Titelbild des Hefts Nummer 71
Deutschland überall(es)
Heft 71 / Sommer 2015
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Böser Adolf, guter Richard

70 Jahre Kriegsende, 30 Jahre Befreiung

70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs, 70 Jahre bedingungslose Kapitulation Deutschlands – die Monate bis zum 8. Mai brachten den zu erwartenden Gedenkmarathon. Die Feierstunden, Reden, Spiegel-Sonderausgaben und vielseitigen Feuilletonbeilagen (15 Seiten in der Taz, zehn Seiten in der SZ beispielsweise) reihten sich zu einer medialen Dauerschleife, die von Gedenkakten zur Befreiung der KZ über die Jahrestage der Einnahme Wiens und Berlins durch die Rote Armee bis zur offiziellen Feierstunde im Bundestag durchlief.

Und alle Redner und Schreiber variierten nur einen einzigen Topos: den der „Befreiung“ Deutschlands durch die Alliierten – und zwar genau im Sinne dessen, was Eike Geisel vor 20 Jahren spitzzüngig bemerkte, dass nämlich „Auschwitz doch noch gut ausgegangen“ (1) sei. Die mittlerweile offizielle Staatsversion, die vor 20 Jahren sogar noch von Helmut Kohl nach dem fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes mit den Worten „Niemand hat das Recht, festzulegen, was die Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben“ bemäkelt worden war, trug der Vorzeigehistoriker Heinrich August Winkler am 8. Mai dem Bundestag vor: „(Es) wuchs eine andere Erkenntnis: Der von den alliierten Soldaten, und nicht zuletzt denen der Roten Armee, unter schwersten Opfern erkämpfte Sieg über Deutschland hatte die Deutschen in gewisser Weise von sich selbst befreit – befreit im Sinne der Chance, sich von politischen Verblendungen und von Traditionen zu lösen, die Deutschland von den westlichen Demokratien trennten.“ (2)

Das Establishment Deutschlands hat den politischen Mehrwert des Schuldbekenntnisses längst endgültig erkannt und weiß, wem es dieses Geschenk zu danken hat, dem Ex-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Er war es, der vor dreißig Jahren die heute gültige Formel von der mentalen Befreiung erstmals staatsamtlich vortrug, als er vor dem Bundestag forderte, „das Ende eines Irrwegs der deutschen Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“. Worauf er hinauswollte, zeigte sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte immer offensichtlicher, während die Gegenwehr der Kohls, Walsers, Schönhubers und Wehrmacht-Opas jeglichen Alters immer schwächer wurde: Je offener die Gräuel eingeräumt werden – insbesondere „das schrecklichste aller Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus, die Ermordung von etwa 6 Millionen europäischen Juden“ (Winkler) –, desto strahlender die Läuterung, die politische Katharsis. Das Land heimst so einen quasi-religiösen Bonus ein, der traditionell dem reuigen Sünder, dem zur Umkehr Bewegten zukommt. Allein in diesem Gestus liegt schon eine abstoßende Fehlwahrnehmung. Man tut dabei nämlich so, als ob es etwas zu Lernendes sei, dass man auf totale Vernichtungskriege zu verzichten hat, dass es nicht statthaft ist, das „Weltjudentum“ ausrotten zu wollen, als ob man Lob allein schon dafür verdiente, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: die Welt nicht in ein Schlachthaus zu verwandeln.

Die offiziell verbindlich gewordene Version der Wiedergeburt des sündigen Deutschlands als mündiges Deutschland bringt der thematische Dreiklang der Ausstellung 1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang im Deutschen Historischen Museum genau auf den Punkt. Und geradezu den Extrakt dieser „Wiedergutwerdung“ (Geisel) der Deutschen präsentierte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier denn auch in seiner Eröffnungsrede am 22. April. „‚Wir verneigen uns vor ihnen allen‘, sagte er an die anwesenden Zeitzeugen gewandt. ‚Wir danken Ihnen, dass Sie heute nach Berlin gekommen sind, in die Hauptstadt jenes Landes, in dessen nationalistischer Übersteigerung und Rassenwahn all dieses unermessliche Leiden seinen Ausgang hatte‘. Deutschland, der einstige Anstifter von Unordnung, so der Außenminister, müsse heute in besonderem Maße Ordnungsstifter sein und mehr als andere, engagiert sein für politische Lösungen in Konflikten und den Erhalt von friedenssichernden Strukturen“, fasste die Deutsche Welle seine Überlegungen zusammen, die pseudoantifaschistisch genau das begründen, was eigentlich das Gegenteil jeglicher denkbaren Lehre aus dem Nationalsozialismus ist: das besorgt-tuende Herumnörgeln an Israel und das Appeasement mit jedem nur denkbaren autoritären Regime auf dem Erdball.

Befreiung zur Heimat

Doch darin erschöpft sich die unmittelbare politische Nutzbarmachung der offiziellen Befreiungserzählung denn auch zumeist. Befürchtungen, dass das „Gerade-wir-als-Deutsche“-Ticket als Legitimation eines aggressiv-kriegerischen Kurses des neuen Antifa-Deutschland dienen würde, wie sie zu Zeiten Scharpings, Fischers und des Jugoslawienkriegs naheliegend schienen, haben sich nicht bewahrheitet. Was diese politisch-rhetorischen Übungen zum Thema „Befreiung“ zum Ausdruck bringen, ist viel weniger eine raffinierte, von materiellen Interessen geleitete Camouflage-Übung der politischen und publizistischen Klasse, sondern indiziert vielmehr einen veränderten Zustand des gesellschaftlichen Bewusstseins: den in den letzten Krisen-Jahrzehnten immer positiver wie panischer werdenden Bezug des Einzelnen auf die schützenden Kollektive, die Rearchaisierung des Bewusstseins im Zeichen von Heimat und Familie. Beide nämlich salviert das geläuterte Deutschland, bereinigt sie vom Makel der Vergangenheit, nicht, indem es sie verschweigt, sondern indem es in ihr schwelgt, narrativiert und personalisiert.

Die gesellschaftliche Substanz der „mentalen Befreiung“ gibt deshalb am ehesten die populäre Kultur preis, zuvörderst im neuen Heimat- und Generationenfilm. Der dürfte wohl auf Edgar Reitz’ TV-Familiensaga Heimat aus dem Jahr 1981/82 zurückreichen, die die deutsche Geschichte als Geschichte einfacher Leute, die ihrer Scholle emotional nicht entrinnen können, realistisch zeigt und zugleich kitschig verklärt. Der Trick: Die Lebensgeschichte einer immobilen Hunsrückerin verbürgt in eben ihrer Immobilität eine Kontinuität, die den Bruch des Nationalsozialismus eskamotiert, nicht indem sie seine Existenz leugnet, sondern indem er zur Episode eines immer im selben Bett bleibenden generationellen Flusses degradiert wird. Dass eine aufwendig remasterte Version mit großem Tamtam ausgerechnet im Frühjahr 2015 als wochenendfüllender Zwei-Tages-Film in die Kinos und DVD-Stores kam, zeigt den gesellschaftlichen Mehrwert der „Befreiung“ eher an, als es die Reden Winklers oder Steinmeiers hergeben würden. Und der Heimat-Rummel ist beileibe kein Einzelphänomen, sondern nur Teil einer Welle, die seit Jahrzehnten über deutsche Leinwände und Mattscheiben rollt. Um nur einige besonders prägnante Beispiele zu nennen, in denen trotz unmenschlicher Umstände die guten, vor allem ­– und das ist wichtig ­– jungen Deutschen ihr menschliches, zur Identifikation einladendes Gesicht zeigen: Der notorische Joseph Vilsmaier mit Stalingrad (1993), Leo und Claire (2001), Comedian Harmonists (1997) und Die Gustloff (2008), Xaver Schwarzenbergers Annas Heimkehr (2003) oder der schon unter einem wahrhaft programmatischen Titel laufende Streifen Nicht alle waren Mörder nach einer Erzählung von Michael Degen unter der Regie von Jo Baier (2006). Wohl am wirkmächtigsten erwies sich dabei die Führerbunker-Schmonzette Der Untergang von Oliver Hirschbiegel aus dem Jahr 2004; die dreiste Gegenüberstellung von deutsch-jugendlicher Unschuld und der verdorbenen, alten Nazi-Elite erhielt durch diesen Streifen ein nahezu ikonisches Gesicht, das sich eingeprägt hat, das pausbäckige Fräuleinwunder Alexandra Maria Lara als Hitlers Sekretärin Traudl Junge – allein schon der Name: das Verkleinerungs-l plus „Junge“ löst bereits die passenden Assoziationen aus. Wie sie so verloren süß und fassungslos das Böse beglotzt und später kuhäugig-verstört, unter einem zu großen Stahlhelm naives Unverständnis verströmend, durch ein zerschossenes Berlin stolpert, fantasiert sie sich und die Zuschauer in die eigene Großmutter. Die „Wiedergutmachung der Deutschen“ funktioniert imaginativ als Wiedergutmachung der Vorfahren.

Die Filmproduktion flankiert dabei eine belletristische Dauermode. Unzählige Bestseller, die es mittlerweile auch in den Kanon der Schulliteratur geschafft haben, thematisieren in selber Weise die Jugend im Nationalsozialismus, wobei man erfährt, dass es Freundschaft, Sommer und Badeseen auch im Dritten Reich gab. Zu denken wäre auch an Gefühlsschinken wie den von Thomas Medicus, der In den Augen meines Großvaters (2004) dessen Kriegsperspektive erkundet und damit die Re-Identifikation auf die Spitze treibt; kurzum, man geht nicht fehl, von einer regelrechten „Sophie-Schollisierung“ (Heinz) der Medienproduktion zu sprechen.

Mit diesem manisch anmutenden Interesse liegt also mitnichten ein Indiz für grundlegende Besserung (die unter dem Schlagwort „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ firmiert) vor, sondern eher für ein, wenn man so will, sanftes Scheitern der re-education, die sich paradoxerweise als deren Erfolg versteht. Wenn man den heftigen Generationenkonflikt, der Deutschland wie kein anderes Land der westlichen Hemisphäre in den Sechzigern kennzeichnete, zumindest als sich auftuende Bedingung der Möglichkeit einer solchen re-education betrachtet, so ist hingegen das Ende dieses Konflikts, das unersättliche biographische Interesse und der intergenerationelle Brückenschlag der „Befreiten“, als Neuerfindung der Volksgemeinschaft zu lesen: eine imaginäre Wiederherstellung, die sich ­– viel mehr noch als es politischen Reden abzuhören ist – in der populärkulturellen Mythenproduktion spiegelt, die die Generationeneinigkeit wiederherstellt, und damit die Wiederinbeschlagnahme der Vergangenheit durch die Neuinszenierung der Vergangenheit. Indem der Enkel den guten Opa wiederfindet, findet er sich so auch wieder ans mythisch und generationell rekonstruierte Kollektiv gebunden.

Dass Deutschland im letzten Jahrzehnt endgültig zu einem Pop-Phänomen wurde, zum Sich-selbst-Feierweltmeister ist der eigentliche Skandal und Ausdruck eines verhärteten Bewusstseins zweiter Ordnung. Es muss die Vergangenheit nicht mehr panisch-missvergnügt abwehren, sondern kann sich unbeeindruckt an ihr nachgerade delektieren, weil es ihr durch Familiarisierung den Stachel genommen hat. Nicht zuletzt sind es die Inszenierung des nationalen Fußballs und das neue Selbstbewusstsein deutschsprachiger Popmusik, die mindestens ebenso tief reichen wie die biographisierte Film- und Buchschwemme. Frank Apunkt Schneider hat kürzlich in diesem Zusammenhang auf die Veränderung der deutschen Popmusik deutlich hingewiesen (Jungle World 22/2015), die nicht mehr ein, vielleicht sogar das Vehikel einer inneren Emigration nach Westen mehr sein will und darf, sondern die heilsame Wunde, die das Englische in den Erinnerungskörper einst schlug, ungeschehen machen möchte. (3) Das – natürlich unerträglich schlechte – Album Muttersprache der Deutsch-Diva Sarah Connor schließlich, das die deutsche Popindustrie derzeit promotet wie sonst nichts, bringt das Junktim von Sprachbeharren und Familienrekonstruktion auf den Punkt. Die De-Anglisierung ist in diesem Titel überdeutlich verbunden mit der endgültigen Rückbindung an die nationale Familiengeschichte.

„Schlussstrich“ durch Rückprojektion

So erklärt sich auch, dass nicht mangels Aufklärung, sondern durch die Art der Aufklärung, die Zahl der Schlussstrich-Zieher einfach nicht sinken will. Der Historiker Norbert Frei referierte in der Taz (8.5.2015) die entsprechenden Zahlen: „Bereits im Frühjahr 1994, in einer ersten größeren demoskopischen Studie nach der deutschen Vereinigung, hatte sich mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent) zu einem allgemeinen ‚Schlussstrich‘ unter die Vergangenheit bekannt. 20 Jahre später misst Forsa 42 Prozent Schlussstrich-Befürworter, während die Bertelsmann-Stiftung auf 58 Prozent kommt – und von 81 Prozent aller Deutschen sagt, sie wollten die Geschichte des Holocaust irgendwie ‚hinter sich lassen‘. Man muss solche Umfrageergebnisse nicht ernster nehmen als die Worte, in denen darüber berichtet wird; oft genug bleibt unklar, was genau gemessen wurde. Trotzdem verfestigt sich der Eindruck, dass es inzwischen vielfach gerade Jugendliche und junge Erwachsene sind, die sich von der Geschichte der NS-Zeit belästigt fühlen; eher genervt als in scharfem Ton versuchen sie sich ihr zu entziehen. Die Vorstellung, dass es kollektive Zugehörigkeiten geben könnte – und damit transgenerationelle historische Verantwortung jenseits persönlicher Schuld –, scheint mehr und mehr aus dem Blickfeld zu geraten, ja für anachronistisch gehalten zu werden.“

Eine fatale Fehlinterpretation der Zahlen: Nicht das Sich-Freisprechen der Jungen ist das Problem, denn tatsächlich haben sie an den Verbrechen keinen Anteil, sondern es ist gerade jene „transgenerationelle“ Verbundenheit, die Frei als fehlend beklagt, die die freundliche „Genervtheit“ hervorruft. Denn alle diese jungen Befragten haben eben durch die narrativ-biographische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zwar gelernt, dass es eine moralisch dunkle Zeit war, aber eben auch, dass man anständig bleiben konnte, auch wenn man verständliche Fehler machte. Nicht mehr die Leugnung des Unleugbaren, wie noch vor 40 Jahren, als wirkliche Täter (und ihre entsprechend parentifizierten Nachkommen) das öffentliche Klima bestimmten, macht das Verstockte aus, sondern die Rückprojektion der eigenen Unschuld in die Familiengeschichte des Kollektivs. Der „Schlussstrich“, der jetzt gezogen wird, gleicht dem, mit dem man gemeinhin Familienkräche zu beenden pflegt, dem Schwamm-drüber, mit denen langanhaltende Fehden – ohne dass die Sache selbst geklärt worden wäre – für die Zukunft als irrelevant erklärt werden. Es ist die Stilisierung generationeller Einheit in der modernen Mythenproduktion, die den Nationalsozialismus zur unliebsamen Familienepisode macht, die man kennt und anerkennt, auf deren Fortwirken man aber gern verzichtet; statt, dass es heißt, „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“, wie die Scherben noch 1970 zu krachendem Bluesrock rotzten, lautet das populäre Motto nun sinngemäß: „Mein Ur-Alter war doch auch nicht anders als ich.“

Woher aber nun diese Übermacht des Familiären in einer Gesellschaft, in der die Mehrgenerationenfamilie als Sozialisationsinstanz längst zerfallen ist? Ein scheinbares Paradox, das wohl nur dadurch erklärt werden kann, dass der einstige Gegenpol zum traditionellen Sozialverband mindestens ebenso beschädigt ist wie dieser: die Öffentlichkeit des freien Tauschs, ihre offenen Räume der Individuierung, die ein Sich-Gesellen wiederum ermöglichten, in dem die Beziehungen der Einzelnen zueinander frei gewählt und gewechselt werden konnten. Das können sie aber nur da, wo der Einzelne einen zureichenden Lebensunterhalt ohne Surplus an Loyalität, ohne Internalisierung des Gruppenkodex bestreiten konnte. Das sieht in der postindustriellen Gesellschaft, aus der die unmittelbare Produktion in die einstige Peripherie ausgewandert ist, anders aus. Hier entscheidet sich früh, wer in den Dumping-Sektor abwandert und wer in die Verwaltungsapparate der globalen Produktion einwandern darf. Und die Weichen werden nicht nur früh gestellt – mit der Konsequenz, dass sich der Lebensabschnitt „Jugend“ radikal wandelt, ja, ganz zu verschwinden droht –, sondern auch durch eben früh gelernte Loyalität gegenüber den Älteren, die in diesen Apparaten sitzen und das Auswahlverfahren überwachen, wesentlich bestimmt. Anders als noch vor Jahrzehnten ist eine längere Phase der Unbotmäßigkeit, des Ausscherens aus den vorgebahnten Lebenswegen, mit hohem Risiko verbunden, ohne Wiederkehr statt im Penthouse im Prekariat zu landen. Eine Gesellschaft, die dergestalt in Bande und Banden zerfällt, in abgegrenzte Territorien und geschlossene Subgesellschaften, bringt den Einzelnen in eine Situation, in der er auf Vereinzelung verzichten muss, bedingt also die untote Wiederkehr des Gebundenen, des Familiären. Die Familie gibt so das Leitbild des modernen Unternehmens, in dem emotionale Bindung anständige Bezahlung für die Jungen ersetzt und in dem der sogenannte „Teamgedanke“ jede Regung, Arbeit als tatsächlich entfremdeten Dienst nach Vorschrift ansehen zu dürfen, schier austreibt. Und auch ganz lebenspraktisch ist es eben die Familie, die denen, die sich überhaupt einbilden können, dahin zu kommen, wo die Eltern waren, allenthalben unter die Arme greift und gleichzeitig in den Hintern tritt. Diese Refamiliarisierung von Erfahrung und Lebenswelt, anders gesagt: der innere Liebeszwang zu den Nicht-Liebenswerten, greift natürlich auch da, wo die biologischen Familien sozial versagen, denn die Posses, Rackets und Gangsterbanden sind der Familie als Motor von Aufstieg, als Weg zu Reichtum oder wenigstens Berühmtheit direkt nachgebildet, und dabei noch autoritärer als das Vorbild. Kurz gesagt: Die Aussöhnung durch Identifikation mit den Tätern der vorvergangenen Generation erfolgt aus der Not, sich nicht mehr in den offenen Räumen des Tauschs bewegen zu können, sondern sich in den geschlossenen Gesellschaften, die durch betonierte Stratifizierung dessen, was einst Gesellschaft hieß, entstanden, „positionieren“ zu müssen – also auf Gedeih und Verderb nicht mehr aus der Gemeinschaft fallen zu dürfen.

Der gute Vater

Solche Refamiliarisierung von gesellschaftlicher Wahrnehmung gibt schließlich auch einen Blick in die Tiefendimension des Weizsäcker-Rummels frei. Wie kein anderer eignet sich der Ende Januar gestorbene „Befreiungs“-Redner als guter Vater, besser gesagt: Groß- oder Urvater eines bereinigten Deutschlands. So wie der rückprojizierte Großvater den echten ersetzt, besetzt Weizsäcker mythologisch die Stelle, die durch den Sieg der Alliierten 40 Jahre schmerzlich vakant blieb, denn Mitscherlichs „vaterlose“ Gesellschaft war nicht zuletzt das führerlose Deutschland. Die „Befreiung“, die Weizsäcker 1985 versprach, war tatsächlich nicht eine von der Kontinuität deutscher Geschichte, sondern von eben dieser Vakanz.

Hitler, der sich qua Niederlage und „Untergang“ als Usurpator und falscher Adressat des autoritären Bedürfnisses herausgestellt hatte, wird durch einen wie Weizsäcker, der eine moralisch einwandfreie Brücke über die 12 Jahre Nationalsozialismus schlug, ersetzt. Schon allein biographisch ist er bestens geeignet, diese Funktion zu erfüllen, ist er sozusagen die späte Reinkarnation des 20. Juli, die, anders als dieser, aristokratische Kontinuität mit echter Macht verknüpft. Verstrickt und geläutert, dubios und doch anständig gibt er den idealen, gesamtbiographischen Hordenführer ab, denn schließlich war er Wehrmachtsoffizier an der Ostfront und verteidigte höchstpersönlich noch seinen Vater [!], einen der ranghöchsten NS-Diplomaten, in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen.

So verkörperte er im wahrsten Sinne des Wortes das, was ihm die Republik zuschreibt. Selten dürfte die veröffentlichte Meinung so sehr mit der öffentlichen übereingestimmt haben, wie in den Presse-Elogen auf den dahingeschiedenen Alt-Bundespräsidenten und Ex-Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er war der „große Versöhner“ (ZDF-Spezial, 31.1.2015; gleichlautend: Faz, SZ, 1.2.2015, Spiegel, 11.2.2015), die „geistige und moralische Autorität“ (FR, 1.2.2015), das „deutsche Gewissen“ (Bild, 1.2.2015) und – am treffendsten – „der Bundeskönig“ (SZ, 11.2.2015).

Gerade dadurch, dass der Aristokrat Weizsäcker als nur dem Großen und Ganzen verpflichtete, dem Gezänk enthobene Autorität sich immer wieder über die „Machtversessenheit der Parteien“ (Bild erinnerte genüsslich daran am 31.1.2015) stellte, stiftete er den Familienfrieden, ließ die Deutschen wieder bei sich sein und das mit gutem Gewissen. Im Kult um seine Person enthüllt sich am deutlichsten, dass die Befreiung eben doch nur die Fortsetzung des deutschen Elends, mit einem König anstelle des Führers, bedeutet und zeigt, dass der 8.Mai endgültig eine Familienfeier im deutschen „Familienroman der Neurotiker“ geworden ist. Freud schrieb in dieser Studie, dass „um die angegebene Zeit sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe (beschäftigt), die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird das zufällige Zusammen­treffen mit wirklichen Erlebnissen (die Bekanntschaft des Schlossherrn oder Gutsbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) ausgenützt“. (4) Genau diesen Moment beschreibt der 8.Mai 1985, der sich in diesem Frühjahr zum 30. Mal jährte. Der gute Richard hat den bösen Adolf endgültig ausgetrieben und nicht trotzdem, sondern deswegen denken die Deutschen weiter in ihrer großen Mehrheit über Parteiengezänk, Volkskörper, Amerikaner und Juden so wie immer schon zuvor.

Uli Krug (Bahamas 71 / 2015)

Anmerkungen:

  1. Eike Geisel: Opfersehnsucht und Judenneid. Bemerkungen zur Nationalisierung der Erinnerung, in: Ders.: Triumph des guten Willens, hg. von Klaus Bittermann, Berlin 1998, 58. Die Edition Tiamat hat in diesem Jahr in einem über 400 Seiten starken Sammelband Essays und Polemiken Geisels mit dem Titel Die Wiedergutwerdung der Deutschen wiederveröffentlicht.
  2. Zitiert aus dem Online-Archiv des Bundestags (Hrvb. v. mir): www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler/373858
  3. Schneider schreibt hier zutreffend: „Von Kino- und Bühnenkörpern lernten junge Deutsche, dass es etwas Besseres gab, als Flakhelfer der deutschen Schuldabwehr zu sein. Die Sprachlosigkeit wurde überwunden durch die Hereinnahme des geheimnisvollen, weichen, nur in Bruchstücken verstandenen Poptextenglisch ins eigene Sprechen.“
  4. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1946 ff., Bd.7, 229. Sonja Witte hat die Freudsche Annahme bereits für die Analyse des postnazistischen Generationenbündnisses genutzt. Vgl.: Sonja Witte: Das Wunder von Bern – Katharsis der Nation, in: Kittkritik (Hg.): Deutschlandwunder. Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur, Mainz 2008.

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