schien es also so weit gekommen zu sein. Wobei zunächst gar nicht einzusehen war, was die Linken am IS eigentlich auszusetzen hatten. Ist das etwa keine ordentliche Revolution, was da vor sich geht? Die IS-Krieger sehen doch nicht nur aus wie der leibhaftige Che Guevara, sie verstehen auch etwas vom bewaffneten Kampf, das ist kaum zu leugnen. Nehmen sie die auf revolutionären Demonstrationen beliebte Parole – „Feuer und Flamme für den Staat“ – etwa nicht beim Wort? Zerschlagen sie nicht die althergebrachten Stammesverhältnisse und stellen sie nicht überhaupt die gesellschaftliche Ordnung noch gründlicher auf den Kopf als es je ein 68er sich zu träumen getraut hätte? Doch: Oh nein, hieß es plötzlich, so ernst habe man die Parolen ja gar nicht gemeint.
Aus dieser Klemme half alsbald eine andere, zwar nicht ganz unverdorbene, aber doch im frischen Kleide daherkommende Revolution, die nur darauf wartete, von den Sachverwaltern der internationalen Solidarität umarmt zu werden: die Rojava-Revolution.
Die PKK, das frühere Subjekt des kurdischen Volksaufstands in der Türkei, das der linksradikalen Szene in den neunziger Jahren als Objekt ihrer revolutionären Projektionen diente, musste sich nach ihrer Flucht aus Syrien und der Gefangennahme ihres Anführers in den vergangenen 15 Jahren mit revolutionärem Durchhaltewillen über Wasser halten. Während Abdullah Öcalan die Zeit in seiner Gefängniszelle inmitten des Marmara-Meeres dazu nutzte, eine erstaunliche Metamorphose vom nationalistischen Stalinisten zum antinationalistischen Anarchisten zu vollziehen, womit er seine der Esoterik aufgeschlossene Gefolgschaft davon überzeugte, dass die soeben erlebte militärische Niederlage ein menschlicher Gewinn gewesen sei, verschlangen die übrig gebliebenen PKK-Milizen seine dünnen Broschüren in den kargen, aber deshalb angeblich umso schöneren Qandil-Bergen im Norden Iraks, wo jetzt zu allem Übel Masoud Barzani im Bündnis mit den USA und der Türkei eine erfolgreiche Kurden-Revolution anführte; mit seinen Peschmerga hatte sich die PKK keine zehn Jahre zuvor, als sie noch stark war, einen kleinen innerkurdischen Bürgerkrieg geliefert. Die PKK fand sich offensichtlich in jeglicher Beziehung – militärisch, politisch und ideologisch – auf verlorenem Posten. Entsprechend uninteressant wirkte sie für die internationale Solidarität.
Das änderte sich schlagartig mit der Schlacht um die Stadt Kobane. Von einem Tag auf den anderen hatte die Kurden-Solidarität wieder Konjunktur, und nicht nur, dass sie, wie früher, die linksradikale Szene anzog, auch auf die antideutsche, ja die gesamtdeutsche Linke einschließlich Sozialdemokratie und Friedensbewegung übte sie diesmal ihre magische Wirkung aus – schließlich sogar bis in die CDU hinein. Solidaritätsdemonstrationen wurden organisiert, Solidaritätskonten eröffnet, in der Kulturhauptstadt Berlin wurde das „Nachtleben für Rojava“ ausgerufen und in Kreuzberg gab es Kobane-Kebap zum Schnellverzehr – mit Solidaritätszuschlag, versteht sich.
Das Beeindruckendste daran war jedoch nicht das Ausmaß der neuen Kurden-Solidarität, sondern ihre Begründung. Während der Kommandeur der Kobane angreifenden IS-Truppen den Verteidigern der Stadt via Youtube mitgeteilt hatte, dass keiner von ihnen diese Schlacht überleben werde, kam keiner der Organisatoren der Demonstrationen, kein Aufrufverfasser und Aufrufunterschreiber auch nur auf die Idee, die Rojava-Solidarität mit der Rettung des Lebens der in der Stadt eingeschlossenen Menschen zu rechtfertigen. Ein einfaches Menschenleben genügte nicht, es musste wenigstens eine Revolution sein, weswegen man demonstrierte, spendete oder einen Kobane-Kebap verspeiste, sodass kein Solidaritätsaufruf ohne den Hinweis darauf auskam, dass hier ein fortschrittliches und emanzipatorisches Projekt samt Ökologie, Feminismus und Rätekommunismus auf dem Spiel stünde; jedes Mal musste die komplette Revolutionsesoterik aus den Broschüren Abdullah Öcalans als Motivation für die Rojava-Solidarität heraungezogen werden. Die Rojava-Solidarität darf daher als Paradebeispiel dafür genommen werden, wie viel ein Menschenleben in revolutionären Zeiten wert ist. Natürlich dachte auch die für ihren Märtyrerkult bekannte PKK keinen Moment an eine Flucht aus Kobane.
Wirklich überrascht sein durfte man dann davon, wie schnell die Kritik an der Rojava-Solidarität in der Jungle World zu Wort kam. Schon zwei Monate nach dem Beginn der Schlacht um Kobane stellte dort Felix Klopotek „Unbequeme Fragen“ in einem Artikel unter dem gleichlautenden Titel (Jungle World 47/2014). Es waren Fragen wie die nach der Legitimität von Analogien zwischen Kobane, Warschau, Stalingrad oder Madrid, wie sie in der Rojava-Solidarität bemüht wurden, oder nach der Glaubwürdigkeit der Metamorphose der PKK, also danach, ob die Partei jetzt auch wirklich gegen Staat und Nation sei. Die Fragen gipfeln schließlich in einer Kritik des Denkens in Kategorien des „kleineren Übels“, das er der Rojava-Solidarität für den Fall unterstellt hatte, dass sie sich den vorhergehenden Fragen nicht stellt. Wenn nämlich, wird argumentiert, die „überschwengliche Solidarität“ auf „inhaltlichen Positionen“ gründet, die, sobald man die richtigen Antworten auf die unbequemen Fragen gefunden hat, „nicht mehr haltbar wären, was bliebe dann übrig? Dass die PKK angesichts des IS das kleinere Übel wäre?“ Soweit kann man der Fragerei folgen. „Aber“, geht es dann jedoch weiter, „liegt nicht in der Logik des ‚kleineren Übels‘ schon die Aufgabe einer allgemeinen, übergreifenden, verbindlichen, man würde wohl sagen: universalistischen Perspektive? Wenn wir uns für ein kleineres Übel entscheiden, dürfen dann die ‚anderen‘ nicht auch ihres wählen? Ist aus der Sicht von sunnitischen Arabern, von denen in Syrien 200.000 abgeschlachtet wurden und auf die in Bagdad schiitische Todesschwadronen Jagd machen, ist aus deren Sicht nicht der IS das ‚kleinere Übel‘? Führte die Wahl eines ‚kleineren Übels‘ nicht schnurstracks in Sackgassen, an deren Ende schon die Großmächte warten – ob die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien, Russland oder die USA –, die schließlich ihr Spiel spielen werden?“ Tja, so läuft das nun einmal, Herr Klopotek – die USA sind am Ende sowieso immer das größte Übel. Aber richtig übel wird es immer erst dann, wenn Linksradikale zum Gegenschlag ausholen. So auch hier: „Und was wäre dann die Perspektive? Natürlich – und an dieser Stelle keine Frage – die Selbstorganisation des Proletariats, der Frauen und Subalternen, wie sie schon ansatzweise im ‚arabischen Frühling‘, über den das letzte Wort noch nicht gesprochen ist (so wie, um auch mal eine Analogie zu bemühen, die blutig gescheiterte russische Revolution von 1905 auf 1917 verweist), zu beobachten war.“
Da sind wir also wieder zurück bei den Arabern, und damit dem Rätsel auf der Spur, was der Auslandsredaktion der Jungle World an der Rojava-Solidarität dermaßen missfiel, dass sie eine regelrechte Kampagne dagegen betrieb. Um ein letztes Mal Herrn Klopotek zu Wort kommen zu lassen: „Vor zwei, drei Jahren mangelte es nicht an Medienberichten, die der PKK und ihrem syrischen Ableger PYD eine – mindestens – De facto-Kollaboration mit dem Regime Bashar al-Assads unterstellten. Die PKK beteiligt sich nicht an einer gemeinsamen Front gegen Assad, dafür wird ihr ein begrenzter Separatfrieden zugestanden: kantonale Selbstverwaltung. Wieso ist von diesen Berichten nicht mehr die Rede? Sind sie widerlegt? Ist das, was ein großer Teil der Linken als Hort der Stabilität und der Menschenrechte inmitten des gnadenlosen Bürgerkriegs ansieht, nicht nur ein Produkt dieses Bürgerkriegs, sondern hat – indirekt – dazu beigetragen, ihn zu brutalisieren, eben weil die PYD eine gemeinsame, schlagkräftigere Front gegen Assad hintertrieben hat?“ Was hier noch einmal in Frageform und quasi en passant formuliert ist, wurde in der nächsten Ausgabe des Blattes (48/2014) endlich offen als Hauptangriffslinie gegen die PKK-Genossen und ihre linksradikalen Sympathisanten in einem Artikel mit dem Titel „Romantik schadet“ von Elias Perabo und Harald Etzbach ausgegeben.
Schon dessen Ankündigung offenbart, noch etwas verschämt, den kompletten Unsinn der Kritik; es heißt dort: „In Kobane konnte der Islamische Staat erst einmal zurückgeschlagen werden – nicht zuletzt auch aufgrund einer beeindruckenden Welle internationaler Unterstützung. Anstatt die Geschehnisse und die Solidarität in den komplexen syrischen Aufstand einzuordnen, jagt die hiesige Linke lieber ihren eigenen verklärten Revolutionsphantasien hinter her.“
Einmal davon abgesehen, dass hier mit der „beeindruckenden Welle internationaler Unterstützung“ anscheinend und unsinnigerweise die Kurden-Demonstrationen und ähnlich nutzlose Solidaritätsbekundungen in Deutschland gemeint sind, nicht aber die Luftangriffe der USA, die den Verteidigern Kobanes wirklich geholfen haben, wie die PKK-Kommandeure trotz ihres eingefleischten Antiamerikanismus öffentlich zugeben mussten, soll also die Kurden-Solidarität ausgerechnet dafür kritisiert werden, dass sie es versäumt hat, sich in den „komplexen syrischen Aufstand einzuordnen“; dass damit eigentlich „dem syrischen Aufstand unterzuordnen“ gemeint ist, wird an anderer Stelle noch deutlich. Doch schon durch die Wortwahl, mit der darauf gepocht wird, dass in Syrien ein „Aufstand“, ein Wort, mit dem etwas Gutes assoziiert wird, keinesfalls aber ein „Bürgerkrieg“ stattfände, wird, die früher formulierten unbequemen Fragen unbeantwortet und uninteressiert hinter sich lassend, die Kritik an der Rojava-Solidarität unvermittelt darauf zugespitzt, dass die sich mit den Rojava-Kurden dem „Aufstand“ in Syrien verweigert habe: „So wichtig die schnelle Solidaritätsarbeit für Kobane und Rojava war, so erschreckend ist es in gleich mehrfacher Hinsicht, in welch eindimensionaler und selektiver Weise die Geschehnisse von den deutschen Initiativen eingeordnet werden: So wird etwa im Aufruf der Neuen antikapitalistischen Organisation (NaO) und der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (‚Solidarität mit Rojava – Waffen für die YPG/YPJ‘ vom 4. Oktober) anstatt vom syrischen Aufstand gerade einmal vom ‚syrischen Bürgerkrieg‘ geredet, in dessen Mitte die Kurdinnen und Kurden einen fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf verteidigen würden. Die Interventionistische Linke geht in ihrem Rojava-Aufruf (‚Solidarität mit Rojava. Wer wenn nicht wir? Wann wenn nicht jetzt?‘), sogar noch ein Stück weiter und schafft es tatsächlich, abgesehen von einem in Klammern stehenden Hinweis, dass Rojava in Nordsyrien liegt, Syrien überhaupt nicht zu erwähnen. Das ist nicht nur ignorant und unsolidarisch gegenüber allen anderen Kräften in Syrien, es zeigt auch, wie wenig Interesse es an den Hintergründen im Nahen Osten und in Syrien gibt.“
Das ist freilich besonders ignorant und unsolidarisch gegenüber „anderen Kräften in Syrien“ wie al-Nusra, IS und den salafistischen Brigaden der Freien Syrischen Armee, außer denen es in Syrien nichts gibt, das Irgendetwas ausrichten könnte – außer den allgemeinen Naturkräften oder den Streitkräften Assads, die aber vermutlich hier gerade nicht gemeint sind. Die seit dem Herbst 2013 in Jordanien ausgebildeten Soldaten der sogenannten Südfront kämen vielleicht noch in Betracht, würden sie nicht von der CIA bewaffnet, wodurch sie ja im Dienste des allergrößten Übels stehen (vgl. Bahamas 67). Was allerdings das „Interesse an den Hintergründen“ angeht, da scheint man in der Redaktion der Jungle World auf das Desinteresse und das Unwissen der Leser derart zu vertrauen, dass man ihnen jeden Unsinn unterjubeln zu dürfen glaubt – und sei es ein wenig verdeckt auf der „Disko“-Seite. In einem folgenden Abschnitt heißt es nämlich: „Der syrische Aufstand hat dabei nicht nur den Raum für das heutige kurdische Experiment geschaffen, vielmehr waren und sind die Menschen im Nordosten Syriens selbst auch ein Teil dieser Revolution. Vergessen scheint, dass die Menschen auch in Kobane, Amuda und Qamishli unter großen Gefahren seit 2011 auf die Straße gegangen sind, um sich den landesweiten Protesten nach Brot, Würde und Freiheit anzuschließen.“
Wegen eines Brotmangels, liebe Leute, hat niemand in Syrien eine Revolution angezettelt – das verwechselt ihr vielleicht wieder mit Lenins Aprilthesen und der Oktoberrevolution 1917. Brot gab es in Syrien genug, jedenfalls gab es vor der „Revolution“ mehr davon als jetzt, besonders in den ländlichen Gebieten im Norden Syriens, wo die meisten Kurden leben, denn Weizen wurde in dieser Gegend traditionell im Überfluss produziert und in andere Teile Syriens verkauft. Der Rest ist glatt gelogen. Einzelne kurdische Jugendverbände hatten zwar im Laufe des Jahres 2011 Demonstrationen zu organisieren versucht, die aber von der PKK teils mit Gewalt unterbunden wurden. Denn was immer man der PKK vorhalten mag, eines haben die Genossen von Beginn an klar gesehen: Von einer sunnitischen Revolution hatten die Kurden nichts Gutes zu erwarten – sie hatten sie zu fürchten. Folglich ist auch dies eine Unterstellung: „Selbst führende Köpfe der PYD, wie etwa Salih Muslim, ordnen ganz selbstverständlich das demokratische Experiment Rojava in den Rahmen des größeren Umbruchs in Syrien ein.“
Natürlich werden in dem Artikel keine Belege für diese Behauptung geliefert, denn es gibt ja auch keine. Man sollte sich aber einmal ein Interview ansehen, das Salih Muslim Muhammad, der übrigens nicht „einer der führenden Köpfe“, sondern der Vorsitzende der PYD, des syrischen Ablegers der PKK ist, im November 2011, also knapp ein halbes Jahr nach dem Beginn der „Revolution“ einem Journalisten von kurdwatch.org gegeben hat – einer Website übrigens, die von Herrn Klopotek ausdrücklich als PKK-kritische Informationsquelle empfohlen worden war. „Frage: Es gibt viele Stimmen in Syrien, die den Sturz von Präsident Basher al-Assad und seines Regimes fordern. Was ist Ihre Forderung? Salih Muslim Muhammad: Wir fordern ein Ende des Unterdrückungssystems. Es gibt einige, die nach dem Sturz des Regimes rufen. Im Gegensatz dazu fordern wir den Sturz des unterdrückerischen autoritären Systems. Unser Problem ist kein Problem der Macht. Die in Damaskus Regierenden kommen und gehen. Für uns Kurden ist das nicht so wichtig. Für uns Kurden ist es wichtig, dass wir unsere Existenz sichern. Das gegenwärtige Regime akzeptiert uns nicht, genauso wenig wie diejenigen, die möglicherweise danach an die Macht kommen.“
Das ist nun eine so klare Distanzierung von der „syrischen Revolution“, dass man sie gar nicht missverstehen kann, wenn man sie nicht missverstehen will. Die Kurden wollten mit dem syrischen Aufstand nie etwas zu tun haben, weil sie ihren eigenen Aufstand im Sinn hatten. Entsprechend haben sie gehandelt.
Es gibt einen stillschweigenden Nichtangriffspakt zwischen der PKK und dem Assad-Regime, der beiden Seiten genutzt hat. Als sich die syrische Armee im Sommer 2012 aus dem Norden zurückzog, weil die dort stationierten Einheiten anderswo dringender gebraucht wurden, nämlich zur Verteidigung von Damaskus, haben die aus den irakischen Qandil-Bergen angerückten PKK-Milizen die Kontrolle über die kurdischen Kommunen im Norden Syriens übernommen. Das ist das ganze Geheimnis der revolutionären kurdischen Selbstverwaltung. Es gab dabei keinerlei militärische Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der PKK. Die einzigen Gegner, welche die PKK in den von ihr kontrollierten Gebieten vorfand, waren die konkurrierenden, Masoud Barzani treuen kurdischen Parteien, die aber über keine Waffen verfügten. Auf diese Weise blieben die Kurden von dem Bürgerkrieg in Syrien verschont – bis ihnen im Spätsommer des vergangenen Jahres die syrische Revolution in Gestalt des IS doch noch auf die Pelle rückte.
Die PKK wurde somit in der Jungle World für die einzige vernünftige Entscheidung kritisiert, die die Partei jemals gefällt hat. Das ist, wie gesagt, noch dümmer als der ganze Rojava-Kitsch.
Thomas Becker (Bahamas 70 / 2015)
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